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Andreas Kirchner: Das Ende als Anfang? (I)

Elemente einer vernachlässigten Perspektive auf Trennung (Familiendynamik, 4/25, Seite 300-307)

Mach dich STARK - der Beitrag von Laura Bieg, Carmen Pfänder und Miriam Rassendorfer (ebenfalls in der Ausgabe 4/25 der Familiendynamik) widmet sich primär Beratungsangeboten und -möglichkeiten in Kontext von Trennungsprozessen. Andreas Kirchner kommt das verdienstvolle Unterfangen zu, den Blick auf Trennungsprozesse einerseits in differenzierter Weise auf dem Hintergrund - teils konkurrierender und widersprüchlicher Forschungsbefunde - zu schärfen. Zum anderen bietet er mit existenzphilosophischen Exkursen und den Prämissen systemisch fundierter Analyse eine neue, ungewohnte Blickrichtung, die möglicherweise ein angemesseneres Verständnis von Trennungprozessen erlaubt. Aus dieser veränderten Blickrichtung, die von Andreas Kirchner schlicht mit der Überschrift: Ergänzende Perspektiven auf Trennung versehen wird, gewinnt allein das Phänomen Trennung eine neue, vielschichtige Ausprägung. Daher beginne ich meine Auseinandersetzung mit seinen ergänzenden Perspektiven, allerdings versehen mit dem Hinweis, dass auch Andreas Kirchner ein komplexes Trennungsgeschehen damit nicht relativieren oder verniedlichen will. Was ihm mit seinen ergänzenden Perspektiven hingegen gelingt, wird von ihm selbst mit dem Anspruch verbunden, familiale Trennungsprozesse in eine größere Trennungsperspektive hineinzustellen und sie damit in einem allgemeinen Sinn zu betrachten.

Ergänzende Perspektiven:

Der grundlegende Perspektivenwechsel besteht zunächst einmal in der vorsichtigen Annahme, dass eine Trennung oder Scheidung einen Übergang markiert in eine Scheidungs- bzw. Nachscheidungsfamilie, die von den Beteiligten spezifische Beziehungskompetenzen erfordere - allerdings unter erschwerten Bedingungen. So schon 2006 nachzulesen im Kontext des 7. Familienberichts (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Hrsg.: Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit: Perspektiven für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik). Daneben wird bemerkt, dass Trennungen und Scheidungen auf vielen Ebenen erfolgten. Man spricht hier von >emotionaler Scheidung (Distanzierung von Partner und Ehe); legaler Scheidung (Substanz und Prozedere); ökonomischer Scheidung (Vermögen, Unterhalt, Erwerbstätigkeit); Eltern-Scheidung (Neuordnung der Elternrollen; Netzwerkscheidung (Eltern, Verwandte, Freunde), psychische Scheidung (psychische Autonomie und evt. Neudingung)<.

Auch wenn es trivial klingen mag, im operativen, handlungsleitenden Alltagsgeschehen sind sich viele Getrennte/Geschiedene über folgenden von Andreas Kirchner beschriebenen Sachverhalt nicht wirklich im Klaren:

"Diese Entwicklungen erfordern eine Reorganisation: die Anpassung der inneren und äußeren Rolle, des Verhaltens und Handelns. Der äußere Trennungsprozess übersetzt eine erzwungene oder getroffene innere Entscheidung ins Handeln. Besonders vor dem Hintergrund der Elternschaft zeigt sich das Dilemma, dass Menschen sich keineswegs vollständig trennen können. Sie mögen bisherige Kohabitationsformen aufgeben, räumlich Abstand nehmen oder sogar jeden Kontakt verweigern - nicht mehr miteinander verbunden zu sein vermögen sie nicht. Noch im Nicht-daran-Denken denken sie an den Abwesenden, in gemeinsamen Kindern begegnet die Vergangenheit der tiefen Verbindung in der Gegenwart in jedem Augenblick. Damit aktualisiert sich je neu eine gewandelte Beziehung."

So sehr nun diese  j e d e r z e i t i g e  Aktualisierung unausweichlich erscheint, so sehr beginnt nun Andreas Kircher damit ein Phänomen zu beschreiben, das geradezu existenziell erscheint:

Trennung als Sprache der Zeit:

Andreas Kirchner stellt den Trennungsbegriff in ein existenzielles Bedeutungsgefüge. Die abschiedliche Existenz des Menschen, die ihm als Wesen in der Zeit eigne, sei unmittelbar mit Trennung verbunden:

"Jeder Mensch verabschiedet Jahre, feiert das Neue und Kommende und übergeht in dieser Herausstellung einzelner Abschiede und Anfänge eine fundamentale Wirklichkeit: In jedem Augenblick findet Trennung statt, jeder Augenblick ist Trennung. Abschied von der Gegenwart in eine neue, Abschied von einer Begegnung zu einer neuen, von einem Menschen, wie er jetzt ist. Trennung ist die Sprache und der Atem der Zeit, den der Mensch nicht anhalten kann und der ihn unweigerlich in einer Bewegung hält. Damit ist Abschied und Trennung ein alltägliches, fortwährendes und allaugenblickliches Phänomen."

Mit J. Maywald wendet er nun diese eher phänomenologische Skizze in eine Lernanforderung, ohne deren Bewältigung wir schlicht lebensuntüchtig erscheinen. Denn das Leben des einzelnen Menschen vollziehe sich Zeit seines Lebens als dynamischer Prozess, in dessen Verlauf Trennungen zu Kristallisationspukten würden. Fundamental sei dieser Prozess als Zusammenspiel von konstitutionellen und akzidentiellen (im Sinne von zufälligen) Faktoren (Freud), von >Reifung und fördernder Umwelt< (Winnicott), von >Assimilation und Akkomodation< (Piaget) zu verstehen. Trennung setze Bindung voraus - Entwicklung vollziehe sich als Wechselspiel von Bindungs- und Trennungserfahrungen.

Genau die Erfahrung dieses Spannungsraums lässt mich zu der Schlussfolgerung gelangen, dass ich persönlich erst im Zuge der Sterbebegleitung meiner Mutter - im Alter von immerhin schon 51 Jahren - vollends erwachsen geworden bin.

Trennung als Bedingung für Erkenntnis:

Hier begegnet uns die konstruktivistisch-systemische Grundauffassung, dass der Mensch am Unterschied erkennt. Dies bedingt die Ausgangsannahme, dass Einheit und Trennung nicht in einem starren Kontrast zueinander stehen, dass man sie nicht gegeneinander auspielen könne:

"Die Erkenntnis der Einheit setzt die Trennung voraus, und die Trennung setzt ihrerseits die Einheit der als getrennt erkannten Aspkete voraus. [...] Im permanenten Fortgang des Werdens der Welt tritt das Entstehende hervor, indem es sich von dem um es herum absetzt, trennt."

Trennung als Bedingung der Existenz:

"Alles Seiende ist erst durch die Trennung überhaupt als existent ausgewiesen; es zeigt sich, weil es sich anders zeigt als anderes." 

Zugleich sei aber alles, was entstehe, unweigerlich dem Ende zugewandt: Anfang, Entstehen, Wachsen, Entwicklung bedeuteten immer auch Vergehen, Verfall und Ende. Alles Leben, Bewegen, Werden, Vergehen, Erkennen, alles Zeitliche insgesamt existiere immerzu in einer Weise der Trennung:

"Existieren heißt getrennt und begrenzt sein."

Beziehung und Trennung gehören zusammen:

Andreas Kirchner bietet uns hier eine durchaus überlegenswerte Betrachtungsweise an:

"Die Bewegung von Trennung und Vereinigung ist die Bedingung des Lebens, beide gehören in eine einzige gemeiname Bewegung des Lebendigen. Die Chance auf ein eigenständiges Leben bekommt der Mensch schließlich mit der Durchtrennung der Nabelschnur nach der Geburt, mit der dann voranschreitenden Selbstständigkeit, der Trennung von der zuerst notwendigen Nähe zur Mutter bzw. den Eltern."

Es wird nun umfassend deutlich, dass mit dieser sehr grundlegenden Verankerung des Trennungsbegriffs ein Entwicklungsrahmen aufgespannt wird, in dessen Bewältigung und Ausgestaltung sich entscheidet, ob der Mensch sich tatsächlich entwickelt - hin zu einem eigenständigen, entscheidungsfähigen Lebewesen:

"Die zunehmende Individuation des Kindes, das die eigene (zunächst körperliche) Grenze wahrzunehmen lernt, ist eine Form der Trennung, Ablösung; es zeigt sich darin ein lebenslanger Prozess. Trennung ist kein singuläres Ereignis, doch scheint sie an kritischen Punkten der menschlichen Entwicklung deutlicher auf, plötzlich und nicht selten leidvoll."

Damit gerät sie - die Trennung als lebenslanges Grundphänomen - auch zu einer Einladung zur Selbstbegegnung.

Trennung als Einladung zur Selbstbegegnung:

In der Logik des Voranstehenden muss Andreas Kirchner zu der Schlussfolgerung gelangen, dass ohne Trennung keine Bewegung denkbar ist: "Sie ist zugleich Bedingung der Möglichkeit von Individualität." Bekannt ist Martin Bubers Grundannahme, dass der Mensch am Du zum Ich werde:

"Der auf sich selbst zurückgeworfene Mensch ist herausgefordert, sich selbst zu begegnen und sich selbst zu bestimmen: Wer bin ich? Was will ich sein? Wie möchte ich leben?. Wofür möchte ich meine Kraft einsetzen. Welche Frage möchte ich lösen."

Fazit:

Andreas Kirchner zieht ein gleichwohl nüchternes wie gewagtes Fazit, indem er feststellt, Trennung sei immer auch ein Beziehungsprozess. Hier muss die Betonung wohl auf -prozess liegen. Denn nach Kirchner ist sie eben nicht einfach ein Abbruch von Beziehung, deren Ende oder gar deren Negation

"- mag sich das für Menschen in Trennungsituationen auch so anfühlen. Beziehung kann auch in der Trennung nicht vollständig negiert werden. [...] Noch das >Wir sind getrennt!< ist die Formulierung einer tiefen Beziehungsgeschichte und einer bestehenden Bezogenheit, die überhaupt erst ein aussagbares bzw. ansprechbares Wir ermöglicht."

Andreas Kirchner enthält sich in den nun folgenden Schlussfolgerungen einer Bewertung, während ich dazu neige, anzunehmen, wir redeteten hier über den besten aller denkbaren Fälle bzw. Konstellationen. Er meint:

"Veränderung ist deshalb keineswegs Negation, sondern viel eher eine Anpassung an gewandelte Wirklichkeiten. Vormals eng aufeinander bezogene Systemglieder bilden auch in der Trennung weiterhin ein System, allerdings in einer adaptierten Ordnung, die Abstand und Raum aufspannt, Exklusivität aufbricht, Individuation ermöglicht oder gar notwendig macht."

Andreas Kirchner kommt mir in seinem Fazit nun doch ein wenig blau- oder rosaäugig vor. Ich stimme ja mit ihm überein. Aber es gibt doch keine Veranlassung zu Schlussfolgerungen oder Behauptungen im Indikativ:

"Trennung  i s t  immer auch eine Bewegung der Hoffnung. Hoffnungslosigkeit und Schicksalsergebenheit produzieren Erstarrung, Fügung und nicht Bewegung und Veränderung."

Kirchner ist dies bewusst und nimmt entsprechende Relativierungen vor:

"Auch wenn sich Trennung für viele Menschen erst einmal keineswegs als ein Ausdruck der Hoffnung anfühlt, sondern vielmehr als ein Produkt der Hoffnungslosigkeit, könnte man die durch Trennung entstehende Systemadaption auch als Möglichkeit lesen, den Schaden in einer als prekär erlebten Beziehung zu begrenzen."

Oder mehr noch:

"Wo Kinder in einem System involviert sind, das sich im ZUger der Trennung differenziert, können sie ggf. ein guter Grund für den Versuch sein, einen Rest an geteiltem Boden durch die Trennung zu schützen. >Schützen< meint in der Verzweiflung der Trennung: lassen, ablassen. Trennung könnte, so gesehen, bedeuten, dass die Sich-Trennenden die Menschen freigeben, zu denen sie gerade vielleicht kaum anders als konflikthaft oder eskalierend in Beziehung treten können."

 

Auch wenn die folgende Formel aus den therapeutischen Interventionen Bert Hellingers stammt, kommt ihr mit Blick auf die blauäugige und teils rosarote Perspektive Andreas Kirchners etwas zu, was man mit seinen Worten dann nicht nur als Reorganisation der Rollen, sondern eher als Neuausrichtung eines künftigen Rollenverständnisses begreifen könnte. Die Hellingerformel enthält nämlich jenes Lösungspotential - auch im Sinne von vollzogener und dann vielleicht auch konstruktiv-lebbarer Trennung (insbesondere mit Blick auf involvierte Kinder) -, das die Chance eröffnet, aus belasteter Vergangenheit eine entkontaminierte Zukunft zu gestalten:

Hellinger (in der Wiedergabe durch Gunthard Weber: Zweierlei Glück, Heidelberg 1997, S. 142f.) weist darauf hin:

"Wer in einer wesentlichen Paarbeziehung war (mit sexuellem Vollzug), ist gebunden und kann nicht mehr raus ohne Schmerz und ohne Schuld [...] Die Lösung ist, dass sich beide ihrer Trauer überlassen, dem ganz tiefen Schmerz, der Trauer darüber, dass es vorbei ist. Diese Trauer dauert nicht sehr lange, geht aber sehr tief und tut sehr weh. Dann sind sie auf einmal voneinander gelöst, und dann könnten sie nachher gut miteinander reden, und alles was noch zu regeln ist, vernünftig und mit gegenseitigem Respekt lösen. Bei einer Trennung ist die Wut häufig Ersatz für den Schmerz der Trauer. Oft fehlt, wenn zwei nicht voneinander lassen können, das Nehmen.

Dann muss der eine dem anderen sagen: >Ich nehme, was du mir geschenkt hast. Es war eine Menge, und ich werde es in Ehren halten und mitnehmen. Was ich dir gegeben habe, hab ich dir gern gegeben, und du darfst es behalten. Für das, was zwischen uns schief gelaufen ist, übernehme ich meinen Teil der Verantwortung und lasse dir deinen, und jetzt lass ich dich in Frieden.< Dann können beide auseinandergehen."

 in progress