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Harald Welzer: Biographisches – Kommunikatives – Kulturelles Gedächtnis

Was habe ich mit Vladimir Nabokov gemeinsam? Harald Welzer vermittelt mir am Ende seines X. Kapitels zu seiner Schrift Das kommunikative Gedächtnis (München 2017) den Unterschied zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis – jenes kulturellen Gedächtnisses,

„das sich Aleida und Jan Assmann zufolge dann zu etablieren beginnt, wenn kein Erzähler mehr existiert, der das in Rede stehende historische Geschehen noch miterlebt hat“.

Und es wird auch klar, was den Unterschied zwischen beiden ausmacht, nämlich wenn wir uns vergegenwärtigen, dass es bei letzterem deutlich mehr um Geschichts-, Vergangenheits- und Erinnerungspolitik geht, also vor allem auch um politisch und moralisch definierte Formen der Angemessenheit, wie Harald Welzer feststellt. Er bemerkt nebenbei, man könne sich dies am besten an den Gestaltwandlungen vor Augen führen, die der Holocaust in den letzten Jahrzehnten im kulturellen Gedächtnis erfahren habe. Das kommunikative Gedächtnis ist an Akteure gebunden, an Menschen, die sich erinnern (Akteure II und III) und ihre Erinnerungen in einen kommunikativen Kontext einbringen. Geschieht dies nicht, kommt es zu kommunikativer, und in der Folge zu identitätsbedrohender Atrophie (durch Erzählmangel).

Das ist nunmehr die Stelle, an der ich auf Vladimir Nabokov zurückkommen möchte, weil er in einer Fiktion die eben letztlich nicht einlösbare Illusion erzählt, die sich als solche zu verstehen gibt, weil die Geschichte, die er erzählt, einer kindlichen Phantasie entspringt. Als realitäts- oder identitätsverheißende Hoffnung fällt sie in sich zusammen, weil uns der Zufall – noch viel weniger als unsere akribische Suche - die aufscheinende Sehnsucht (die Scherben, die wir finden, zu einer vollständigen Schale zusammensetzen zu können) nicht zu erfüllen vermag. Ich leite Nabokovs Phantasie, die sich um Scherben dreht, mit einem eigenen Gedicht ein, weil ich – viele Jahre am Strand wandernd – immer noch und immer wieder auf der Suche bin nach meinen, nach unseren Scherben und Steinen:

 

Ein Scherbengedicht

Du seelenloses Ding,
Du bist so hart und weich zugleich,
Hast Dich am Sand gerieben -
Und von den messerscharfen Kanten
Ist nur ein Bild geblieben.
Du schmeichelst meinem Daumen,
Gibst Widerstand
Und bist des zarten Fühlens harter Widerpart;
Erweckst in mir ein Sehnen und ein Fühlen,
Wo Fluten dich umspülen
Und Sand dir deine Schärfe nimmt.
Wie Glut dereinst verglimmt,
Wenn aller Tage Ende
Uns den Atem nimmt.


Vladimir Nabokov beendet seine eigene Autobiographie (Rowohlt, Reinbek 1999 – Erinnerung sprich – Wiedersehen mit einer Autobiographie) mit dem folgenden Bild von seinem Kind, das am Strand Scherben und Steine aufsammelt:

„Sie wurden Dir oder mir zur Ansicht gebracht, und wenn sie indigoblaue Zickzackleisten hatten oder Streifen von Blockornamenten oder andere lustige Embleme und für wertvoll gehalten wurden, so fielen sie mit einem Klappern in den Spielzeugeimer; wenn nicht, dann bezeichneten ein kurzes Aufleuchten und ein Plumpsen ihre Rückkehr ins Meer. Ich bezweifle nicht, dass unter diesen ein wenig ausgehöhlten Majolikascherben, die unser Kind fand, auch diejenige war, deren schnörkelverzierter Rand genau in das Muster des Stückes passte und es fortsetzte, das ich 1903 an der gleichen Küste gefunden hatte, und dass die beiden mit einem dritten übereinstimmten, das meine Mutter 1882 an jenem Strand von Menton gefunden hatte, und mit einem vierten Stück des gleichen Gefäßes, vor hundert Jahren von ihrer Mutter aufgelesen – und so weiter, bis diese Sammlung der einzelnen Scherben, wären sie alle aufgehoben worden, zusammengesetzt werden könnte, um die vollständige, die ganz und gar vollständige Schale zu bilden, die irgendein italienisches Kind Gott weiß wann und wo zerbrochen hatte.“

Eine vollständige Schale – wie schön, wie rund, wie unversehrt, wie ganz und gar unwahrscheinlich. Unsere Schalen zerbrechen, sind zerbrochen. Manchmal sammeln wir die wenigen Scherben, die wir wiederfinden, wieder ein. Vielleicht setzen wir sie zusammen zu Bruchstücken, die eine Ahnung versprechen, wie eine unversehrte Schale, zu der die Scherben gehören, aussehen könnte; eine Schale, die unser kommunikatives Gedächtnis überschreitet und jenes kulturelle Gedächtnis meint, von dem die Rede ist.

„Das kommunikative Gedächtnis beinhaltet als lebendiges Gedächtnis ebenjene Dialektik von Individualität und Sozialität, von Geschichte und Privatisierung von Geschichte, die zugleich die Suggestion von Ich- und Wir-Identität wie ihre permanente Veränderung erzeugt. Das Medium für die Erzeugung des Gefühls von Kontinuität und Stabilität, die wir unserem Selbst zuschreiben, ist gerade die lebenslange nuancierte Veränderung ebendieses Selbst in der kommunikativen Feinabstimmung in jeder neuen Situation, in der wir uns befinden. Dem autobiographischen Gedächtnis kommt dabei die Aufgabe zu, all unsere Vergangenheiten so umzuschreiben, und anzuordnen, dass sie dem Aktualzustand des sich erinnernden Ich passgenau entsprechen. Diese Passgenauigkeit wird durch unsere sozialen Kommunikationen beglaubigt, die uns ganz praktisch versichern, dass wir uns selbst gleichgeblieben sind. Auf diese Weise gelingt es uns, zugleich ein individuelles Selbst zu haben und Teil einer historischen Figuration und sozialen Praxis zu sein, die weit über unsere Existenz – über unsere Handlungsräume und unsere eigene Lebenszeit – hinausreicht.
Und am Ende passt alles wieder zusammen, die Individualität unseres Gedächtnisses und unseres Selbst und seine Gebundenheit an und Eingebundenheit in das Zusammensein mit anderen, und zwar nicht nur mit anderen, die wir kennen und die unsere Gegenwart teilen, sondern auch mit anderen, die über historische Zeiten und kulturelle Differenzen hinweg mit uns in Verbindung stehen (Seite 236).“

Harald Welzers Theorie der Erinnerung ist erstmals 2002 erschienen. Möglicherweise verdankt diese letzte Auslassung ihre optimistische Perspektive einer gewissen Naivität des Autors: "Am Ende passt alles wieder zusammen - die Individualität unseres Gedächtnisses und unseres Selbst und seine Gebundenheit an und Eingebundenheit in das Zusammensein mit anderen, und zwar nicht nur mit anderen, die wir kennen und die unsere Gegenwart teilen, sondern auch mit anderen, die über historische Zeiten und kulturelle Differenzen hinweg mit uns in Verbindung stehen." Dass ein prominenter Vertreter einer im Bundestag vertretenen Partei, die im Übrigen gegenwärtig zwischen 10% und 15% der Wählerstimmen auf sich vereinigt (A f D), beispielsweise das Holocaust-Denkmal in Berlin öffentlich zu einem "Denkmal der Schande" erklärt, demonstriert auf erschreckende Weise die von einem beträchtlichen Teil der Wahlbevölkerung unwidersprochenen Gestaltwandlungen, die der Holocaust in den letzten Jahrzehnten im kulturellen Gedächtnis unserer Gesellschaft (auch) erfahren hat.

Was im kulturellen Gedächtnis unserer Gesellschaft an unappetitlichen bis widerlichen Entgleisungen zu beobachten ist, belastet häufig auch die Indiviualität unseres Gedächtnisses. Einmal ganz abgesehen davon, dass es ja individuelle Gedächtnisentgleisungen geben muss, wenn sich hinter Björn Höcke Bürger dieses Landes versammeln, spricht auch in der familialen bzw. sozialen Kommunikation einiges dafür, dass Harald Welzers Phantasie, am Ende passe dann alles wieder zusammen, eher einem wohlgemeinten Euphemismus geschuldet ist. Zugleich ein individuelles Selbst zu haben und Teil einer historischen Figuration und sozialen Praxis zu sein (die dann möglicherweise am Ende auch noch passt), bedarf enormer Anstrengungen. Harald Welzer erläutert überzeugend, dass "es selbst ein lebensgeschichtliches Ereignis ist, lebensgeschichtliche Ereignisse zu erzählen". Dazu muss man sich noch einmal vor Augen führen, was all dem denn zugrunde liegt:

"Lebensgeschichtliche Ereignisse zu erzählen findet zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort unter Beteiligung bestimmter Personen statt - und das alles kann zu einem späteren zeitpunkt wiederum erinnert und erzählt werden. Wenn es zutrifft, dass Erinnerung immer das Ereignis plus die Erinnerung an seine Erinnerung ist, dann sind Kommunikationen (und auch die Interviews und Familiengespräche, wie ich sie in diesem Buch verwendet habe) selbst Teil einer interaktiven Geschichte. In diesem Sinn besteht das kommunikative Gedächtnis immer in Formen der Verlebendigung von Vergangenem, das in diesem Prozess nie bleibt, was es war. Man kann das alles auch einfacher sagen, zum Beispiel so, wie Martin Walser zu Beginn seines Romans Ein springender Brunnen: 'Solange etwas ist, ist es nicht das, was es gewesen sein wird' (Seite 235)".

Wie hat ein lieber Mensch sich (und damit mittelbar auch mir) einmal die Frage beantwortet: Wofür soll ich das alles machen? Für meine Kinder! Denn wir sind (und viel mehr noch bleiben wir) doch unsere Geschichten.