Dankbar
Die Intensität eines Erlebens hängt wohl zentral mit der Nähe zusammen, aus der heraus man etwas erlebt. Dies mag so weit gehen, dass man mit der Nähe unter Umständen jeglichen Abstand verliert. Dirk Baecker (Heidelberg 2008, Seite 632f.) hat einmal in Anlehnung an Karl E. Weick und James G. March mit Blick auf die Wirklichkeit festgehalten, sie entspreche in der Regel ja nie den klaren Sachordnungen, von denen wir alle träumten. Da sei es entscheidend, wie man mit Nähe und Distanz umgehe. Dirk Baecker geht sogar soweit zu behaupten, dass jemand, der sich in bestimmten Situationen fest koppeln lasse, wer sich also beispielsweise für Nähe oder Ferne so entscheide, als gäbe es diese in der Form einer eindeutigen, sich wechselseitig ausschließenden Alternative, zwangsläufig verrückt werden müsse.
Wir müssen also entscheiden: Das ist >nahe genug<. Es gehe - so Baecker - zweifellos um die Kunst des Abstands. Es sei in der Tat eine Kunst, die mit der Distanz, mit der Differenz, mit dem Unterschied beginne und sich von dort aus die Verhältnisse anschaue, um sich dann in ihnen und mit ihnen zu entscheiden. Es handele sich um eine Kunst, die in der Lage sei, jede Einheit der Beziehung zu übersetzen und aus der Beziehung heraus zu variieren:
Dirk Baecker redet von einer Kunst: ">Nahe genug< ist mir das, wozu ich einen Abstand suche, weil ich die Beziehung nicht aufkündigen möchte. Ich übersetze feste Kopplung in lose Kopplung, rechne nicht mit Zukunft, sondern mit der Gegenwart, und weiß, dass die Wahrheit Gründe hat, ihre Gründe nicht sehen zu lassen."
Lassen sich Situationen vorstellen, in denen der Abstand - ohne unser Zutun - auf ein Minimum zusammenschrumpft - allenfalls noch Körpergrenzen wahrnehmen und respektieren kann bzw. muss? Ich bewege mich im Aufschreiben meiner Überlegungen in solchen Grenzsituationen, ohne auch nur annähernd in der Lage zu sein, diesen Wirklichkeiten mit ausreichender bzw. angemessener Sprachmächtigkeit zu begegen.
Die Situation, die mich für sich einnimmt, mag man kurz und knapp auf den Punkt bringen, indem ein soeben Vater gewordener Mann festhält: "Müde, sprachlos, glücklich." Das halte ich für eine angemessene Art und Weise auch der sprachlichen Überforderung zu begegnen, die mit dem überwältigen Erleben der Geburt des eigenen Kindes einhergeht. Die Urwüchsigkeit, mit der sich ein natürlicher Geburtsvorgang vollzieht (siehe unter diesem Link Sloterdijks sprachmächtige Interpretation eines Geburtsvorgangs), übersteigt gewiss das sprachliche Vermögen der meisten Beteiligten.
Nun habe ich den Beitrag schlicht mit einem Wort überschrieben: Dankbar - das fehlt mir im Übrigen in der überwältigenden Präzision eines: "Müde, sprachlos, glücklich". Aber im Glücksempfinden mag auch Dankbarkeit eine substanzielle Rolle spielen. Nun bin ich gestern Abend bzw. in der Nacht nicht Vater, sondern nur Großvater geworden. Der Rahmen - die Wirklichkeit - war aber eine durchaus besondere und für mich in gewisser Weise einzigartige: Während sich die Eltern im Kreißsaal befanden, kam uns als Großeltern die ehrenvolle Aufgabe zu, unsere Enkelin (20 Monate alt) zu umsorgen. Die Einübung in die entsprechenden Rituale war über Wochen und Monate erfolgreich - nachvollziehbar, weil wir das Privileg genießen, alle in unmittelbarer Nähe zu leben - zwei Töchter, zwei Schwiegersöhne und nun vier Enkelkinder (sechseinhalb, vierdreiviertel, eindreiviertel und einen Tag alt). Gemeinsam zu Abend essen, für die Nacht vorbereiten - das geht zu zweit problemlos. Das Zu-Bett-Geh-Ritual hat seinen eigenen Rahmen. Das Zimmer dunkel, die Schlafecke kuschelig und sicher, dazu eine Playlist leiser, kaum hörbarer, sanfter Klaviereinspielungen. Es gibt noch einen Schnulli, und wir legen uns gemeinsam hin. Den Part übernehme ich, weil meine Frau sich im Dunkeln nicht mehr sicher bewegen kann. Was mich nun einnimmt in diesen ca. zehn, maximal fünfzehn Minuten ist folgendes Phänomen (in Klammern sei bemerkt, dass ich in Zu-Bett-Geh-Ritualen äußerst erfahren bin, weil ich meine älteren Enkelkinder dabei unzählige Male begleitet habe):
Anouk, meine Enkeltochter legt sich ruhig in ihre Kuschelecke. Wir sprechen kein Wort. Im Hintergrund läuft - für mich kaum hörbar - jene besagte Klaviermusik. Ich lege mich neben Anouk, meine Hemdsärmel sind hochgekrempelt, denn Anouk sucht Körperkontakt, indem sie mit ihren Händen meine Arme streichelt, berührt, massiert. Wir reden kein Wort mehr. Das fällt mir schwer, weil ich es von Leo und Jule anders gewohnt war bzw. bin. Es gibt ein eigenes, kleines Lied, das ein sanftes Kraulen auf dem Rücken begleitet: >Krauli, krauli auf dem Rücken, das kann Dich entzücken, rauf und runter, hin und her, das ist gar nicht schwer<. Berührend und bewegend ist die grenzenlose Vertrautheit, mit der Anouk aktiv den Hautkontakt sucht. Wenn die Berührung aufhört, weiß ich, dass sie schläft, stehe auf und gehe.
Warum schildere ich dies hier so eingehend? Was ist nahe genug? Als mein Schwiegersohn gestern gegen 1.00 Uhr - tief in der Nacht - nach Hause kam, konnte ich in seinen Augen jenes "müde, sprachlos, glücklich" gewissermaßen greifen. Ergriffen war Thomas aber auch von einer diffusen, tief verankerten Dankbarkeit, die vermutlich nur Väter nachvollziehen können, die ihre Frau durch die Schwangerschaft begleitet haben - eine Risikoschwangerschaft, mit Höhen, Tiefen und zum großen Glück mit einem glücklichen Ausgang: Das erste gemeinsame Foto von Laura und Lia Sophie gleicht einer Skulptur, aus dem - neben dem Glück, das sich hier offenbart - auch Dankbarkeit spricht:
Danke Lia Sophie, dass Du nun nicht mehr nur in mir bist, sondern dass Du bei uns sein kannst. Danke, Mama, dass Du all das auf Dich genommen hast und mich unter Schmerzen geboren hast.
Wir alle spiegeln diese Dankbarkeit zurück. Wenn das Leben einen Sinn haben mag, dann offenbart er sich zuallervorderst im Leben selbst. Ohne das Leben weiterzugeben, weitergeben zu wollen - jenseits aller belastenden und aberwitzigen gegenwärtigen Idiotien und brutalen Selbstvergessenheit in dieser Welt - verliert die Welt, wie wir sie sehen und erleben, ihren originärsten Sinn.