Danke für Hildes Geschichte (18) - immer mit dem Verweis auf J. Lear!
Henning Sußebach hat mich auf die Idee gebracht, meinen Blog zu nutzen und Hildes Geschichte noch einmal Kapitel für Kapitel zu erzählen - ganz im Sinne seiner Überzeugungen, die er mit dem Aufschreiben der Geschichte seiner Urgroßmutter verbindet. Hilde, meine Mutter ist inzwischen auch Urgroßmutter, und ich stelle mir vor, dass sie ihre Hand nicht nur über mich hält, sondern über alle, die aus ihr hervorgegangen sind. Bert Hellinger macht uns noch einmal darauf aufmerksam, dass zu diesem Hervorbringen unter Umständen - und Hilde hat solche Umstände erlebt - auch die schlimmen Gesellen gehören. Aber werden wir beispielsweise dem Vater meiner Schwester tatsächlich gerecht, wenn wir ihn als schlimmen Gesellen sehen. Der Ausschluss, das beharrliche Weigern auch jenen Ahnen zu sehen und anzunehmen, dem meine Mutter, die Mutter meiner Schwester, die Großmutter meines Neffen, meiner Kinder und meiner Nichten und die Urgroßmutter aller Enkel:innen in Hingebung und Liebe begegnete, verhindert dort anzukommen, wo ich mich wähne - als jemand der irgendwann die Augen öffnet, sich noch einmal umblickt, aufsteht und geht - im Einklang mit sich selbst und seiner Geschichte.
Franz Streit hat am 3. September 1914 das Licht der Welt erblickt - in Oer-Erkenschwick. Das Wenige, was ich zu Franz Streit zusammengetragen habe, findet sich im Gespräch mit Franz Streit. Eine Kindheit hinein in den Ersten Weltkrieg, in die Weimarer Republik hinein muss man spiegeln in den Schwierigkeiten und Restriktionen, die sich in der Region, in der die Zeche Ewald größter Arbeitgeber war, auf recht brutale Weise zeigten: Auf der 1904 in Betrieb genommenen Schachtanlage Ewald Fortsetzung der damaligen Landgemeinde Erkenschwick wurde 1931-1938 die Kohleförderung im Zuge einer schweren Wirtschaftskrise eingestellt, was die rund 16000 Einwohner der Gemeinde zu 80% zu sog. Wohlfahrtsempfängern machte. Bereits 1933 stellten die Nationalsozialisten die absolute Mehrheit im Gemeinderat.
Spärliche, aber durchaus aussagekräftige Daten zur Lage in Oer-Erkenschwick zu Beginn der 30er Jahre. Ohne jegliche berufliche Perspektive - so wird es über die Familie kolportiert - ist Franz Streit als 20jähriger wohl nach Österreich zurückgegangen und war in den Juli-Putsch (Dollfuß-Putsch) verwickelt. Ihm ist vermutlich über das Lavanttal, wo seine Großeltern wohnten, die Flucht nach Slovenien gelungen. Er hat sich 1938 für 10 Jahre als Berufssoldat (zuerst Gebirgsjägerregimemt 99 in Sonthofen) verpflichtet. Franz Streit gehörte verschiedenen Panzereinheiten an, zuletzt dem Panzerregiment 33, der 9. Panzerdivision zugehörig. Er ist am 23. September in der Ukraine (Malanino bei Saporoshje) gefallen. Ich habe mit Welzer/Neitzel versucht über den von Ihnen minutiös beschriebenen historischen Referenzrahmen die Bedingungen greifbar zu machen, die in der Weimarer Republik zur Radikalisierung führten. Bricht man die große Geschichte auf individuelle Lebensläufe herunter, gewinnt man einen differenzierteren Blick auf Biografien von Weltkrieg-II-Soldaten. Das gilt für meinen Vater (Jg. 1922), meinen Schwiegervater (Jg. 1924), den Cousin meiner Mutter, Christian Lahnstein (Jg. 1918). In einem langen Gespräch mit Heinz-Otto Fausten, der den Zweiten Weltkrieg als Schwerstversehrter Angehöriger der 1. Panzerdivision überlebt hat, konnte ich in einem langen Gespräch noch einmal erfahren, wie sehr Kinder und Jugendliche verführ- und manipulierbar sind. Beiläufig taucht er auf in einem Beitrag, über den ich mir und uns allen die Frage stelle, wie selbstgerecht wir eigentlich über andere urteilen? Siehe dazu auch das dritte Kapitel unter diesem Link: Wolfgang Klafki geht als Zeitzeuge seiner Verstrickung in die NS-Ideologie nach
Wer war Franz Streit? Wer wäre Franz Streit gewesen, hätte er den Krieg überlebt? Wir wissen es nicht. 1941 mag er der Haudegen, der Frauenheld, der Hasardeur gewesen sein, als der er in den kolportieren Geschichten über ihn in Erscheinung tritt. Vater meiner Schwester, Großvater meines Neffen und Urgroßvater meines Patenkindes konnte er nur werden, weil ihn meine Mutter, die Großmutter, die Urgroßmutter ihn erhört hat, ihn in Liebe empfangen hat. Was schmerzt dabei eigentlich mehr? Die Zumutung, dass es so gewesen sein könnte? Der frühe Tod des Franz Streit? Das Wüten der ganzen Welt in einer Zeit, in der Staatsterror in der Verantwortung Stalins und Hitlers die Welt verheerte? Wie groß ist die Anmaßung derer, die heute die Hände in den Schoß legen und aus deren Mund "kein Wort" mehr zu hören ist - in einer Zeit, in der neue Despoten die Errungenschaften einer Friedensordung zumindest in Europa erneut bedrohen?
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Hildes Geschichte - Franz der Teufelskerl
Am frühen Morgen des 10. September 1941 näherte sich Franz Salzburg. Dort hatte er zwei Stunden Aufenthalt, und er verließ den Bahnhof in Richtung des großen Stellwerks. Er erinnerte sich an ein Café auf der Fanny-von-Lehnert-Straße in der Nähe des Hauptbahnhofs. Dort hatte er mit Gerda bei Ihrem Salzburg-Besuch 1939 ein paar schöne Stunden verbracht. Intuitiv zog es ihn in Richtung dieses Cafés. Franz‘ Marschbefehl hatte sich kurzfristig geändert, und er war im Zuge der Auffrischung seines Regiments dem Ersatzgruppenteil St. Pölten zugewiesen, um von dort aus den Weitertransport gemeinsam mit frisch ausgebildeten Rekruten zur Division anzutreten.
Franz hatte eine unruhige Nacht hinter sich. Alle Züge waren überfüllt. Man konnte den Eindruck gewinnen, als seien alle auch nur irgendwie fronttauglichen Soldaten auf dem Weg zu ihren Einheiten. Franz hatte – beengt, nur wenige Stunden auf seinem Seesack hockend – mehr gedöst als geschlafen. Dabei hatte er von Frankfurt an noch Glück, ganz am Ende des Zuges im Einstiegsbereich eine Ecke zu ergattern, so dass er wenigstens im Winkel Halt fand und nicht ständig von seinem Seesack herunter rutschte.
Je nach Wach- bzw. Schlafzustand überfluteten ihn seine Gedanken bis hinein in angenehme, merkwürdig entrückte und doch so klar umrissene Traumbilder. Dabei kam ihm Hilde offenkundig so nahe, dass er durch einen unsanften Rippenstoß eines Kameraden aus seinen Traumbildern gerissen wurde, weil er neben wirrem, unverständlichem Gemurmel anscheinend auch noch raumgreifend gestikulierte.
Im Wachzustand bedrängte ihn die Fülle der Bilderflut. Franz versuchte seine Gedanken zu ordnen, sah er sich doch seit der Änderung des Marschbefehls mit der Frage konfrontiert, ob er versuchen sollte wenigstens für einen Tag noch von St. Pölten nach Mistelbach zu Gerda und seinem Sohn, ja zu seiner Familie zu gelangen. Die Chancen standen nicht schlecht, weil der Weitertransport erst für den 12. September vorgesehen war. Was ihn dabei irritierte – und dies schon seit geraumer Zeit – war die Tatsache, dass er mit einem merkwürdigen, ungewohnten inneren Spannungszustand kämpfte, der gleichbedeutend war mit einem deutlichen Verlust an Souveränität in der Organisation seiner Gefühlswelt. Nach dem für ihn gewohnten und gleichermaßen erprobten wie bewährten Umgang mit außerehelichen Kontakten, Avancen, Anfeindungen – gleich wie man es nennen wollte – fühlte sich Franz regelrecht aus der Bahn geworfen. Er hatte ungewohnte Mühe zurück in die Spur zu finden. So kam er sich zerrissen vor. Seine Sehnsucht hatte eine so zwiespältige Ausfransung erfahren, dass er rückwärtsgewandt am liebsten den ganzen Weg bis nach Remagen und Neuenahr zurückgelaufen wäre; andererseits erfasste ihn – je näher er der Heimat kam – ein starker Sog hin zu Frau und Kind.
Franz saß in einer Ecke des Cafés. In der ruhigen und friedlichen Stimmung am Mittwochmorgen war er offensichtlich der erste Gast. Er bestellte ein kräftiges Frühstück mit Rührei, Schinken und viel Kaffee. Franz bemühte sich um einen klaren Kopf und während die auffallend hübsche, junge Kellnerin seinen Frühstückstisch vorbereitete, ging Franz zur Toilette und schöpfte sich zu allererst mit beiden Händen mehrmals Wasser ins Gesicht. Er fuhr sich durch die Haare, wiederholte die Prozedur und spürte, wie das eiskalte Wasser ihm das Blut in die Kapillare trieb. Franz betrachtete sich im Spiegel, rieb sich mit beiden Händen die verstoppelten Wangen und das Kinn. Wieder betrachtete er sich in dem für das WC etwas zu groß geratenen Spiegel, trat einen Schritt zurück, wies mit dem Zeigefinger der rechten Hand auf sich und sagte dann laut: „Franz, du dummer Hund, willst du wohl wieder Vernunft annehmen!“ Dabei blitzen seine Augen. Franz hob den linken Fuß und nahm dann mit dem linken Bein leichten Schwung und drehte sich einmal um die eigene Achse, begegnete sich im Spiegel wieder und rief zwischen Erstaunen, Überraschung und sichtbarem Vergnügen: „Du verrückter Hund, du kompletter Idiot!“ Dann nahm er einen kleinen Kamm aus der linken Gesäßtasche, scheitelte sich das Haar sorgfältig rechts, zog die Sonnenbrille aus der Brusttasche und setzte mit ihr gemeinsam sein Gewinnerlächeln auf. Er verließ die kleine Toilette und dachte, indem er den sonnendurchfluteten kleinen Frühstücksraum betrat, bei sich: „Sei nicht blöd, du lebst, heute lebst du noch, geh deinen Weg und mach dir keinen Kopf um ungelegte Eier!“
Franz rief die Kellnerin zu sich, nahm mit beiden Händen ihre rechte Hand, deutete einen Handkuss an, verneigte sich vor ihr, bot ihr sein charmantes offenes Lachen und meinte vergnügt: „Vielen Dank für das wunderbare Frühstück!“, indem er auf den dampfenden Kaffee, das goldgelbe, verlockende Rührei und die frischen Semmeln wies. „Setzen sie sich doch ein wenig zu mir. Es ist doch noch nichts los!“
Das junge Mädel mit den blonden Zöpfen und den Sommersprossen errötete leicht, lachte verlegen, dankte Franz und lehnte bedauernd und zurückweichend ab: „Wir haben jeden Morgen viele Stammgäste, und ich muss die Tische vorbereiten!“
Franz aß mit Appetit und Heißhunger alles auf, fühlte, wie der Kaffee seine Lebensgeister vollends weckte und trat, nachdem er gezahlt hatte, in die strahlende Sonne. Er streckte sich und spürte selbst hier, unweit des Stellwerks und des Bahnhofs, indem er die frische, kühle Morgenluft in sich aufsog, die Ahnungen und Verlockungen eines prallen, vollen Lebens.