Mascha Schilinski: Die Geheimnisse ganzer Generationen
Hannah Pilarczyk fällt die Aufgabe zu uns In die Sonne schauen näher zu bringen (SPIEGEL, 35/25 - Die Geheimnisse ganzer Generationen, S. 108-110). Wir können in ihrer Hommage Sätze lesen wie:
">In die Sonne schauen< erzählt von einem Bauernhof in der Altmark Sachsen-Anhalt, auf dem junge Frauen zwischen den Ansprüchen ihrer Familien, der Arbeit und der Zeitläufe zerrieben werden." Oder: "Einen ambitionierteren Film als >In die Sonne schauen< hat es im deutschen Kino tatsächlich schon lange nicht gegeben."
Ich bin zwar 73 Jahre alt, aber ich besitze keine cineastische Expertise. So jemanden beeindruckt ein Zitat, das die Bedeutung dieses Films - auch für einen lausigen Kinogänger - irgendwie begreiflich macht: "Nach In die Sonne schauen müsse man das Wesen des Films neu denken, schrieb der Branchendienst >The Hollywood Reporter<."
Und dann begreife ich sehr schnell, dass hier über einen Film gesprochen wird, dessen vergleichbares Format - Hildes Geschichte - ich schon seit Jahrzehnten in mir trage. Hanna Pilarzyk schreibt:
">Transgenerationale Traumata< lautet das aktuelle Stichwort dazu. Doch von der didaktischen Aufbereitung eines zeitgeistigen Themas könnte In die Sonne schauen in seiner wilden, assoziativen Poesie nicht weiter entfernt sein. Man spürt den Film mehr, als dass man ihn versteht. >Louise (Schilinskis Co-Autorin) und mich hat beschäftigt, dass man in seinem Leben manchmal stellvertretend Themen verhandelt, die gar nicht zwingend in der Biografie zu verorten sind, vondern von wa ganz anders herzukommen scheinen<, sagt Schilinski. >Als würde man für seine Vorgänger etwas ausfechten, was diese in ihrem Leben vielleicht selbst nicht bewältigen konnten.< Als >leises inneres Beben< beschreibt sie dieses Gefühl, ihm habe sie in ihren Figuren nachspüren wollen. >Wo verbergen sich Geheimnisse in der Familiengeschichte? Wo ist etwas so schambehaftet, dass man es nicht erzählen kann - nicht einmal auf dem Sterbebett?<"
Dort, auf dem seit Jahrzehnten leer stehenden Hof, wo der Film schließlich auch gedreht wurde, fiel Schilinski und ihrer Co-Autorin Louise Peter - so berichtet es Hannah Pilarczyk - während eines Schreibaufenthalts ein Foto des Hofs von circa 1920 in die Hände:
"Darauf waren drei Frauen zu sehen, die in die Kamera schauten - direkt aus der Geschichte in die Gegenwart, wie Schilinski und Peter fanden. >Punctum< hat der Philosoph Roland Barthes diesen Effekt bei Fotos genannt: Ein Element schießt wie ein Pfeil aus einem Zusammenhang hervor, um einen zu durchbohren. In die Sonne schauen ist mit solchen Puncta geradezu übersät. Immer wieder schauen die Figuren direkt in die Kamera und treffen einen mit ihrem Blick mitten im Kinosaal."
Nachdem meine Frau, Claudia, mir in den Nullerjahren die heilsame Läuterung vermittelt hatte, ich solle bei Hildes Geschichte, mit der ich die Geschichte einer eben erst Siebzehnjährigen erzählen wollte, die 1941 von einem 27jährigen aus Österreich stammenden Unteroffizier, der zu Rehabilitation in Ahrweiler in der Ehrenwallschen Klinik weilte, und mit dem sie in einem kurzen Sommer von nur drei Wochen - vom 15.8. bis zum 9.9.1941 - Hochzeit feierte und ihre Tochter Ursula empfing, endlich aufhören an meine Mutter zu denken und mir eine fremde, junge siebzehnjährige Frau vorstellen, war der Damm gebrochen.
Es entstand Hildes Geschichte. Und ich bin dabei, diese Geschichte in kommentierter Form noch einmal online zu stellen. Dabei geht es mir genaus, wie Hannah Pilarczyk es beschreibt:
"Meist erklären die Figuren rückblickend und aus dem Off, wie sie sich in der gezeigten Situation gefühlt haben. Wie es etwa war, als Tenager zum ersten Mal den unangenehmen begehrlichen Blick eines älteren Mannes auf sich zu spüren, Immer wieder ragen aus diesen Texten Sätze voller bitterer Lebensweisheit hervor. >Dumm nur, dass man immer erst im Nachhinein weiß, wann man am glücklichsten war< ist so einer."
Hilde, die meine Mutter und Wilfrieds Mutter werden sollte, hat über sechzig Jahre gebraucht, um die Scham zu überwinden, jenen drei Wochen vom 15. August 1941 bis zum 9. September 1941 (und dem, was sich daraus ergab) einen kommunikativen Spalt zu öffnen. Ohne die Gespräche und ihre Öffnung hätte Hildes Geschichte nicht erzählt werden können - und hätte meine Schwester ihre beiden Brüder in Wien und in Trostberg/Chiemgau niemals gefunden. Und ohne diese gewaltigen Schritt, die eigene Scham zu überwinden, hätten meine Mutter und ihre Tochter - noch auf dem Sterbebett - niemals ihren Frieden gefunden. So weit musste ich Hildes Geschichte von der Vergangenheit in die Gegenwart spannen, dass Hildes Sterbetagebuch Bestandteil ihrer Geschichte geworden ist - aus Respekt vor ihr und vor ihren Nachkommen.
Nebenbemerkung: Ich habe von 1997 bis 2000 bei der IGST eine Aus- und Fortbildung zum systemischen Familientherapeuten absolviert - es war meine eigene Therapie, um mit einem verwirrten Kopf und einer umherirrenden Seele wieder auf die Füße zu kommen. Insbesondere im November 1997, während einer intensiven Woche der Familienaufstellungen im Wieslocher Rathaussaal, und im darauf folgenden Jahr - unter der Federführung Gunthard Webers - ist mir umfassend vor Augen geführt worden, was Transgenerationale Traumata bedeuten und anzurichten vermögen - grundsätzlich in ihren ursächlichen Zusammenhängen und familiendynamisch in ihren alltäglichen Auswirkungen im transgenerationalen Kontext. Über die Maßen schmerzhaft bleiben die Erkenntnis und die Erfahrung, dass in Familiensystemen Menschen häufig - sogar wider besseres Wissen (das allerdings gegen die affektlogischen Dynamiken wenig auszurichten vermag) das Leid, das nicht das ihrige ist, annehmen, in sich tragen und weitergeben.