Wir tragen einen großen Namen - Alice und Ellen Kessler
Nun ist sie also wieder da - die Diskussion um die Sterbehilfe - die Hilfe zum Sterben. Ausgelöst wird die öffentliche Debatte durch den Freitod der sogenannten Kessler-Zwillinge, die die Hilfe der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben e.V. (DGHS) zum assistierten Suizid in Anspruch genommen haben. Rudi Krawitz verfügt über einen Wikipedia-Eintrag, trägt aber keinen großen Namen. Nach Antrag - ebenfalls bei der DGHS - am 1. September hat er ebenfalls den assistierten Suizid gewählt, um seinem Leben ein Ende zu setzen. Rudi hat im Mitteilungsblatt der DGHS seine persönlichen Motive dargelegt. In einem zweiten Beitrag, der in der Ausgabe 1/26 des Mitteilungsblattes der DGHS erscheinen wird, legt er - anders offenkundig als die Kessler-Zwillinge - ein gewichtiges Plädoyer für die Möglichkeit des assistierten Suizids vor.
Gewiss sind die Argumente, die Rudi - über seinen persönlichen Freitod hinaus - darlegt, jedem, der sich mit dem Problem der Sterbehilfe in Deutschland auseinandersetzt, vertraut. Sie werfen ein helles Licht auf einen gesellschaftlich weitgehend ignorierten Missstand, der zum Suizid Entschlossene zu den unmenschlichsten Handlungen mit weitreichenden (sozialen) Folgen veranlasst.
Im Februar habe ich in meinem Blog einem guten Freund die Ehre erwiesen, der keinen Zweifel an der grundsätzlichen Entschlusskraft zum Freitod gelassen hat(te). Der Zeitpunkt kam gleichwohl überraschend. Die Tatsache, dass er in seiner (krankheitsbedingten) subjektiv empfundenen Ausweglosigkeit ein Erhängen mit Hilfe einer Drahtschlinge vollzog, erschien ihm wohl an einem gewissen Punkt seiner prekären Situation als ultima ratio. Aber die Umstände, die nach erfolgtem finalen Suizid eintreten und in der Folge 1. in diesem Falle den Bruder damit konfrontierten, den eigenen Bruder - nach einem für uns vermutlich zur Gänze nicht vorstellbaren Todeskampf - aufzufinden, und der 2. dann diesen ungeklärten Todesfall zur Anzeige bringen musste und damit ein für alle belastendes Todesermittlungsverfahrens in die Wege leiten musste, um sich dann 3. die unausweichliche Frage zu stellen, inwieweit Lücken in der eigenen Wahrnehmung mitverantwortlich waren für die Vorgehensweise des eigenen Bruders geben uns zu denken. All dies spricht Rudi an, indem er z.B. fragt, ob es denn wirklich angemessen und human sei - um nur einen favorisierten Weg zum Suizids zu erwähnen - mehr als zweieinhalb Tausend Lokomotivführer:innen (in Europa) jedes Jahr zum unfreiwilligen Assistenten des eigenen Suizids zu machen?
Im Jahr 2024 beendeten in Deutschland 10 372 Menschen ihr Leben durch einen Suizid. Das waren 0,7 % mehr Fälle als im Vorjahr und 7,1 % mehr als im Durchschnitt der letzten zehn Jahre. Die tendenzielle Verteilung zwischen Männern (71,5 %) und Frauen (28,5 %) ist dabei relativ konstant geblieben - ebenso wie die absolute Zahl der registrierten Suizide.
2014 - seinerzeit noch verbunden mit der Initiative des 2016 verstorbenen Pfarrers und ehemaligen Generalsekretärs der CDU, Peter Hintze*, bemühte sich der Deutsche Bundestag vergeblich um eine gesetzliche Regelung der Sterbehilfe.
*Er plädierte er in der Sterbehilfe-Diskussion vor der Bundestagsabstimmung am 6. November 2014 dafür, Sterbenskranken einen ärztlich assistierten Suizid zu ermöglichen, und legte mit Karl Lauterbach und Carola Reimann (beide SPD) einen entsprechenden Gesetzentwurf vor. Damit stellte er sich gegen Hermann Gröhe und eine Mehrheit der Unionsparteien. In einem Interview mit Christ und Welt sagte Hintze, Gott habe „uns geschaffen, damit wir unser Schicksal selbst bestimmen“, niemand könne verlangen, das Leid auszuhalten, weil Christus es am Kreuz genauso gemacht habe: „Wir sind nicht Jesus“. Für sich selbst, seit 2013 mit einer Krebsdiagnose behaftet, schloss er einen solchen Weg aber aus.
Es war beispielsweise Edo Reents, der diese Debatte mit einem zynischen Titel seines Beitrags in der FAZ vom 23.11.2014 (siehe auch: hier) begleitete, in dem er meinte, das Sterben sei eben kein Wunschkonzert: "Es gibt Fälle, in denen Menschen nicht (mehr) Hand an sich legen können. Wie wäre es, wenn man sich damit abfände?" Diesen Beitrag von Edo Reents hat mir seinerzeit Rudi Krawitz zukommen lassen. Im Rahmen unserer wöchentlichen Zusammenkünfte an der Kehr-Kapelle auf dem Maifeld hat uns die Frage nach einer gesetzlichen Regelung der Sterbehilfe intensiv beschäftigt. Es war dabei gewiss nicht abzusehen, dass gut zehn Jahre später Rudi in seinem 82. Lebensjahr die rechtliche Klarstellung des Bundesverfassungsgerichts zum assistierten Suizid (und die Aufforderung des Bundesverfassungsgerichts an den Gesetzgeber für eine gesetzlich Regelung der Sterbehilfe zu sorgen) nutzen würde, um seinem eigenen Leben in einem geschützten Rahmen eine Ende zu setzen. Rudi lässt in seinen Auslassungen zu seinem Entschluss keinen Zweifel daran, dass das Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben für ihn zu den grundgesetzlich geschützten Grundrechten gehört. Und seine größte Angst in den letzten Wochen seines Lebens - nachdem er den Tag seines Freitodes in Abstimmung mit der DGHS festgelegt hatte - war offenkundig die vor einem Schlaganfall, der ihm möglicherweise - durch den Verlust der Tathoheit - letztlich die Möglichkeit genommen hätte, final Hand an sich zu legen. Und ich gehe gewiss nicht zu weit, wenn ich behaupte, dass Rudi Schnöseln, wie Edo Reents gegenüber, Genugtuung empfinden würde, dass solche Zynismen, wie sie die weiter oben zitierte Auslassung von Edo Reents repräsentieren, keine Macht über sein Handeln gewinnen konnten.
Bemerkung in eigener Sache: Edo Reents war bei Veröffentlichung seines Beitrags zur Sterbehilfedebatte immerhin schon 49 Jahre alt. Warum ich seinen Beitrag als zynisch und unangemessen bewertet habe und ihn der Schnöselhaftigkeit bezichtige, mag man aus meinem seinerzeitigen Beitrag in meinem Blog ersehen. Die unterdessen ziemlich genau 11 Jahre des zeitlichen Abstands und der Freitod meines Freundes Rudi Krawitz bestätigen mich in meiner Einschätzung. Die schlichte Frage stellt sich: Woher nehmen Akteure wie Edo Reents das Recht, Entscheidungen in Frage zu stellen, die Menschen in selbstbestimmter Entscheidung treffen? Am Beispiel von Alice und Ellen Kessler und Rudi Krawitz mag man ermessen können, dass es offenkundig eine Rolle spielt, ob man einen großen Namen trägt oder namenlos bleibt im großen öffentlichen gesellschaftlichen Konzert massenmedial angestoßener Meinungsbildung. Niklas Luhman würde im Sinne der binären Unterscheidung, die er mit Blick auf die Realität der Massenmedien vornimmt (Information vs. Nicht-Information), anmerken, "dass Massenmedien Meldungen vorziehen, die als >Einzelfälle - Vorfälle, Unfälle, Störfälle, Einfälle< zu kennzeichnen sind" (Natalie Binczek in: Luhmann Handbuch, Stuttgart 2012, Seite 190). Dabei geht es vor allem um die Modellierung von Nachrichten als Handlungen, d.h. als Ereignisse, die auf Personen bezogen sind - natürlich besonders dann, wenn es sich um Personen handelt, die einen großen Namen tragen. Das ist und bleibt der Unterschied zwischen Alice und Ellen Kessler auf der einen Seite und Rudi Krawitz auf der anderen Seite. Da unverdiente Verdienst der Kessler-Zwillinge* ist also zumindest darin zu sehen, dass ihr Fall eine notwendige öffentliche Debatte befeuert. Und da tut es nichts zur Sache, dass Rudi sich die Mühe macht, seinen Entschluss auf differenzierte und nachvollziehbare Weise einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich macht. Die Leserschaft des Mitteilungsblattes der DGHS macht jedenfalls nur einen verschwindend geringen Bruchteil aus gegenüber der Leserschaft, die nun mit dem Handeln der Kessler-Zwillinge erreicht (und konfrontiert) wird.
*Nehmen wir einmal die Rhein-Zeitung von heute (20.11.2025) auf ihrer Titelseite: "Debatte über den assistierten Suizid - Berlin. Der gemeinsame Tod der Kessler-Zwillinge hat eine Debatte über assistierten Suizid ausgelöst. Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, warnte vor dem >Tod aus den gelben Seiten<, der frühere Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) und der Vorsitzende des Deutschenm Ethikrats, Helmut Frister, forderten eine gesetzliche Regelung. Die Entertainerinnen Alice und Ellen Kessler waren am Montag im Alter von 89 Jahren in Grünwald bei München gestorben. Sie hatten die Dienste der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) genutzt, wie die Organisation nach dem Tod bekannt gab. epd" Immerhin!
Auch Rudi Krawitz hat "die Dienste der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) genutzt". Er wollte explizit eine "interessierte Öffentlichkeit" erreichen: Selbstbestimmt sterben - meine Geschichte. Auch Rudi Krawitz hatte - wie Alice und Ellen Kessler - einen Wikipedia-Eintrag. Er hat früh schon - beispielsweise im Rahmen seiner Habilitationsschrift: Pädagogik statt Therapie - in Kapitel VI (Aufgaben pädagogischer Praxis) im siebten Unterkapitel über die Freude, das Glück, das Lieben, über Leid und Sterben reflektiert:
"Die Freude, der Umgang mit dem Glück, das Lieben und das Geliebtwerden, aber auch das Leiden und schließlich der Tod sind die existentiellen Themen, die sich in unterschiedlichsten Gestalten als Herausforderungen stellen. Sie bilden die eigentlichen und wesentlichen Inhalte der individualpädagogischen Handelns, neben denen die bloß technischen und materialen Lerninhalte alle nur sekundäre Bedeutung haben können." (Seite 317)
Er merkt an, es schein so, dass wir mit dem letzten Ereignis des Lebens - dem Tod - offenkundig "immer noch nicht richtig umzugehen gelernt haben". Er bezieht sich auf Sigmund Freuds Anmerkung, dass wohl niemand aus unserem Benehmen schließen könne, "daß wir die sichere Überzeugung haben, ein jeder von uns sei der Natur seinen Tod schuldig". Das Gegenteil sei offenkundig der Fall, denn wir wüssten doch jedesmal eine Erklärung, welche diese Notwedigkeit zur Zufälligkeit herabdrücke.
Wie gewaltig der Ausblick Rudis in diesem Kapitel nachhallt, wird deutlich wenn er zum Schluss anmerkt:
"Ohne auf eine Philosophie des Todes, theologische Fragen und Antworten oder auch religiöse Orientierungen näher einzugehen (vgl. Altner 1981), sei hier auf die emminente pädagogische Bedeutung des wohl bedrängendsten aller existentiellen Themen hingewiesen. Die Erfahrungen, die jeder im Umgang mit dem Tod durch das Sterben anderer notwendigerweise machen muß, bestimmen und prägen das Leben des einzelnen stark und müssen in die Gestaltung des pädagogischen Alltags ebenso hineingenommen werden wie alle anderen Ereignisse der Freude, des Glücks, des Liebens und des Leids." (Seite 320)
Ich danke Rudi an dieser Stelle dafür, dass er mir als Institutsleiter an der Uni Koblenz persönlich - nach 1998 - jede erdenkliche Freiheit gelassen hat, im Rahmen der seinerzeit entstehenden curricularen Neuausrichtung in den sogenannten Bildungswissenschaften den Schwerpunkt "Tod, Trauer, Sterben" zu verankern. Wir beide hatten da bereits erfahren, wie sehr Rudi mit seiner programmatischen Ausrichtung (siehe obiges Zitat) auch unsere eigene Lebensrealität erfasste. Und wir sollten auf schmerzlichste Weise darüber hinaus erfahren, wie sehr er mit dieser Ausrichtung und dem nachstehenden - Reiner Maria Rilke - entlehnten Vers seinen und unseren weiteren gemeinsamen Weg in Aussicht nehmen würde.
Der Tod ist groß.
Wir sind die Seinen
lachenden Munds.
Wenn wir uns mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
mitten in uns.