Leben und sterben, wo ich hingehöre
Was sollten wir an die Stelle von Schuldgefühlen setzen?
Barbara Bleisch: Die normative Kraft, die uns verpflichtet, sollte das lebendige Interesse aneinander oder, im besten Fall, die wechselseitige Liebe sein. Ich plädiere dafür, nicht von der Schuld, sondern von der Gabe her auf die Familie zu blicken. Wir sollten uns nicht fragen, was wir einander schuldig sind, sondern welche Gründe wir haben, uns umeinander zu sorgen. Zwischenmenschliche Beziehungen sind ja mit das Wichtigste, was wir in unserem Leben haben, weil wir eben gerade keine >solitären Pilze< sind, wie der Philosoph Thomas Hobbes geschrieben hat. Mir geht es darum, zu zeigen, dass die Antwort auf die Frage, was Kinder für ihre Eltern tun sollten, von ihrer Beziehung zu ihren Eltern abhängt und nicht allein am Verwandtschaftsverhältnis liegt. (Barbara Bleisch)
Der folgende Beitrag ist in dieser Form im Rahmen meines Blogs bislang nicht veröffentlicht worden. Er ist vor vier Jahren – 2020 - geschrieben worden, in dem Jahr, in dem meine Schwiegermutter als Letzte aus meiner Elterngeneration verstorben ist. Einiges ist gewissermaßen dem Zeitgeist und der für uns alle seinerzeit sich einstellenden Konfrontation geschuldet, die die Corona-Pandemie mit sich brachte.
Ich stelle den Beitrag heute online, weil mir die darin angesprochene Thematik in Gestalt eines Menschen vor Augen steht, dem ich als Zehnjähriger begegnet bin und der im (wahl-) verwandtschaftlichen Kontext gegenwärtig geblieben ist. Inzwischen, gezeichnet von einem Schlaganfall, wird er zum typischen Pflegefall : Ein Fall, an dem sich exemplarisch aufzeigen lässt, dass die Idee von einem Leben und einem Sterben, dort wo ich hingehöre, schon lange keine Selbstverständlichkeit mehr beanspruchen kann:
„Das dritte Lebensalter wird für die gesellschaftliche Verwaltung zu einer gewaltigen toten Last. Ein ganzer Teil des gesellschaftlichen Reichtums (Geld und moralische Werte) verpufft, ohne dem Alter einen Sinn geben zu können. So wird ein Drittel der Gesellschaft (2030 könnten es bereits zwei Drittel der Gesellschaft sein) in einen Zustand der Sonderung und des ökonomischen Parasitentums versetzt. Die dem Terrain des Todes abgerungenen Gebiete sind verwüstet (Jean Beaudrillard in SHORT CUTS 7, Frankfurt 2003, S. 91f.).“
Die Verwüstung der dem Terrain des Todes abgerungenen Gebiete steht mir eindrücklich vor Augen. Ich habe E. gestern besucht. Es ist so offenkundig, dass wir – um Verwüstung zu vermeiden – etwas benötigen, was Klaus Dörner mit den vier Sozialräumen meint, die nur im Verein miteinander den gesellschaftlichen Reichtum bewahren bzw. pflegen könnten, der sich in unseren Alten manifestiert (siehe weiter unten). Mit ausreichender Pflege und Versorgung die Wartezonen zum Tod zu flankieren reicht eben nicht aus. Fulbert Steffensky mahnt uns zwar zu der Einsicht, dass wir alle sind, weil wir uns verdanken. Er will die Schranken für etwas Selbstverständliches absenken bzw. einreißen, nämlich dass Fürsorge und Versorgung nur in einer gepflegten Umgebung, in der die liebevolle Zuwendung zu spüren und zu greifen ist, unseren Alten gerecht werden kann. Man kann dies im Sinne unser aller Würde erwarten bzw. fordern. Man muss aber gleichzeitig sehen, dass die moderne Gesellschaft mit ihrem grenzenlosen Hang zur Kommerzialisierung und zur Individualisierung die Grundlagen für eine vorbehaltlose wechselseitige Berücksichtigung unserer (Ur-)Bedürfnisse zunehmend schädigt bzw. zerstört. Sind es zum einen schlicht gesellschaftliche Rahmenbedingungen bzw. Erwartungen (Mobilität, Flexibilität), die uns allein schon räumlich trennen von den uns nahen Menschen, so ist es auf der anderen Seite ein häufig damit verbundener Wertewandel, den es zum Beispiel mit Barbara Bleisch genauer zu betrachten und einzuordnen gilt. Es lohnt durchaus die These, warum Kinder ihren Eltern nichts schulden differenziert und aufmerksam zu betrachten. Die Gesellschaft als Ganze stößt im Zuge eines demografischen Wandels, der uns von der Zweidrittel- zur Eindrittel-Gesellschaft mutieren lässt, an Grenzen. Eine Unterbringung im Pflegeheim kostet inzwischen rund € 4000,- (mit steigender Tendenz). Auch im konzertierten Miteinander von Pflegekasse, Angehörigen und Eigenleistungen ist dies bei zunehmender Anzahl der Pflegebedürftigen nicht nachhaltig zu stemmen (auch hier wird es unumgänglich sein, die Reichen und Superreichen sehr viel stärker in die Pflicht zu nehmen!).
Leben und Sterben, wo ich hingehöre? Die Vergreisung der Gesellschaft! Der Mensch ist, weil er sich verdankt! Die Hand halten oder nicht?
Unter diesen Überschriften sind in den letzten vier Heften der von mir redigierten Hefte „Rund um den Laubenhof“ Gedanken zum Alter und zum Umgang mit Alter und alten Menschen in unserer Gesellschaft erschienen (Links dazu nachstehend). Im privaten Raum sind es Zeugnisse zur Sterbebegleitung meiner Mutter oder das Demenztagebuch meines Schwiegervaters, die eindrücklich Zeugnis davon ablegen, was mich umtreibt.
- Ausgabe 1 (Juli 2019) [PDF-Download]
- Ausgabe 2 (Dezember 2019) [PDF-Download]
- Ausgabe 3 ((Mai 2020) [PDF-Download]
- Ausgabe 4 (Dezember 2020) [PDF-Download]
Neben Klaus Dörner (Jahrgang 1933, Psychiater und Altersforscher) standen Jean Baudrillard (1929-2007, französischer Philosoph und Soziologe) und Fulbert Steffensky (Jahrgang 1933, evangelischer Theologe, der – bevor er konvertierte und die evangelische Theologin Dorothee Sölle heiratete – 13 Jahre lang als Mönch in der Abtei Maria Laach gelebt hat) Pate bei diesen Überlegungen. Im Zusammenhang mit den einschneidenden Konsequenzen der Corona-Krise für das soziale Leben und Miteinander in unserem Gemeinwesen sollen einige der Kerngedanken hier noch einmal angesprochen und erweitert werden. Es ist nämlich wiederum Klaus Dörner, der dazu einlädt, einmal T A C H E L E S zu reden, also über bestimmte Entwicklungen unverblümt und rückhaltlos zu sprechen:
- Klaus Dörner: Leben und Sterben, wo ich hingehöre (2007) und Tödliches Mitleid (2002)
Klaus Dörner vertritt in Leben und Sterben, wo ich hingehöre (2007) die Auffassung, es sei an der Zeit, den Prozess der Institutionalisierung, das meint hier die Tatsache, dass immer mehr alte Menschen ihre letzten Jahre in Alteneinrichtungen verbringen, aufzuhalten. Er wünscht sich eine Wiederbelebung der vier klassischen Sozialräume. Damit meint er den familiären Haushalt, die Nachbarschaft, die Kommune und die Kirchengemeinde. Ich habe ihm die Frage gestellt, wovon er den nachts träume. Seit dem Erscheinen seiner Schrift hat der Prozess der Institutionalisierung zugenommen. Dies alles geschieht historisch gesehen in einer Phase, in der sich die Altersstruktur unserer Gesellschaften drastisch verändert. Wir sind – so Dörner – auf dem Weg von der „Zwei-Drittel-Gesellschaft“ in die „Ein-Drittel-Gesellschaft“. 2030 – in zehn Jahren – werde jeder Erwerbstätige auf zwei weitere Menschen treffen, die essen, wohnen und im Alter betreut und gepflegt werden wollen/müssen. Wir werden also in unseren Gesellschaften immer mehr alte Menschen haben:
„Wie auch immer, jedenfalls kosten alte Leute mehr Geld als junge. Ohne noch etwas dafür zu leisten, verbrauchen sie das Geld der Rente oder Sozialhilfe, vor allem wenn sie in dem ständig expandierenden System von Altenpflegeheimen oder Pflegeheimen teuer betreut und verwahrt werden müssen… es wächst der Druck, alte Leute, wenn sie nicht mehr alleine zurechtkommen, in Pflegheimen zu konzentrieren (Tödliches Mitleid, Neumünster 2002, S. 98f.).“
Klaus Dörner spricht 2002 bereits von einem „Gesundheitsdilemma“, wobei die Politik mehrheitlich auf eine Problemlösung im Sinne betriebswirtschaftlicher Rationalisierung und Ökonomisierung setze. Das Zauberwort laute seit mehr als dreißig Jahren „Privatisierung“. Die Konsequenzen sind für uns alle spürbar. Die Kosten für die Pflege sind – trotz Pflegeversicherung – vollkommen aus dem Ruder gelaufen. Und es sind nachhaltige Zweifel daran erlaubt, ob die gegenwärtig diskutierte steuerfinanzierte Deckelung der privaten Kostenanteile für die Pflege auf € 700,- ein Hirngespinst ist und nicht viel eher dazu taugt, die Verteilungskämpfe zwischen den Jungen und den Alten in ein neues Licht zu rücken. Um Klaus Dörner gerecht zu werden, möchte ich ihm hier noch einmal das Wort geben, das sich – wenn auch schon vor Jahren formuliert – gegen Entwicklungen stemmt, wie sie gegenwärtig in Schweden zu beobachten sind (siehe weiter unten):
„Für mich hat es etwas Tröstliches, dass wir für die heutige Form der ‚sozialen Frage‘ nun zumindest sagen können: Wir bewegen uns in einem Feld unterschiedlicher, auch gegensätzlicher Kräfte, in dem jeder von uns wählen kann, welche Seite er stärken will; und der Staat ist allmählich von uns aktiv zu prüfen, ob das Ausmaß seines Rückzugs vom Sozialen noch verfassungskonform sei. Denn das Grundgesetz verpflichtet den Staat zum Schutz nicht nur der rechtlichen, sondern auch der sozialen Würde jedes Menschen – vom Letzten her (in: Tödliches Mitleid, S. 236).“
- Jean Baudrillard: Die Vergreisung der Gesellschaft (1976)
Jean Baudrillard verstört schon in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts mit der These, dass eine verlängerte Lebenserwartung zu einer Diskriminierung des Alters führe. Im Mittelpunkt steht seine Überlegung, dass der Sieg der Wissenschaft – mit der an sich positiven Folge einer deutlichen Erhöhung der Lebenserwartung – zu Widersprüchen führe:
„Das dritte Lebensalter wird für die gesellschaftliche Verwaltung zu einer gewaltigen toten Last. Ein ganzer Teil des gesellschaftlichen Reichtums (Geld und moralische Werte) verpufft, ohne dem Alter einen Sinn geben zu können. So wird ein Drittel der Gesellschaft (2030 könnten es bereits zwei Drittel der Gesellschaft sein) in einen Zustand der Sonderung und des ökonomischen Parasitentums versetzt. Die dem Terrain des Todes abgerungenen Gebiete sind verwüstet (in der Ausgabe Short cuts, Frankfurt 2003, S. 91f.).“
Exkurs: Zu der drohenden „Verwüstung“ passt ein kleiner Ausflug ins aktuelle Schweden:
Dietmar Pieper: Der eingeladene Tod – Schweden: Warum das Corona-Desaster in den Pflegeheimen eine Vorschau auf die deutsche Zukunft sein könnte
Unter diesem Titel hat der SPIEGEL in seiner Ausgabe 42/2020, S. 96-97) einen Artikel veröffentlicht, der den schwedischen Sonderweg in einem erschreckenden Licht erscheinen lässt. Pieper schreibt, der Tod wurde in Schweden geradezu eingeladen: „Es begann mit den gravierenden Mängeln in den Alten- und Pflegeheimen. Dann fiel dort oft die Entscheidung, palliative Sterbebegleitung zu verordnen, statt Kranke in die Klinik zu schicken. Und selbst im Krankenhaus mussten Ärzte offenbar aussichtsreiche Behandlungen verweigern.“ Dietmar Pieper mutmaßt, dass Schweden Ländern wie Deutschland nur einige Schritte voraus seien. Er zitiert den Stockholmer Autor Marcus Priftis: „Wir leben in einer Peter-Pan-Kultur, in der Jugend verherrlicht wird und das Altwerden als eine Verschlechterung mit wachsender Demenz gilt.“ In Piepers Artikel ist weiter zu lesen, dass Schweden zu den Ländern zähle, in denen ältere Menschen eher gering geschätzt werden: „Danach betrachten kaum mehr als 20 Prozent im Land die über Siebzigjährigen mit Respekt, weniger als in den meisten anderen in einer Studie untersuchten Länder (Pieper stützt sich auf eine internationale sozialwissenschaftliche Untersuchung).“ Wir empfinden die Corona-Pandemie als Mikroskop, das latente gesellschaftliche Problemlagen mit besonderer Schärfe in Erscheinung treten lässt. Pieper schließt seinen Artikel mit dem Hinweis ab, dass die Frage, wie lange Alte leben dürften und wann sie besser sterben sollten, nicht nur während der Corona-Pandemie im Raum stehe: „Die gesundheitsökonomischen Modelle, mit denen die Kapazitäten des Gesundheitswesens berechnet werden, handeln letztlich von nichts anderem: Wem werden medizinische Ressourcen zugeteilt? Und wem nicht?“
Klaus Dörner und viele andere weisen darauf hin, dass die aktuelle Revision der Sterbehilfe durch das Bundesverfassungsgericht, die den assistierten Suizid auf der Grundlage des erklärten Sterbewillens des Sterbewilligen straffrei stellt, unter solchen Vorzeichen in ihrer ganzen Ambivalenz betrachtet werden müsse.
- Fulbert Steffensky: Der Mensch ist, weil er sich verdankt! (2007)
Steffenskys Annahme, dass der Mensch ist, weil er sich verdankt, beruht auf einer unausgesprochenen Voraussetzung, nämlich dem Vertrauen in eine funktionierende Solidargemeinschaft, in der die Jungen für die Alten sorgen, so wie die einstmals jungen Alten für ihre Kinder gesorgt haben. Wie schon Dörner argumentiert, bedarf es hierzu funktionierender Sozialräume. Nach wie vor steht hier die Familie als der primäre Sozialraum im Mittelpunkt; als das Zentrum, in dem nicht nur Fürsorge, sondern auch liebevolle Zuwendung die Grundlagen für ein gelingendes Leben garantiert. Steffensky schreibt, dass die Bedürftigkeit den Grundzug aller Humanität ausmache. Wir Menschen wüssten um unsere Bedürftigkeit: „Der Mensch weiß, dass er sich nicht selbst gebären und vollenden kann. Es braucht Väter und Mütter, es braucht Kinder und Enkel.“ Der Mensch müsse sich auf mehr berufen können als auf den eigenen Witz und die eigene Stärke.
Hartmut Rosa, ein deutscher Soziologe, hat dazu geschrieben, dass die Sucht nach Resonanz sich bündele in der Vorstellung einer intakten und wohlbehüteten Kindheit wie in einem Brennglas (Hartmut Rosa: Resonanz, Berlin 2019, hier Seite 350): „Die Familie wird als der Resonanzhafen konzeptualisiert, in dem sich Kinder geliebt, gemeint, getragen und geborgen fühlen können; sie verdienen alle Liebe ihrer Eltern (und der übrigen Verwandten).“ Säuglinge und Kleinkinder – Kinder überhaupt – sind elementar darauf angewiesen, dass ihr Umfeld sie trägt und buchstäblich die Hand über sie hält. Dies gilt – folgt man seinem Gefühl und Fulbert Steffensky – im Umkehrschluss eben auch für die Alten, die nicht mehr alleine für sich selbst sorgen können. Sie geben sich aus der eigenen Hand in die fürsorglichen Hände der ihnen Nächsten. Und wenn es die Nächsten in Gestalt einer intakten Familie nicht (mehr) gibt, dann treten die nachgeordneten Sozialräume ein; neben der Nachbarschaft, der Kommune auch die Kirchengemeinde. Führt der Weg irgendwann in eine Pflegeeinrichtung, so hängt so Vieles entscheidend davon ab, dass die entsprechende Einrichtung als offener Raum erscheint, in dem jederzeit Begegnung möglich ist.
- Die Hand halten oder nicht?
Im letzten Heft, das zu Beginn der Corona-Pandemie und mitten im Lock-down erschienen ist, sind wir mit Peter Dabrock, dem seinerzeitigen Vorsitzenden der Deutschen Ethikrats und Klaus Mertes, Deutschlands bekanntestem und profiliertesten Jesuiten, der Frage nachgegangen, auf welche Weise Begegnung und damit Resonanzräume in Pflegeheimen eingeschränkt bzw. ermöglicht werden müssten (Kontroverse in der ZEIT 15/20, S. 19). Wir haben – auch im Laubenhof – aufgrund der verhängten und immer wieder aktualisierten Landesverordnung eine Phase der totalen Kontaktsperre erleben und ertragen müssen. Erst im Mai war dann zumindest Begegnung gewissermaßen über den Zaun bzw. im Rahmen körperloser, durch Trennwände abgeschotteter Räume möglich.
Da ich nicht für andere argumentieren kann, aber vermute, dass andere ähnliche Erfahrungen gemacht haben, möchte ich hier nur andeuten, dass das von Dabrock und Mertes kontrovers gelöste Dilemma unter dem Motto: Die Hand halten oder nicht? für viele Menschen außerordentlich schmerzliche Formen angenommen hat. Alle Voraussetzungen, die oben für die liebevolle Zuwendung innerhalb verwandtschaftlicher oder wahlverwandtschaftlicher angedeutet worden sind, waren mit einem Mal vollkommen vernichtet. Alte Menschen und demente alte Menschen wurden während des Lock-downs infolge einer totalen Kontaktsperre isoliert. Die Nabelschnur, die für viele Heiminsassen in der alltäglichen Begegnung mit ihren Liebsten bestand, war radikal abgeschnitten. Bei allem Dank an das Pflegepersonal und den Sozialdienst, dürfte deutlich werden, dass nun für viele alte – und im Übrigen auch vom Alter unabhängig – pflegebedürftige Menschen ein persönliches Drama fürchterlichen Ausmaßes seinen Gang nahm. Peter Dabrock machte in Übereinstimmung mit Klaus Mertes in der Kontroverse zum Schluss den Vorschlag über konstruktive Lösungen nachzudenken:
„Es wäre doch möglich, dass man Heime neu aufteilt. Also in Teile, in denen Bewohner auf eigenen Wunsch abgeschottet leben, und in Teile, in denen Bewohner unter Inkaufnahme aller Risiken soziale Kontakte erleben können. Ich nehme ja diejenigen ernst, die sagen: Was hilft es mir wenn ich drei Monate länger lebe, aber das drei fürchterliche, einsame Monate sind.“
Für meine Schwiegermutter waren es während des Lock-downs mit totaler Kontaktsperre fürchterliche und einsame Wochen. Sie ist am 6. August – nicht durch, aber auch an Corona – verstorben, zu einer Zeitphase, in der Begegnung und letztlich dann auch Sterbebegleitung wieder möglich waren.
Es ist hier genau die Stelle noch einmal dem gesamten Laubenhof-Team unter der Leitung von Herrn Klein und Frau Kölinger zu danken für das, was sie unter den einschränkenden Vorgaben der jeweiligen Landesverordnungen geleistet haben. Gleichwohl müssen wir uns mit Klaus Dörner, Jean Baudrillard, Fulbert Steffensky, Peter Dabrock, Klaus Mertes und Dietmar Pieper all den drängenden Fragen stellen, die sich mehr und mehr stellen im Umgang mit Alter und den Alten in unserer Gesellschaft. Ich bin selbst 68 Jahre alt und schaut man sich den Vorstand unseres Fördervereins an, dann weiß man, dass hier auch in eigener Sache geschrieben wird. Dazu gestatte ich mir eine letzte Bemerkung mit der Frage, worauf wir Alten eigentlich unsere Erwartung stützen, dass sich die Jungen mit uns solidarisch zeigen sollen? Bernd Ulrich hat uns alle bereits am 22. März 2020 (ZEIT 13/20, S. 13-14) eine entsprechende Mahnung ins Stammbuch geschrieben:
„Corona ist umfassender. Als hätte die Klimakrise beschlossen, zwecks Beschleunigung und besserer Wahrnehmung zum Virus zu werden. Wie wird die Rückkehr aussehen zu einer wie auch immer dann gearteten Normalität. Wie viel von dem, was wie eine Tatsache aussah, war dann bloß Konvention: nicht unabdingbar, sondern Luxus. Was bewirkt diese Erfahrung, wie verändert sie das Lebensgefühl?“ Und fragt er weiter, was wird wohl die Schlussfolgerung aus all dem sein? „Nachholende Gier, Wachstum auf Teufel komm raus. Oder eine Freiheit, gespeist aus der Erfahrung des Überlebbaren Weniger?“ Es ist derselbe Bernd Ulrich, der in diesem Beitrag mit Blick auf die Zukunft (die nun schon da ist) feststellt: „Es geht nicht, wird niemand mehr sagen können. Man wird sagen müssen: Wir wollen nicht, verdammt noch mal, wir wollen einfach nicht.“ Denn: „Diese verdammte Krise hat einen Möglichkeitsraum eröffnet.“
Wenn also all unsere Bemühungen – auch die immense Verschuldung zulasten kommender Generationen einen Sinn und eine Perspektive haben sollen, dann gewiss nur, wenn es uns gelingt, aus der schnellen pandemischen Krise heraus die Impulse zur Abwendung der drohenden Klimakatastrophe abzuleiten.
Vor vier Jahren konnten wir – trotz der Pandemie – durchaus optimistischer in die Zukunft schauen: jenseits des drastisch zunehmenden Verfalls politischer Kultur, die inzwischen von Despoten, Kriegsverbrechern und verurteilten Straftätern geprägt wird. Aber das ist ein anderes Thema.