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George Steiner - Teil II - Gedenken für die Opfer des Nationalsozialismus

Auch George Steiner ist ein Jud wie der Löhner-Beda; kein orthodoxer - nein, er ist jemand, der sich in der Bilanz seines Lebens (siehe auch Teil I) auf ungewöhnliche Weise mit der Frage auseinandersetzt, "warum die Juden überlebt haben" (Kapitel 5, S. 67ff.)? Zu einem Streifen Land ohne Öl, zu einer Bevölkerung, die weit weniger zahlreich sei als die mancher modernen Metropole - so schreibt Steiner - kamen die Vertreter von 131 Nationen und versammelten sich bei der Beerdigung von Yitzhak Rabin. Trotz der Vielzahl ungelöster Probleme auf unserem Globus sei die jüdische Situation nicht vergleichbar:

"Auf nicht reduzierbare, verrückt machende Weise verkörpert sie das, was die moderne Physik eine 'Singularität' nennt, ein Konstrukt oder ein Geschehen, das außerhalb der Normen, jenseits der Wahrscheinlichkeit und der Erkenntnisse der gewöhnlichen Vernunft liegt. Das Judentum pulsiert und strahlt Energie ab wie ein schwarzes Loch in der Galaxis der Geschichte. Seine Parameter sind die der 'Fremdheit', ein weiterer Schlüsselbegriff der zeitgenössischen theoretische Physik und Kosmologie."

George Steiner reiht die alten Hochkulturen aneinander - von den Ägyptern über die Sumerer und die Griechen bis hin zum römischen Reich: "Es gab keine effizienter geordnete, keine mehr auf dem Recht beharrende Zivilisation als die des republikanischen und kaiserlichen Roms. Von diesen hervorragenden Nationen existieren keine direkten Nachkommen. Ihre Sprachen sind Gespenster für die Gebildeten." Im nun folgenden langen - unverändert - wiedergegebenen Zitat George Steiners wird die von ihm behauptete Singularität über alle Maßen deutlich. Sie  spiegelt sich (im Land der Täter) auch darin - nehmen wir nur einmal meine Heimatstadt Koblenz -, dass das unter Covid19-Bedingungen modifizierte Gedenken für die Opfer des Nationalsozialismus im Rahmen dessen, was wir als Erinnerungskultur pflegen und bewahren, am morgigen 27. Januar in diesem Jahr in Form eines Filmbeitrages bekundet wird (www.koblenz.de). Zusammen mit dem Förderverein Mahnmal Koblenz, der Christlich-Jüdischen Gesellschaft für Brüderlichkeit und dem Freundeskreis Koblenz-Petah Tikva sind alle Bürger von Koblenz herzlich zu dieser etwas anderen Art des Gedenkens - wie der Koblenzer OB David Langner anmerkt - eingeladen. Dazu passen die Worte George Steiners als Erstaunen auslösende, aufschlussreiche und mahnende Anmerkungen:

"Die Juden existieren; in Israel und in der Diaspora. Hebräisch wird gesprochen, geschrieben, man passt es an die Kernphysik an, man träumt in dieser Sprache. Nach mehr als zwei Jahrtausenden von systematischer und immer wieder aufflammender Verfolgung, von Zerstreuung ins Exil, von Erstickung im Ghetto, nach dem Holocaust. Juden bestehen darauf, gegen die Norm und Logik der Geschichte zu existieren, die, selbst wenn es keinen Völkermord gibt, in allmählicher Verschmelzung, Assimilation, Vermischung und der Auslöschung ursprünglicher Identität bestehen. Sie existieren gegen die gefräßigen Diktate und Maßnahmen von Tyranneien, feindlichen Glaubensrichtungen und Massenbewegungen wie dem blutrünstigen Mob des mittelalterlichen Christentums oder den Progromen in den osteuropäischen Ländern und in Rußland. All das wurde ausdrücklich in Gang gesetzt, um die Juden aus der Menschheit auszulöschen. Um die Luft und die Erde 'judenrein' zu machen (ein appetitliches Epitheton, das Hitler früherem österreichischem Sprachgebrauch entlehnte). Um jeden jüdischen Mann, jede jüdische Frau und jedes jüdische Kind (auch das ungeborene) in Asche zu verwandeln, die man in den Wind bläst. Babylon, Theben und Karthago sind Archäologie. Das moderne Athen ist ein Zerrbild einer unerlösbaren Vergangenheit. Die Gesetze, die Inschriften des kaiserlichen Roms kommen in der Wüste zum Vorschein. Israel lebt neu; die Diaspora, vor allem in Nordamerika, ist belebt von schöpferischer Kraft und einer Lust an der Erneuerung. Trotz Ächtung, Pariadasein, Massaker, und des - wegen ihrer theologischen Quelle in gewissen Grundprinzipien des Christentums, im Exorzismus des Judas - schicksalhaften Greuels der Gaskammern. Trotz der Versuchungen, unbemerkt in der liberalen Moderne 'aufzugehen', in Normalität und Amnesie zu verebben. Warum?"

Belassen wir es für heute bei dieser Frage. Im Sinne eines unsicheren Herantastens an mögliche Antworten werden wir in den nächsten Folgen versuchen, George Steiners Erwägungen nachzuvollziehen. Gegen Ende seiner Lebensbilanz offenbart George Steiner den Zwiespalt, der jüdische Identität und die Tatsache Bürger Israels zu sein, zu keiner quasi-automatischen Kongruenz verbindet. Er erinnert sich seines Vaters, dessen elitäres Bildungsverständnis genau so in ihm nachwirke, wie seine Skepsis gegenüber direktem politischen Handeln:

"Zumindest in einem Punkt, und zwar in einem, der mir jetzt entscheidend zu sein scheint, mag sich eine solche Zurückhaltung als unverzeihlich erweisen. Ich sprach bereits davon, dass ich Israel als unentbehrliches Wunder empfinde, aber als eines, welches tragisch durch seine Widersprüche zum ethischen, universalistischen Genius des unbehausten Judentums gekennzeichnet ist. Beständig habe ich gefragt, ob ich die tiefste Bedeutung des Judentums mit den Realitäten eines bewaffneten Nationalstaates, der von erbarmungslosen und zynischen Feinden umgeben ist, vereinbaren lässt. Wie ich sagte, muss Israel, wie alle anderen Nationen, foltern, um zu überleben. Doch ist selbst das Überleben eine Rechtfertigung? Kann das Judentum und das moralische Ziel seiner Berufung genesen? Was ich jetzt weiß, ist nur dies: nur diejenigen, die bereit sind, in Israel zu leben, unter der Unmittelbarkeit der Gefahr und an den Orten des Hasses, haben das volle Recht, diese Frage zu stellen, ihre Qual darauf zu richten. Es war zu bequem, vielleicht zu schmeichelhaft für das eigene Ich, der 'idiotische Frager' (Blake) von außen zu sein. Auch hier bin  ich zurückgeschreckt."