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Henning Mankell: Treibsand - Was es heißt ein Mensch zu sein

Henning Mankell ist im Oktober 2015 im Alter von 67 Jahren verstorben. Er war also noch ein sehr junger Alter - gehörte er zu den Weisen, von denen wir etwas lernen können? Dieselbe Frage habe ich mir mit Blick auf Ulrich Beck (eigenes Leben) und auf Roger Willemsen (Wer wir waren) gestellt. Von allen Dreien habe ich über die Maßen gelernt - so wie von Karl Otto Hondrich, George Steiner, Niklas Luhmann und und und... (gibt man deren Namen in die Suchfunktion meines Blogs ein, tritt man jeweils eine Lawine los). Aber was um Gottes Willen kann man denn von alten weißen Männern lernen? Die Antwort gebe ich heute mit dem Epilog aus Henning Mankells Treibsand (Seite 382-383), seiner letzten Veröffentlichung:

"Als mein Vater in den fünfziger Jahren Richter in Sveg war, hielt er einmal im Monat in Senvstavik einen Gerichtstag ab. Bevor ich schulpflichtig wurde, begleitete ich ihn im Schienenbus. Im Obergeschoss des Gerichtsgebäudes gab es einen Schlafraum für uns. Ich war fünf oder sechs Jahre alt. Es war 1953 oder 1954.
Einmal verurteilte mein Vater einen Mann, der in Svenstavik wegen Totschlags angeklagt war. Er war Waldarbeiter und hatte einen Kaufmann erschlagen, der unbeliebt gewesen war, weil er mit Krediten für die arme Waldbevölkerung geizte. Niemand schien ihn zu vermissen. Aber Totschlag war Totschlag, auch wenn der Waldarbeiter arm und in akuter Not war. Mein Vater fällte das mildeste Urteil, das der Totschlagparagraph erlaubte.
Im Leben umgeben dich unzählige Menschen. Viele nimmst du einen Moment lang wahr, vergisst sie aber sofort wieder. Mit anderen hast du einen kurzen Augenkontakt. Und mit einem Teil dieser Menschen führst du Gespräche.
Außerdem hast du eine Familie, deine Freunde und Bekannten, die dir nahestehen. Manche scheiden aus diesem Kreis aus, Zuneigung erkaltet, Verrat lässt Beziehungen enden, Freunde werden manchmal zu Feinden.
Aber die allermeisten sind einfach Menschen, die zufällig gleichzeitig mit dir leben: Millionen Menschen, die einen kurzen Besuch auf der Erde machen, der sich mit deinem überlappt.

Seit meiner Krebserkrankung träume ich oft, dass ich auf Straßen wandere, auf denen viele Menschen gleichzeitig unterwegs sind. Es kann schwierig sein voranzukommen. Mit einem raschen Schnitt lande ich im Traum dann in einem Gedränge, in einem Theater, einem Café oder in einem Flugzeug. ich suche nach jemandem. Jemandem, der mich kennt. Jemandem, der auch nach mir sucht.
Da bricht der Traum ab. Ich erwache fast immer mit einem großen Gefühl der Leichtigkeit. Es gibt nichts Erschreckendes an all diesen Menschen, die mich umgeben haben. Sie erwecken ein Gefühl von Neugier bei mir. Wer waren sie eigentlich? Ich hätte so viele von ihnen kennenlernen wollen.
Wie die Frau im Stephansdom, die Tangotänzer in Buenos Aires oder das Mädchen in dem Auffanglager in Mosambik, das seine Eltern wiederfand.
Und den Waldarbeiter, und den Kaufmann, den dieser vor sechzig Jahren im mittleren Norrland erschlug.
Alle diese unbekannten Menschen sind mir nahe. Für kurze Augenblicke sind sie in mein Leben getreten.
Aber mit ihnen allen teile ich mein Dasein.
Unsere eigentliche Familie ist unendlich. Auch wenn wir nicht einmal mehr wissen, wem wir für einen schwindelerregend kurzen Augenblick begegnet sind."

Das kann ich nachvollziehen. Und zuletzt in Kurz vor Schluss II habe ich mich auch der Frage gestellt, wie nah ich denn Menschen gekommen bin, und wie nahe sind mir Menschen gekommen? Die Kunst zu leben (und auch zu überleben) liegt wohl in der Balance von Nähe und Distanz. Bei den meisten Menschen, denen ich zu nahe gekommen bin, habe ich mich entschuldigt; einigen bin ich gewiss etwas schuldig geblieben. Mit jedem Tag, der vergeht, schwindet die Chance darauf, sich zu entschuldigen - und die zu danken gleichermaßen.

Alle, die hier in der Einleitung Erwähnung finden - bis auf George Steiner - sind gestorben in einem Alter, das ich längst erreicht und bei den meisten auch schon überschritten habe. Dass es nichts Erschreckendes gäbe an so manchen Zeitgenossen, die uns umgeben - da widerspreche ich Henning Mankell. Dieser Widerspruch wäre nicht notwendig, wüssten alle das zivilisatorische Minimum (hier Kapitel vierzu wahren.

Dazu passt eine Intervention von Dirk Baecker. Sie vermag einen vom Kopf wieder auf die Füße zu stellen. Es erscheint ein wenig transparenter, wo das Herz seine Gründe hat (die es ja eigentlich nicht hat, weil es der Herzenslogik widerspricht) und wo der Verstand dem Herzen zur Seite springt, damit wir nicht völlig verrückt werden:

„Stellen Sie sich vor […] Sie seien der Schiedsrichter, ein Mitspieler oder auch der Trainer bei einem ungewöhnlichen Fußballspiel, in dem das Spielfeld rund ist, mehrere Tote ### zufällig über das Spielfeld verteilt sind, die Leute auf das Spielfeld kommen und es wieder verlassen, wie sie wollen, jeder jederzeit einen neuen Ball ins Spiel bringen kann und jederzeit eins oder auch mehrere Tore zu seinem Tor erklären kann, das Spielfeld insgesamt eine abfallende Fläche ist und das Spiel überdies auch noch so gespielt wird, als habe es Sinn. In dieser Situation, die die Wirklichkeit selber ist und die so wenig mit der klaren Sachordnung zu tun hat, von der wir träumen, hilft nur die lose Kopplung. Wer sich in dieser Situation fest koppeln lässt, das heißt, wer sich für Nähe oder Ferne entscheidet, so als gäbe es diese in der Form einer eindeutigen, sich wechselseitig ausschließenden Alternative, muss zwangsläufig verrückt werden. Wer in dieser Situation jedoch sagen kann, das ist ‚nahe genug‘, entscheidet sich für lose Kopplung, fängt an zu beobachten, verwechselt sich selbst nicht mit den Bedingungen, auf die er sich einlässt, und entdeckt auch bei den anderen Spielräume des Verhaltens, die das Chaos nicht etwa noch größer werden lassen, sondern es für einen Moment so zu ordnen erlauben, dass man Spaß daran bekommt, sich an dem Unsinn zu beteiligen (Dirk Baecker, Nie wieder Vernunft, Heidelberg 2008, S. 632).“

Wer mag daran zweifeln, dass Dirk Baeckers Metapher nicht nur dazu taugt, das gegenwärtige Agieren zum Beispiel in der Ampel-Koalition zu charakterisieren, sondern gleichermaßen eine Vorstellung vermittelt von unser aller - zeitweise mehr als chaotisch erscheinender Lebenssweise.