Drucken

Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit III - Die Kunst des Vergebens (hier Teil I bzw. Teil II) und die Kunst des  Vergebens (Arnold Retzer)

Hat mir das Treffen am 26. März mit meiner Nichte allein schon durch ihre physische Präsenz – durch ihre schiere Existenz – die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit vor Augen geführt, so führt die sich daran anschließende Auseinandersetzung mit dem Verschwinden meines Bruders aus dieser Welt zu einer neuerlichen Betrachtung der Geschehnisse. Die Schuldfrage steht bis zuletzt und immer noch im Raum. Just in dieser Phase der Auseinandersetzung nimmt Arnold Retzer noch einmal Anlauf und stellt in der aktuellen Familiendynamik (48. Jg. – Heft 2/2023, Seite 92-103 – liegt seit gestern auf meinem Schreibtisch) sein Konzept des Vergebens vor. In der Zusammenfassung wird lapidar darauf hingewiesen, dass Schuld - schuldhaftes Handeln – die notwendige Voraussetzung für den Akt des Vergebens sei. Arnold Retzer selbst leitet seine Überlegungen mit dem Hinweis ein, dass es bei seinem Vorhaben um „einige basale existentielle Phänomene“ gehe – Phänomene, die sowohl in alltäglichen Lebensvollzügen als auch in außergewöhnlichen Grenzsituationen eine bedeutsame Rolle spielen, sowohl in Paar- und Familienbeziehungen als auch in Freundschafts- und kollegialen Beziehungen.

Zunächst mag es merkwürdig anmuten, zugleich erscheint es mir hilfreich, wenn Arnold Retzer Schuld als eine Form der Komplexitätsreduktion versteht. Im Zuge dieser Komplexitätsreduktion entwerfen wir Schuld, „indem Beschreibungen, Erklärungen und Bewertungen aufeinander bezogen werden“ (S. 92).

Beschreiben – Erklären - Bewerten

Es ist dieser Dreischritt, der sich in meiner Auseinandersetzung mit den Geschehnissen um den 21. Juni 1994 über die Jahre offensichtlich deutlich verändert. Der letzte Satz in meinem zweiten Beitrag lautet:

„Greifbar wird dies vor allem in der Unterscheidung jener impressionistischen Erzählung, die den 21. Juni 1994 zunächst als Unfall begreift, um dann später der These nachzugehen, und diesen vermeintlichen Unfall als einen Akt der fahrlässigen Tötung zu begreifen. Entscheidend scheint dabei zu sein, mit welchen zusätzlichen Informationen man den Realitätskern anreichert – ähnlich der Anreicherung von Uran bis zur kritischen Masse:“

Mit einem Mal steht § 222 des Strafgesetzbuches - Fahrlässige Tötung (II) im Raum: Wer durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

Damit jemand schuld ist, zu einem Beschuldigten wird und jemand anderem etwas schuldig ist, muss eine notwendige Voraussetzung erfüllt sein: In der kausalen Verknüpfung von Ursache und negativer Wirkung muss die Ursache einer Person zugerechnet werden (Seite 93).“

Zehn Punkte habe ich in einem meiner Beiträge (hier nachzulesen unter Teil I, Absatz 2) zusammengestellt, um diese Zurechnung zu begründen. Unter Punkt sechs wird dem Handelnden – dem Piloten – mit den Worten von Arnold Retzer „die Freiheit der Entscheidung zugesprochen“. Sich letztlich anders entschieden zu haben als im Sinne seiner drei Passagiere, wird unter den Punkten sieben, acht und neun niederen Beweggründen zugerechnet. Da der Pilot infolge seiner Entscheidung sich selbst mit um sein Leben brachte, geht die Schuldzurechnung auf das Konto eines Toten. Sie ist und war damit nicht wirklich zu adressieren. Die Folge war dennoch - im Sinne der von Retzer angenommenen Komplexitätsreduktion - eine Differenzierung in Opfer und Täter vorzunehmen. Retzer argumentiert weiter, Schuld garantiere ein effektives Gedächtnistraining und eine ausgezeichnete Vergessensprophylaxe:

„Schuld bindet an Vergangenheit und […] erzeugt eine stabile Kontinuität, die den Faden der Vergangenheit nicht abreißen lässt und dadurch Zukunft, oft sogar Gegenwart aufs Spiel setzen kann […] Erinnern ist eine Aktivität, Vergessen eine Unterlassung (Seite 94).“ Wir erinnern jedes Jahr erneut an den 21. Juni.

Die Frage bleibt allerdings, was zu erinnern und was zu vergessen nahe liegt. Denn eine andere Fährte, die ich mir selbst verordnet habe, hängt mit der These zusammen, dass nicht nur der Pilot eine Wahl hatte, sondern dass auch mein Bruder selbst die Wahl hatte – und zwar ohne sich in die Hand eines Hasardeurs zu begeben. Zugegebenermaßen bezieht sich diese Wahlmöglichkeit auf das Vorfeld – auf die Zeit vor dem Besteigen des Flugzeugs. Nun rückt unversehens mein Bruder in die Rolle des Beschuldigten, dem ich gerne Fragen stellen würde:

Und schlussendlich rücke ich selbst in die Rolle des Beschuldigten! Bin ich meinem Bruder etwas schuldig geblieben? Bin ich mir selbst etwas schuldig geblieben? Wir geraten beide in schuldhafte Verstrickungen, wenn man Arnold Retzer ein Stück weit folgt und einräumt, dass in der Erfolgsgesellschaft „die Schuld nicht mehr der Vollzug von Bösem und Verbotenem ist, sondern der Nichtvollzug von Gutem und Gebotenem (Seite 94).“ Im Frühjahr erst hatte ich eingewirkt auf meinen Bruder sich zu besinnen, Ordnung in seinem Leben zu schaffen, sich seiner Verantwortung zu stellen. Wir befanden uns in den Vorbereitungen zum siebzigsten Geburtstag unserer Mutter. Wir hatten genug um die Ohren – eine Woche vor Antritt dieses Höllentrips.

Den 21. Juni 1994 bezeichne ich immer wieder als die Initialisierung des Zeitzünders, der 1997 zu Atomisierung meiner eigenen Familie zu führen drohte (auch eine beeindruckende Strategie der Externalisierung von eigener Schuld!). In Kurz vor Schluss II (Seite 193f.) schreibe ich:

„In meinen Träumen begegnete mir mein Bruder (es geht um die Zeit meiner halbjährlichen räumlichen Trennung von meiner Familie). Die letzten Treffen im Frühjahr 1994 standen im Zeichen meiner Bemühungen, ihn zur Besinnung zu bringen, ihn davon zu überzeugen, dass sein Platz in seiner Familie ist. Er hatte mir durchaus nachvollziehbar seine Nöte geschildert, die Erfahrung als Mann endlich wieder wahrgenommen zu werden. Als er sich auf den Weg nach Österreich machte, soll die letzte Bitte an seine Frau gewesen sein, sie solle ihm gewogen bleiben. So mahnte er mich – in dessen Fußstapfen ich getreten war und mich nun selbst nicht schützen konnte, in langen einsamen Nächten. Er mahnte mich, die Lektionen zu lernen, die er – als der Jüngere – wohl kurz vor seinem Tod dabei war zu lernen (vielleicht eine Erklärung dafür, warum mir die Beziehung zu meinem Bruder bis heute einzigartig vorkommt).“

Arnold Retzer schreibt: „Schuld ist kein Problem, es kommt darauf an, was man aus ihr macht (Seite 97).“ Andere sind mir etwas schuldig geblieben – Ich bin anderen etwas schuldig geblieben – Ich bin mir selbst etwas schuldig geblieben. Unter diesen Rubriken verortet Retzer Schuld.

Was machen wir jetzt aus dieser Schuld – aus diesen schuldhaften Verstrickungen?

Es gibt für die Schuldkonten keine Möglichkeit der Wiedergutmachung oder des Ausgleichs – Rachephantasien gehen ins Leere – mehr noch, sie haben sich vollkommen verflüchtigt im Laufe der Jahre. Der Wiederherstellung eines vergangenen unschuldigen Zustands vor der Schuld ist durch die Geltungsmacht des Faktischen ohnehin jede Grundlage genommen. Arnold Retzer stellt in den Raum, dass Rache, Sühne, Strafe und Ausgleich Transaktionen des Tauschs sind – Vergeben hingegen sei eine Transaktion des Geschenks. „Im Unterschied zur Vergebung, die offenlässt, ob es ein Geschehen ist, das man tut oder das einem widerfährt, das geschieht ohne eigenes Hinzutun oder gar etwas Unerklärliches, etwas Rätselhaftes ist, das sich nicht restlos ergründen lässt (Seite 99).“

Retzer begreift Vergeben als ein „Tun, das erklärbar, verstehbar und beschreibbar ist. Die Schritte des Vergebens:

Aus alledem folgen zwei entscheidende Annahmen: Die eine geht davon aus, dass Vergeben ein Geschenk ist, dass der Schenkende sich selbst mache und nicht einem anderen, dem er etwas vergebe. Die zweite Annahme geht davon aus, dass man sich selbst von der Last der Anspruchseinforderung, der Rechnungsbegleichung, der Wiedergutmachung und der Rache entlaste, vielleicht sogar befreie. „Insofern muss der Schuldner, dem man vergibt niemals etwas davon erfahren (Seite 99).“

In den Briefen, die ich meinem Bruder zugedacht habe – in den darin enthaltenen Berichten darüber, wie es weitergegangen ist, im Dank für seine traumgeschuldete Fürsorge, die er mir zu Teil werden ließ, habe ich die oben erwähnten schuldhaften Verstrickungen aufgelöst. Was die Geltungsmacht des Faktischen anbelangt, mag es einem fast so vorkommen, als seien alle hypothetisch im Raum stehenden Schuldkonten gelöscht. Die Töchter entlasten den Vater auf beeindruckende Weise und der Bruder begegnet dem Bruder in einer Haltung des Danks. Was sie bekommen haben, haben Willis Töchter auf beeindruckende Weise gemehrt.

An dieser Stelle bietet sich – mit Blick auf Familiendynamiken eine behutsame Erweiterung der Perspektive an, die sich im Guten löst vom Drama des frühen Vaterverlustes und den Blick mit Arnold Retzer weitet auf Ängste, die nach seiner Erfahrung häufig das Vergeben erschweren und behindern. Zunächst einmal stellt Retzer die These auf, dass die Angst beim Vergeben Zukunftsangst sei, weil das Vergeben nach vorne und nicht rückwärtsgerichtet sei:

„Mit dem Selbstverständnis, Opfer zu sein, kann man sich moralisch auf der Siegerseite erleben, zumindest auf der besseren Seite als auf der des Täters. Man verliert durch das Vergeben möglicherweise den moralischen Mehrwert, den man sich bisher erlitten hat und dazu noch die Möglichkeit der Romantisierung der Ohnmacht, sich gut zu fühlen, weil man sich schlecht fühlt (Seite 101).“

Was für manch eine(n), die Retzer im Blick hat, wie Zynismus klingen mag, bedeutet für manch eine(n), die sich angesprochen fühlen könnten – Sensibilität und Offenheit, Selbstbewusstsein und Selbstkritik vorausgesetzt –, dass man einen solchen Akt des Vergebens als „illoyalen Akt sich selbst gegenüber erlebt, einhergehend mit der Angst, danach so gewöhnlich wie andere zu sein (ebd.).“ In diese Argumentationslinie stellt Retzer die Haltung, Vergeben unter den Generalverdacht der Unmoral zu stellen:

„Das Vergeben setzt sich dem Druck, unmoralisch zu sein umso mehr aus, als es verbunden wird mit der Infragestellung des Geltungsanspruchs einer prinzipienfundierten Moral (Seite 102).“ Arnold Retzers spitze Feder wird allerdings spätestens an der Stelle markant, wo der Vermerk erfolgt, dass nur der Selbstgerechte auf das Selbstvergeben verzichten könne, also diejenigen, die über ihre Werte und Prinzipien die Menschen vergessen. Ich möchte abschließen mit dem Schlusssatz Arnold Retzers, mit dem er – typischerweise – sich jeglicher Wertung enthält:

„Das Vergeben mag lobenswert sein, macht aber die Vergeltung und die Rache nicht automatisch tadelnswert. Beides sind Möglichkeiten, die der Freiheit der Entscheidung obliegen (Seite 103).“

Ganz nebenbei gefragt: Wie wird man eigentlich Ich???