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Karl Otto Hondrich - ein Weiser aus dem Abendland

Wie beginnt man die Auseinandersetzung mit einem Text, von dem man die dumpfe Ahnung hat, dass er den eigenen Horizont auf eine Weise weitet, dass sich da noch einmal etwas Originelles, etwas Überraschendes ereignet? Karl Otto Hondrichs Aufsatz: Der genoptimierte Mensch – und sein soziales Erbe umfasst 15 überschaubare Seiten (in: Karl Otto Hondrich, Der Neue Mensch, Suhrkamp, Frankfurt 2001, Seite 163-178). Hondrich, geboren 1937 in Andernach, schreibt ja nicht mehr. Er kann in dieser Welt nicht mehr schreiben. Er ist im Alter von nicht einmal 70 Jahren 2007 gestorben. Beim Lesen des erwähnten Aufsatzes aus dem Jahre 2000 habe ich den Eindruck, dass die vergangenen 25 Jahre mit Blick auf die Genoptimierung uns noch einmal einen enormen Schub von Innovationen beobachten lassen:

Bar jeder fachlichen Kenntnisse ahnt auch der Laie, dass beispielsweise die die sogenannte CRISPR/Cas-Methode solche innovativen Schübe repräsentieren - Wikipedia-Eintrag:

Die CRISPR/Cas-Methode (von englisch Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats – gruppierte kurze palindromische Wiederholungen mit regelmäßigen Abständen und CRISPR-associated – CRISPR-assoziiertes Protein) ist eine molekularbiologische Methode, um DNA gezielt zu schneiden und zu verändern (Genome Editing)Gene können mit dem CRISPR/Cas-System eingefügt, entfernt oder ausgeschaltet werden,[1] auch Nukleotide in einem Gen können geändert werden.[2] Aufgrund der einfachen Durchführung, der Skalierbarkeit hinsichtlich unterschiedlicher Zielsequenzen und der geringen Kosten wird die CRISPR/Cas-Methode zunehmend in der Forschung eingesetzt.[3][4] Gleichzeitig gibt es beim aktuellen Stand der Forschung noch Probleme bei der Spezifität durch off-target-Effekte, also Auswirkungen am Genom außerhalb der Schnittstelle.

Die wissenschaftliche Grundlage zur Entwicklung der CRISPR/Cas-Methode wurde durch die Entdeckung und Erforschung der CRISPR-Sequenzen und des damit verbundenen CRISPR/Cas-Systems im Immunsystem verschiedener Bakterien und Archaea gelegt. Die erste wissenschaftliche Dokumentation zur Entwicklung und zum Einsatz der Methode wurde 2012 durch eine Arbeitsgruppe um Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna veröffentlicht. Die wissenschaftliche Fachzeitschrift Science erklärte die CRISPR-Methode zum Breakthrough of the Year 2015.[5] Für ihre Arbeiten an der CRISPR/Cas-Methode wurden die beiden Wissenschaftlerinnen mit dem Nobelpreis für Chemie 2020 ausgezeichnet.

Karl Otto Hondrich hatte eine klare Vorstellung von den bevorstehenden Innovationen. Er sah um die Jahrtausendwende, dass sich im ewigen Streit zwischen den Vertretern der >Umweltthese< und Vertretern der >Anlagethese< die Gewichte verschieben. Die traditionellen Vorannahmen seien so nicht mehr aufrecht zu erhalten:

„Als umweltbedingte, kulturell lernfähige Wesen können sich Menschen ändern und geändert werden; als Träger eines genetischen Erbes müssen sie sich hinnehmen, wie sie sind.“

Immer deutlicher wird wohl, dass wir nicht länger Gefangene unserer Gene sind: „Wer Menschen ändern will, setzt den Hebel bei seinen Genen an, nicht bei der Gesellschaft.“

Die fünfzehn Seiten dicht geschriebenen Textes lassen sich nur sehr bedingt verkürzen oder zusammenfassen. Man muss Hondrichs Text im Grunde genommen zur Gänze lesen und durcharbeiten. Dies allein, um die beiden folgenden fundamentalen Feststellungen Hondrichs in ihrer Tragweite erkennen zu können. Eine andere Frage bleibt letztlich, welche Reichweite Karl Otto Hondrichs Grundannahmen prinzipiell und perspektivisch auf Zukunft bezogen beanspruchen können. Karl Otto Hondrich behauptet:

Stärker als die Gesetze der Genetik sind die der Soziologie.“ (Seite 174)

Die zweite Grundannahme enthält sozusagen (in autologischer Weise) eine essentielle Selbstbeschreibung dessen, was wir seit Emile Durkheim unter Soziologie verstehen:

Genetisch kann aber nie zwischen Personen eingegriffen werden, sondern immer nur in die Keimbahn des Individuums oder einer Zahl von Individuen.“ (Seite 171)

Karl Otto Hondrich veranstaltet in der Folge und um diese Grundannahmen herum ungewöhnliche Gedankenexperimente. Er leitet sie mit der simplen Frage ein, wie denn der gentechnisch verbesserte Mensch aussehen und über welche Eigenschaften er verfügen sollte?

„Wie der gute, der Neue Mensch sein soll, ist so umstritten nicht. Liebevoller, weniger aggressiv, und gewalttätig als der real existierende Mensch soll er sein; sich als Weltbürger den anderen gleich fühlen und nicht nach Gruppenzugehörigkeit diskriminieren, in offener Kommunikation soll er Wissen und Bewußtsein erweitern und nicht verdrängen; selbst, aber nicht selbstsüchtig soll er sein Leben bestimmen. Das Ganze kann, als moderate Version des vernünftigen Menschen, in unseren Breiten mit einem hohen Maß an Zustimmung rechnen.“ (Seite 165)

Die Frage, die nun stets begleitend gestellt wird, lautet: „Aber bedeutet dies auch eine entsprechende Besserung des sozialen Lebens?“

Zuvor und immer wieder spitzt Karl Otto Hondrich die fiktive Annahme einer idealen Gesellschaft zu:

„Nehmen wir an, es sei – genetisch oder erzieherisch gelungen, den Menschen zum Lamm zu machen, und zwar alle Menschen gleichermaßen. Aber gerade eine Menschheit, die auf höchste Harmonie und Gleichheit eingestimmt ist, wird ebendadurch höchste Sensibilität für die geringsten Disharmonien und Ungleichheiten zwischen den Kulturen entwickeln. >Man stelle sich eine Gesellschaft von Heiligen, ein vollkommenes und musterhaftes Kloster vor. Verbrechen im heutigen Sinn des Wortes werden dort unbekannt sein; dagegen werden Vergehen, die dem Durchschnittsmenschen heute verzeihlich erscheinen, dort dasselbe Ärgernis erregen wie gemeine Verbrechen<, schrieb der Gründervater der Soziologie, Emile Durkheim, vor 100 Jahren.“ (Seite 172)

Wenn der ideale Mensch zur Normalität geworden sei, werde das, was heute als normal gelte, als Verbrechen oder Gewalt definiert und geächtet werden:

„Jede Verbesserung zieht das Üble nach sich. Diese Dialektik läßt sich genetisch nicht stoppen. Sie folgt einem stärkeren, einem soziologischen Gesetz.“ (Seite 172)

Wie kann man diese These überzeugend exemplifizieren? Beginnen wir mit einem Aua-Beispiel, das zumindest denjenigen eingehen wird, die Eltern sind. Früh schon habe ich selber im Übrigen die Scheidung von Eltern-Sein und Nicht-Eltern-Sein – aus welchen Gründen auch immer – als das Schisma schlechthin begriffen, das den Erfahrungsraum, den Habitus und das Weltbild von Menschen zutiefst unterscheidbar macht. Hören wir Karl Otto Hondrich:

„Wenn unsere zur Sanftmut erzogenen Kinder sich unterm Weihnachtsbaum die Augen auskratzen – ist bei der Erziehung vielleicht doch etwas falsch gelaufen, das durch ein gentechnologisch flächendeckendes Programm: >Aggressionsfreiheit für alle<, endlich ausgebügelt werden könnte? Je erfolgreicher dieser Versuch wäre, desto mehr würde er zeigen: Auch die gleichermaßen auf Friedfertigkeit programmierten Kinder müßten sich beim Aufbau ihrer eigenen sozialen Beziehungswelt voneinander und von ihren Eltern lösen. Das geht nicht ohne Wehtun und Konflikte. Je höher die Ansprüche an das >Liebsein< gespannt und auch erfüllt werden, desto eher werden schon kleine Kratzbürstigkeiten und Absatzbewegungen als Lieblosigkeit oder Aggression wahrgenommen.“ (Seite 170)

Kurze persönliche Einlassung: „Mein einziges Schwänzchen verlässt mich“ – so meine Schwiegermutter zu ihrer Tochter, als sie 1978 (im Alter von 22 Jahren!!!) eine Wohngemeinschaft mit einer Kommilitonin in derselben Stadt, etwa sechs Kilometer Luftlinie entfernt, begründete. Den ersten Urlaub in männlicher Begleitung kommentierte sie ungleich aggressiver und unduldsamer Weise mit einem abwertenden und beleidigenden Kommentar, den ich mich hier wiederzugeben scheue. (Ich weiß dies im Übrigen nur aus Erzählungen, da ich zu dieser Zeit noch an anderen Beziehungsfronten einen aussichtslosen Kampf um ein wenig Autonomie führte).


Das Beispiel dient lediglich dazu, uns Ältere daran zu erinnern, wie sehr Karl Otto Hondrich gewissermaßen mit dem Vermerken von Trivialitäten unsere eigenen Erfahrungen als Kinder und als Eltern auf den Punkt trifft. Es gibt ein weiteres Beispiel, dass ich in Anlehnung an Peter Fuchs und Peter Sloterdijk vielfach beschrieben habe. Auch Karl Otto Hondrich bemüht es, um neuerlich die These zu untermauern, dass „geteilte moralische Gefühle oder Regeln und die aus ihnen entstehenden Spannungen die stärkste Kraft des sozialen Lebens“ repräsentieren – „stärker als geteilte Güter, Kapitalien, Machtlagen“:

„Wenige grundlegende moralische Regeln – der Vorzug des Vertrauten vor dem Fremden, >Wie du mir, so ich dir<, die Tabuisierung des Heiligen – werden von allen Menschen geteilt. Viele moralische Gefühle werden von wenigen geteilt; sie sind kulturell, national, familial, verschieden. Unablässig, unweigerlich und meist unbewußt und ungewollt teilen wir die Welt in Zugehörige und Ausgeschlossene: Als Liebespaar teilen wir das Kissen – und schließen den Rest der Menschheit, auch die Verwandtschaft, aus. Als Sozialstaatsbürger teilen wir Ansprüche an das Sozialprodukt und staatlichen Schutz mit 80 Millionen Deutschen und Zuwandern – und schließen 5,9 Milliarden Menschen aus (Hondrich schreibt 1999 – daher überholtes Zahlenwerk, Anm. FJWR). …] Als Surfer im Internet teilen wir Hochgefühle modernsten Weltbürgertums mit vielleicht einem Prozent aller Menschen – und schließen die 99 Prozent, die keinen Zugang zu Computer und Netz haben, aus.“ (Seite 173f.)

Karl Otto Hondrich vertritt die Auffassung, dass die soziologischen Mühlen des Teilens und damit die Produktion von konfliktträchtigen kollektiven Identitäten weitergehen – „unbeeindruckt vom Coup der philosophisch angeleiteten Gentechnologen einer moralischen Aufqualifizierung der Gesamtmenschheit“.

Stärker als die Gesetze der Genetik sind die der Soziologie. Sie entspringen nicht nur Knappheitsbeziehungen, sondern Beziehungen zwischen den Menschen schlechthin.“ (Seite 173)

Ich greife noch einmal auf Hondrichs Anleihe bei Emile Durkheim zurück, weil an diesem Beispiel die Grundannahmen Hondrichs so greifbar werden:

„Durkheims Gemeinschaft der Heiligen, die ja, heute mittels modernster Technologie, die höchsten moralischen Standards teilen würde, würde diese doch nicht mit anderen Gemeinschaften teilen: Der Konflikt zwischen Innen und Außen, zwischen >Uns< und >Ihnen< wäre vorprogrammiert. Gäbe es kein Außen, dann würde es die Heiligen-Gemeinschaft aus sich heraus schaffen. Und zwar mit altbekannten Vorgängen: Wer auch nur ein bißchen schneller arbeitet, kürzer betet, mehr ißt oder sich unfreundlicher mitteilt, als es die höchsten moralischen Regeln vorsehen, wird zum Außenseiter (und möglicherweise zum Nukleus einer abweichenden Gemeinschaft).“ (Seite 174)

Und nun bekommt auch Jürgen Habermas noch sein Fett weg, und ohne Niklas Luhmann zu erwähnen, huldigt Karl Otto Hondrichs seinem nüchternen Verständnis von Kommunikation und ihren Grenzen:

„Wenigstens könnteman die Menschen durch moderne genetische Auslese klüger machen, wissender, bewußter, reflektierender, vernünftiger. Mit anderen Worten: Es würde sich ihnen mehr mitteilen, und auch sie selbst könnten sich besser mitteilen. Das Wunschbild einer Menschheit mit höchster kommunikativer Kompetenz stößt allerdings an die Grenzen kommunikativer Kapazitäten. Auch der genetisch perfektionierte Mensch ohne Kommunikationsstörungen kann doch nicht alles mitteilen und erfahren. Er darf es auch nicht. Nicht nur das weit Entfernte, Anderssprachige bleibt ihm, allem Fernsehen und Fernreisen zum Trotz, verschlossen. Sondern auch die nächsten und wichtigsten Beziehungen – gerade sie – dürfen sich ihm nicht in ihrer ganzen Komplexität und Sprengkraft mitteilen.“ (Seite 175)

Zugegeben: Das hatte Niklas Luhmann anderthalb Jahrzehnte zuvor bereits etwas präziser auf den Punkt gebracht. Gleichwohl liegt Hondrichs Verdienst in der Betonung auch des Tabus. Zumindest solange wir noch die Menschen zu sein glauben, die Bücher lesen, die sich ihre Gedanken machen, die wissen, was sie verschweigen müssen und wo sie sich im Verschweigen schuldig machen, gewinnt Karl Otto Hondrichs Hinweis möglicherweise überlebenswichtige Bedeutung. Mit der nüchternen Betrachtung des Tabus rührt er möglicherweise an die Grenzlinie dessen, was postmoderne Gesellschaften mit der galaktischen Expansion sozialer Medien, die sich immer häufiger als Kloaken asozialer Motive darstellen, verwischen:

„Es sind die geteilten Gefühle oder Übereinstimmungen, die unser mit anderen geteiltes Eigenes, unsere kollektiven Identitäten ausmachen. Geborgen sind sie im Guten wie im Bösen. Deswegen werden Holocaust  und Kriegsverbrechen verborgen, solange es geht. Auch in Zeiten der Normalität würden Gesellschaften an sich selbst irre werden, wäre ihnen das ganze Ausmaß der alltäglichen Normvestöße bewußt.“

Und zu guter Letzt: Es trifft meine Sehnsüchte zutiefst, würde Karl Otto Hondrich doch Recht behalten mit seiner Annahme, dass das gnadenlose Bestimmenwollen als „Anmaßung einer ständig vergehenden Gegenwart gegenüber einer andauernden und bestimmten Herkunft und einer unbestimmten Zukunft bestraft wird“:

Immer sind die Folgen des Bestimmenwollens anders als gewollt. Die Diktatoren führen es vor: Je stärker ihr Will zur Gestaltung, desto weiter weicht das Ergebnis von ihm ab. So zeigen Herkunft und Zukunft dem gegenwärtigen Handeln die Zähne ihrer Macht: die Macht der Zeit. Es sind nicht >die Kräfte der Beharrung<, die den politisch-militärischen, pädagogischen, und jetzt wieder philosophisch-gentechnologischen Machtträumen der Gegenwärtigen entgegenstehen, sondern im Gegenteil, die ständigen Bewegungen und Gegenbewegungen des sozialen Lebens im Fluß der Zeit.“ (Seite 178)