Drucken

Das Unerhörte erzählen?

Ich stoße im SYSTEMAGAZIN (Online-Journal für systemische Entwicklungen (29. März 2025) auf: Herta Schindler, Kassel: Mit meiner Stimme das Unerhörte erzählen. Eine Schulung des Hörens im Kontext systemischer Biografiearbeit

Sie leitet ein mit der Überschrift: Das Unerhörte erzählen und macht darauf aufmerksam, dass sie hier zwei Bedeutungen im Blick hat:

„Zum einen versteht man darunter, das, was (noch) nicht gehört wurde. In der Regel wurde es nicht gehört, weil es nicht erzählt wurde bzw. nicht erzählt werden konnte. Und zum zweiten ist es ein empörter Ausruf über etwas, das den gesellschaftlichen Gepflogenheiten nicht entspricht: das ist ja unerhört! Beide Aspekte hängen zusammen mit den jeweils geltenden gesellschaftspolitischen Werten, Gesetzen und Machtverhältnissen. Geschehenes oder Erlebtes, das gegen diese vorherrschenden Werte verstößt, im Gespräch zu teilen, kann mit Risiken verbunden sein. Es kann daher aus dem Sprechbaren verbannt werden; dem Geschehenen oder Erlebten wird die Anteilnahme entzogen und es wird zu etwas >Unerhörten<.
Um das Unerhörte zu erzählen und es dadurch aus seiner Verbannung zu lösen, braucht es Mut, und die (Wieder-)Einführung von Anteilnahme […] Ohne Anteilnahme kein Gedächtnis.“

Ich beschränke mich auf (für mich) wesentliche Aspekte, in deren Spiegel meine eigenen Bemühungen um (Re-)Integration des Unerhörten in das soziale/kommunikative Gedächtnis – vor allem auch mit Blick auf ein nachhaltiges Scheitern – verständlicher erscheinen.

Herta Schindler veranschaulicht Vorgehensweisen in der Biografiearbeit mit Anklängen zur Archäologie, in der – erst mit groben Schaufeln und dann mit immer feineren Instrumenten – nach etwas gesucht werde, das anwesend sei, ohne sichtbar zu sein. Es ergibt sich die Frage, was denn nun – statt Pinsel und Pinzette – die Instrumente der Biografiearbeit seien?

„Biografisierende wühlen in alten Fotokisten, lauschen den kaum hörbaren Untertönen einer familiären Anekdote nach, vertiefen sich in Archivmaterial, besuchen bisher nur dem Namen nach bekannte Orte. Und schließen auf diesen Wegen soziale Gedächtnisräume auf. Mit biografischen Methoden und Wissenshintergründen lässt sich die Vielschichtigkeit der Geschichten heben. Nicht zufällig beinhalten beide Worte den Wortteil ‚Schicht‘.“

Herta Schindler verdeutlicht zunächst, um welche Gedächtnisräume es sich handelt. Fußend auf der Gedächtnistheorie von Aleida und Jan Assmann bietet sie vier Unterscheidungsebenen an:

  1. Das individuelle Gedächtnis – es ist an die Einzelperson gebunden und erlischt mit dem Tod einer Person.
  2. Das soziale/kommunikative Gedächtnis – bezieht sich auf die Erinnerungen von Familien oder Gruppen: „Das Erinnern geschieht dementsprechend im Alltäglichen, vorzugsweise im Gespräch mit denjenigen, mit denen man gemeinsam lebt, und unterliegt keinen festen Strukturen.“ Hier habe man also persönlich verbürgte und kommunizierte Erfahrungen im Blick. Der so abgebildete Erinnerungsraum entspreche 3-4 Generationen, die etwa für eine Schuld einstehen müssten: „Das soziale Gedächtnis umfasst einen Zeitraum von 80 bis 100 Jahren, also den Zeitraum, in dem mündlich Erzähltes von nachfolgenden Generationen im Gedächtnis behalten und weitererzählt werden kann, daher auch der Begriff des kommunikativen Gedächtnisses.“ Es umfasse auch Personen, die bereits tot sind. Interessant der Hinweis, dass vielfach im Alter der Wunsch nach Aufarbeitung und Weitergabe wachse: „Was heute noch lebendige Erfahrung ist, wird morgen nur noch über Medien vermittelt sein. Dieser Übergang drücke sich – so Assmann/Assmann […] in einem Schub schriftlicher Erinnerungsarbeit der Betroffenen sowie einer intensiven Sammelarbeit der Archivare aus. Hier finde ein Übergang vom sozialen, kommunikativen Gedächtnis in das kollektive und kulturelle Gedächtnis statt.
  3. Das kollektive Gedächtnis – es zeichne sich im Unterschied zum vorherigen durch Alltagsferne aus. Es brauche Formgebung (in sprachlicher, bildlicher oder ritualisierter Weise): „Das kollektive Gedächtnis meint das ‚Gedächtnis‘ von Nationen, Religionen etc., aber z.B. auch von Fußballvereinen, politischen Parteien, also großer, strukturierter und zeitlich andauernder Zusammenhänge, die ihren Mitgliedern Identität und Zugehörigkeit vermitteln.“
  4. Das kulturelle Gedächtnis – es manifestiert sich in Kanons von Literatur, Gemälden, Museen, Archiven, Musik und anderen Medien, die innerhalb einer Gesellschaft geschaffen wurden: „Ein Teil dieser ‚Belebung‘ wird durch Schulwissen in Form von Bildung an die Nachkommen weitergegeben.“ Und besonders zu beachten: „Im kulturellen Gedächtnis sind auch solche Inhalte aufgehoben, die im kollektiven Gedächtnis als störend im Rahmen einer Identitätsbildung, als Nestbeschmutzung, als irrelevant angesehen werden.“

Warum mag es lohnend erscheinen, im biografischen Prozess diese Gedächtnisebenen zu erkunden? Herta Schindler vertritt die Auffassung, dass – je mehr Ebenen dabei miteinander in Beziehung gesetzt würden – desto vielschichtiger erscheine eine Lebensgeschichte.

Ein Beispiel: Herta Schindler schildert die schwierige Mutter-Tochter-Beziehung auf dem Hintergrund einer verschwiegenen Tatsache: nämlich der Freigabe eines unehelich geborenen Kindes der Mutter  zur Adoption. Erst als die Mutter sich der Tochter, die ihrerseits ein Adoptionsvorhaben bekennt, öffnet und ihre Geschichte erzählt, kommt es zu einem Aufbruch und gewissermaßen einem Neujustieren der Beziehung: „Margret, die Tochter wusste nicht, fühlte aber ‚etwas‘. Und zwar unbewusst so genau, dass der Verlust eines Kindes durch Adoption mit einem Kind aus Adoption ausgeglichen werden sollte. Hier wirkt Gedächtnis als Handlung.“

Die Anmerkungen, die nun folgen, bergen den Stoff für jene Verstrickungen in familialen Dynamiken, die verstehbar, nachvollziehbar und möglicherweise auch verzeihbar nur dann erscheinen, wenn man sich einen Einblick in die jeweiligen gesellschaftlichen Kontextbedingungen erlaubt. Dazu merkt Herta Schindler an:

„Welche Werte, Gesetze und Machtverhältnisse führten (beispielsweise) zum Entzug von Anteilnahme? Denn das, erinnern wir uns, liegt unerhörten Geschichten in der Regel zugrunde. Gesellschaftspolitische Hintergründe von Adoption für die freigebende Mutter waren vermutlich: Abwertung früher Schwangerschaft bei gleichzeitigem Nicht-Zugang zu Verhütungsmitteln; gesetzliches Verbot der Abtreibung; rechtliche Nichtgleichstellung einer ledigen Mutter gegenüber verheirateten Müttern mit rechtlichen, finanziellen, beruflichen und sozialen Einschränkungen als Folge.“

Herta Schindler spricht von kulturellen Normen in gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen, die einen gravierenden Unterschied konstituieren zu von Generation zu Generation erfolgendem Wertewandel: „Kulturelle Norm war hier: die Frau (nicht der Mann) war rufgeschädigt; ledige Mütter waren nicht angesehen bis verachtet; das uneheliche Kind war nicht angesehen bis verachtet. Eine echte Zwickmühle: Was schwangere Frau auch tat, es schien ungehörig.“

Die von Herta Schindler aufgezeigten Zusammenhänge mit der Verschränkung der verschiedenen (Gedächtnis-)Ebenen bilden im Übrigen den Hintergrund für Hildes Geschichte – die Geschichte meiner Mutter und meiner Halbschwester in Sonderheit (siehe auch: hier). Mag man sich der Vorstellung annähern, die Geschichten von Mutter und Tochter könnten erzählbar werden, wäre dies vermutlich nur vorstellbar auf der Grundlage eines Minimums – besser aber eines Optimums – an Vertrauen der Beteiligten zueinander; eines Vertrauens, dass die Schuld- und Schamdynamik hervorrufenden moralischen Wertungen im Erzählraum zwischen Mutter und Tochter nicht dominant auftreten.

Was dies konkret bedeuten kann, zeigt Herta Schindler an einem weiteren Beispiel – überschrieben mit der kryptischen Formulierung: Das blaue Handtuch – oder die Kunst der symbolischen Anwesenheit:

Dabei geht es um folgende Ausgangslage: Ein Vater berichtet, dass seine Adoptivtochter als neugeborenes Baby in eine Babyklappe gelegt wurde. Sie sei eingewickelt gewesen in ein blaues Handtuch. Ansonsten habe es keine Verbindung zu ihrer leiblichen Mutter gegeben. Die Adoptiveltern hätten von Anfang an die Frage gestellt, wie eine Verbindung des Kindes z seiner Herkunft aufrechterhalten werden könne? Der Vater erzählt, dass sie das blaue Handtuch aufgehoben hätten „als den bedeutsamen symbolischen Gegenstand, der mit dem emotionalen Ereignis der Geburt des Kindes und damit mit seiner leiblichen Mutter verbunden bleibt“. Folgendes Ritual habe sich dann verstetigt: „Sie fahren in der Geburtswoche des Kindes zu seinem ‚Findeort‘, ‚besuchen‘ die Babyklappe und feiern dann das Ereignis des Lebens mit Eis essen.“ Herta Schindler meint, dieser Umgang sei bemerkenswert: „Die Adoptiveltern sorgen durch das Erzählen für eine ‚homöopathische Dosis‘ des Dreiklangs Zeit, Ort, und emotionales Ereignis, so dass das Kind eine Chance bekommt, seinen Lebensanfang im biografischen Gedächtnis zu verankern.“

Holen wir mit Herta Schindler etwas weiter aus und folgen ihrer Einschätzung. Dies vor allem aus dem Motiv heraus danach zu fragen, was versucht werden kann und was unversucht bleiben kann. Nicht annähernd bin ich geneigt davon auszugehen, dass die Vorgehensweise der Adoptiveltern eine Garantie darstellt für einen - alles in allem - zuträglichen Entwicklungsraum für das Adoptivkind und einen zuträglichen (tragfähigen) Kommunikationsraum für alle Beteiligten. Gleichwohl mag es lohnen, sich einmal Herta Schindlers Einschätzung zu öffnen:

„Die Adoptiveltern berücksichtigen

In systemischer Perspektive muss Erinnerungsarbeit als gesellschaftspolitische Handlung reflektiert werden:

Zu Recht weist Herta Schindler darauf hin, dass wir gegenwärtig im gesellschaftspolitischen Raum einen massiven Kampf um Erinnerungsarbeit erleben:

„Erinnerungen zu dominieren dient als zentrales Machtmittel.“ Herta Schindler nennt als (aktuelle) Beispiele das Verbot der Menschenrechtsorganisation Memorial in Russland 2021 als Erinnerungsverbot an die Opfer der Stalinherrschaft oder die Abschaffung der Shoa-Gedenktage durch die Trump-Regierung im Februar 2025 als Erinnerungshemmung an das aktive Eintreten der USA gegen Faschismus. Beides – so Schindler – diene dazu, entsprechende Erfahrungen nicht mehr kulturell und kollektiv zu rahmen. Für individuelle Erinnerungen seien aber kollektive Rahmungen prägend. Sie bestimmten wesentlich mit, was erzählt und damit auch gewusst werde.

In Herta Schindlers Ausführungen finde ich eine Bestätigung für meine eigenen Bemühungen. Im Rahmen von Biografiearbeit werde intensiv auf diese Prägungen geschaut:

„Biografisierende setzen sich intensiv damit auseinander, was in ihrer Herkunftsfamilie wie bewertet wurde, wer als das schwarze Schaf galt und für wen und ob das so ‚rechtens‘ war. Es wird sich in oftmals langen und intensiven Prozessen zu umfassenderem Wissen und Neubewertungen durchgearbeitet. Durch biografische Nachforschungen erfahrenes neues Wissen kann dem bisher Gewussten wiedersprechen. Biografisierende sind davon betroffen …], wenn man an (Groß-)Eltern unbekannte Täter- bzw. Opferseiten erkennt, von Halbgeschwistern erfährt, von denen man nichts wusste und anderes mehr. Nun muss in die (gemeinsame) Vergangenheit hinein neu gedacht und gefühlt, die Geschichte neu erzählt werden.“

Herta Schindler plädiert last but not least für  M E H R S T I M M I G K E I T  - den Raum offen halten für Mehrstimmigkeit in der Wahrnehmung, Erinnerung und in der Kommunikation von Erfahrungen. Herta Schindler bezieht sich auf Johan Galtungs Gewaltbegriff. Er beinhaltet eine Differenzierung in drei verschiedene Kategorien, deren wechselseitige Abhängigkeit in einer Dreieckskonstruktion sichtbar wird (strukturelle Macht/Gewalt – Personifizierte Macht/Gewalt – Kulturelle Macht/Gewalt):

„Tritt in einer Ecke Gewalt auf, hat das Auswirkungen auf die beiden anderen: Spannungsfelder nähren sich durch diese Wechselwirkungen. In der Biografiearbeit sind strukturelle und personifizierte Gewalt nachträglich natürlich nicht zu ändern, wohl aber die Deutungen dessen und damit die kulturellen Auswirkungen von Macht und Gewalt für die Gegenwart. Als kulturelle Gewalt lassen sich Wertvorstellungen, Sprachnormen und Verhaltensweisen bezeichnen, die in einer Gesellschaft dazu dienen, personale und strukturelle Gewalt vorzubereiten, zu provozieren, zu übersehen oder zu rechtfertigen.“

Der letzte Abschnitt setzt Biografiearbeit in Beziehung zu einer Versöhnungsarbeit in und nach gesellschaftlichen Konfliktlagen. Aber – wie Herta Schindler schreibt – den Kreislauf von Angst und Gewalt zu durchbrechen, setzt – zumindest für den ganz normalen Durchschnittsbürger – voraus, dass wir in einem gewaltfreien privaten und öffentlichen Raum agieren können. So mag es plausibel erscheinen, wenn Herta Schindler schreibt, es könne notwendig und klug sein, etwas im Unerhörten zu lassen – für lange Zeit. Und es wäre schön, ihr folgen zu können, wenn sie ihre Ausführungen mit folgender Vision abschließt:

„Wenn die Zeiten günstig sind, der Mut gewachsen, die Dringlichkeit hartnäckig ist, wenn die Lust am Selbst-Sein schließlich überwiegt, dann kann ‚es‘ raus. Dann entsteht eine gemeinsame Welt. Jetzt wissen WIR es! Gemeinsam, nicht einsam. Wir sind entgeistert, um be-geistert gegenwärtig zu leben.“