Drucken

"Wir! sind! Weltmeister!" - Rhein-Zeitung vom 14.7.2014

 

Montag, 14.6.14

sms von Winfried Rösler, einer der kompetentesten Fußballkenner in meinem Freundeskreis:

„Das war ja wohl ein Ding – habe mit zunehmender Spieldauer vor lauter Nervosität immer weniger auf die Taktik und so achten können. Argentinien bärenstark. Nach dem Wechsel von Kramer zu Schürrle hat – soweit ich sehen konnte – Schweinsteiger ganz allein die Doppel-Sechs spielen müssen, da Kroos nach seinem Aussetzer nicht so die zentralen Funktionen einnahm, wie gewohnt. Das Ding mit Götze war natürlich ein Märchen. Vom einst hochgelobten Star fast zum Außenseiter und Edelreservisten und dann zum genialen Stürmer. Sein wundervolles Tor hat mich an eine WM-Tor von Pelé erinnert – der stand damals nicht links, sondern rechts: Annahme mit der Brust und mit rechtem Fuß den Ball gespielt; nur war es diesmal 30 Jahre später, alles rasanter, und auch der Durchmarsch von Schürle nach der langen Spieldauer eigentlich nicht zu fassen – beste Grüße

Winfried

Meine Antwort:

Ja, das war fast eine komplementäre Verschiebung zwischen Kroos, der sicherlich nicht sein bestes Spiel gemacht hat – und Schweinsteiger, der seine kompletteste Leistung gezeigt hat: als Antreiber, als Stratege, als Retter, aber vor allem als KÄMPFER – das war eine Heldengeburt aus Leidenschaft und Blut! Und doch bleibt alles Nichts und unvollendet, wenn nicht Schürrle allen Mumm zusammennimmt, sich gegen zwei Gouchos mit seinem schwächeren linken Fuß zu einer überaus präzisen Flanke aufschwingt und Götze in einem genialen Moment all das auf den Punkt bringt, was einem „Wunderkind“ ins Stammbuch geschrieben scheint und dabei ABSOLUTE Fußballgeschichte schreibt!!! Du siehst, es reißt mich immer noch hin und her. All die „Fehlleistungen“ nach hinten (Toni Kroos) und nach vorne (Höwedes und Schürle im Abschluss) verblassen vor einer Mannschaftsleistung, die zu Recht und ohne jedes „wenn und aber“ vom vierten Stern geadelt und belohnt worden ist J

Ich habe die sms dann an einige Fußballverrückte und –sachverständige weitergeleitet. Auch wenn Herbert (Wackermann) mir weitgehend zugestimmt hat, leitete er mir einen Link weiter, über den ich dann heute die Kolumne von Jakob Augstein (SPIEGEL ONLINE Politik) lesen konnte. Und das hat mich dann so richtig in Harnisch gebracht, weil mir die sachlich nicht gerechtfertigten und historisch kritikwürdigen – weil ideologisch motivierten – Anleihen à la Augstein ziemlich auf den Zeiger gehen:

Nein, Jakob Augstein, nein! Oder: Wie ich vom sachlichen Kritiker zum Ideologen mutiere – Eine Replik auf Jakob Augsteins Kolumne: Schlacht, Sieg, Verantwortung

Bei aller sachlich nachvollziehbaren Kritik an Gaucks und Merkels, insbesondere aber Frau von der Leyens verteidigungspolitischen Fragwürdigkeiten, gehen Sie entschieden zu weit in ihren aberwitzigen Analogien und Assoziationen:

„Grotesk verdrehte Männerkörper fliegen durch die Luft, als wäre eine Mörsergranate neben ihnen eingeschlagen… blutend geht Bastian Schweinsteiger vom Platz. Aber es hält ihn nicht an der Seitenlinie. Er muss zurück zu seinen Kameraden an die Fußballfront. 35 Millionen Deutsche sehen eine sportliche Version von ‚Steiner – Das Eiserne Kreuz‘ und der Moderator sagt: ‚So tief kommen wir gar nicht runter, wie wir uns vor Bastian Schweinsteiger heute verneigen müssen‘.“

Und:

„Von wegen postheroisches Zeitalter. Die Fußballübertragung eines Meisterschaftsspiels widerlegt die These vom Ende der Heldenverehrung. Ein solches Fußballspiel ist eine historische Schlacht. Rio, das war wie Königgrätz, und Marion Götze ist plötzlich aufgetaucht, wie weiland der Dritte Heeresgruppe, um das Kriegsglück für die Deutschen zu wenden.“

Wir müssen mit Ihnen, Jakob Augstein, wieder all das zwanghaft vermischen und bemühen, was sich in anderen Ländern (teils hoheitlich verordnet) – siehe Argentinien, Ghana, Kolumbien, Algerien uns sonst wo – in unverstellter Hybris und überbordender chauvinistischer Haltung selbstverständlich Bahn bricht; in den jeweiligen Massenmedien und in einer fanatisierten Öffentlichkeit. Jakob Augstein, Sie sind es, der „Steiner – Das Eiserne Kreuz“ bemüht. Sie lassen die „Mörsergranate“ in uns einschlagen. Sie lassen „Königgrätz“ aufleben, Sie lassen die „Dritte Heeresgruppe“ aufmarschieren.

Was haben wir denn gesehen – in einer Zeit die wir zu Recht und kleinmütig „postheroisch“ nennen?

Ja, wir haben einen kämpfenden, blutverschmierten Bastian Schweinsteiger gesehen. Aber die Assoziation von „Blut und Boden“ – Gott und den Rasentechnikern sei Dank, ein weicher, flauschiger Rasenboden – ist Ihre suggestive Assoziation, Jakob Augstein. Bastian Schweinsteiger ist wieder aufgestanden und lacht erschöpft und siegestrunken Minuten später in die Kameras einer internationalen Presseöffentlichkeit. Und niemand muss – wie bei Sam Peckinnpah oder bei Steven Spielbergs „Saving Private Rayn“ – durch blutgetränkten Boden waten. Es sind deutsche Nationalspieler, die ganz und gar unheroisch, dafür aber mit Begabung und durch Trainigs-Fleiß ausgebildeter Technik-, Taktik- und Ausdauer-Haltung beeindrucken und begeistern.

Lieber Jakob Augstein, die Frage sei erlaubt, ob Sie jemals einen Ball mit ihren eigenen Füßen bewegt haben??? So wie Herbert (Wackermann) oder Detlef (Knopp), so wie ich und viele andere, die wir jahrelang in einer Uni-Halle am Sonntagmorgen - ohne Publikum!!! - in Verzückung geraten, weil wir für unsere Verhältnisse Geniales leisten; einen 40-Meter-Pass präzise schlagen, einen unmöglichen Ball aus der Drehung (zugegeben bei einem bierdeckelgleichen Aktionsradius) im Winkel des Handballtores versenken, nach einem gelungenen Doppelpass uns selbst beklatschen???

Nein, vermutlich haben Sie von all dem keine Ahnung. Und ob es Ihnen wohl gelingen würde, das Trikot eines verletzten (vielleicht gemobbten) Redaktionskameraden in die Kamera zu halten und damit ein Stück Luhmannscher "Selbstdesinteressierung" zu leisten? So wie es die deutsche Mannschaft nach dem peinlichen 1:7 Desaster Brasiliens gegenüber der brasilianischen Mannschaft (fast wie selbstverständlich) an den Tag gelegt hat! Können Sie sich vorstellen, was in Argentinien, in Mexiko oder Uruguay oder anderswo an Häme über Brasilien ausgeschüttet worden wäre?

Mir gehen die Deutschtümelei, die Außenspiegelpräser und die fahnen- und wimpelverzierten Insignien als Zeichen nationaler Identität ziemlich auf den Nerv. Aber dieses Deutschland ist nicht angemessen typisiert mit dem idiotischen Versuch, immer wieder und immer wieder die Insignien nationalsozialistischer Terrorherrschaft mit einem naiven Nationalbewusstsein gleichzusetzen. Was wollen wir denn eigentlich mehr, als die überzeugende Verbannung aller chauvinistischen, beleidigenden und herabsetzenden Haltungen aus der - selbst politisch motivierten - Teilhabe an sportlichen Erfolgen? Wie ungemein (tiefen-)entspannt und wenig "stellvertretend" wirk(t)en da die Auslassungen eines Trainerstabs und einer Spielerelite, die sich nicht ein einziges Mal haben missbrauchen lassen als Ikonen eines national motivierten Chauvinismus - und die im Übrigen auch als "Multi-Kulti-Truppe" zutiefst überzeugt hat: mit polnischen, türkischen, albanischen, tunesischen, ghanaischen und sogar bayrischen Wurzeln!

Lieber Jakob Augstein, kommen Sie doch mal zu uns nach Güls und schauen Sie in unser Gölser Blättche, wo auf Seite 1 der aktuellen Ausgabe vom 7.7.2014 namentlich der Weg, die Unterstützung und die bescheidene alltägliche Wertschätzung der bei uns lebenden Asylsuchenden - koptische Christen aus Ägypten - beschrieben und begleitet wird, nicht ohne die problematischen Neben- und Hauptwirkungen unseres Asylrechts zu kritisieren und Besserung anzumahnen. Im Großen und Ganzen verfehlen Sie mit Ihrer Argumentation einen spürbaren, wenn auch holprigen Wandel kultureller Identität(en) in Deutschland.

Es könnte sein, dass Sie mit Ihren Assoziationskriegen mehr Unheil anrichten als Millionen bekloppter Deutscher, die "Wir sind Weltmeister" intonierend hupend und grölend durch die nächtlichen Straßen fahren und mir den wohlverdienten, weltmeisterlichen Schlaf rauben.

 

 

P.S.: Die im folgenden von Peter Sloterdijk in Anlehnung an Niklas Luhmann gewonnene Einsicht ist für die Befriedung zwischenmenschlicher, innergesellschaftlicher und bi- bzw. mulitlateraler Konflikte fundmental. Wo sie das Denken und Handeln der Menschen nicht erreicht - insbesondere in allen fundamentalistisch-totalitär sich gerierenden Bewegungen - sind unerbittliche und unversöhnliche Konflikte die Folge:

Die Entbindung der ungeheuerlichen Gewaltexzesse im 20. Jahrhundert und ihre Fortsetzung bis in die Gegenwart hinein schreibt Sloterdijk nämlich in Anlehnung an die Luhmannsche Haltung der „Selbstdesinteressierung“ dem allen Weltbeschreibungen erster Ordnung inhärenten Paranoia-Potential und dem von ihm gebundenen und entbundenen Gewaltpotential zu: „Wo immer Menschen anfangen, ihre Weltbilder distanzlos zu bewohnen und ihre Einteilungen des Seienden im ganzen als eine Arena realer Kämpfe zu erleben, dort sind sie der Versuchung ausgesetzt, für ihre Identitätskonstrukte bis zum bitteren Ende zu kämpfen und für ihre Fiktionen zu töten.“