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Danke für Hildes Geschichte (25) - immer mit dem Verweis auf J. Lear - Dankbar? Wofür?
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Henning Sußebach hat mich auf die Idee gebracht, meinen Blog zu nutzen und Hildes Geschichte noch einmal Kapitel für Kapitel zu erzählen - ganz im Sinne seiner Überzeugungen, die er mit dem Aufschreiben der Geschichte seiner Urgroßmutter verbindet. Hilde, meine Mutter ist inzwischen auch Urgroßmutter, und ich stelle mir vor, dass sie ihre Hand nicht nur über mich hält, sondern über alle, die aus ihr hervorgegangen sind. Bert Hellinger macht uns noch einmal darauf aufmerksam, dass zu diesem Hervorbringen unter Umständen - und Hilde hat solche Umstände erlebt - auch die schlimmen Gesellen gehören. Aber werden wir beispielsweise dem Vater meiner Schwester tatsächlich gerecht, wenn wir ihn als schlimmen Gesellen sehen. Der Ausschluss, das beharrliche Weigern auch jenen Ahnen zu sehen und anzunehmen, dem meine Mutter, die Mutter meiner Schwester, die Großmutter meines Neffen, meiner Kinder und meiner Nichten und die Urgroßmutter aller Enkel:innen in Hingebung und Liebe begegnete, verhindert dort anzukommen, wo ich mich wähne - als jemand der irgendwann die Augen öffnet, sich noch einmal umblickt, aufsteht und geht - im Einklang mit sich selbst und seiner Geschichte.
Es ist mir schwer gefallen, und es übersteigt meine Vorstellungskraft, wie miteinander vollkommen inkompatible Menschen ein gemeinsames Vorhaben planten und in die Tat umsetzten. Dass die weltgewandte Änne den Franz Streit und Hildes Mutter irgendwie zusammenbrachte, dass die beiden schließlich eine gemeinsame Fahrt nach Flammersfeld ins Werk setzten - das alles ist schwer vorstellbar, muss sich aber wohl in etwa so zugetragen haben. Wenn meine Großmutter auch eine eher zurückhaltende, reservierte Frau war, so kann man sich nahezu sicher sein, dass sie den Herrn Streit zur Rede gestellt hat. Dass der sich wiederum einen gordischen Knoten um den Hals legte, mag angesichts der gegebenen Situation auch irgendwie vorstellbar sein.
Wenn Menschen sich weigern oder gute Gründe haben ihre Geschichte(n) nicht zu erzählen, dann müssen sich diejenigen, die im Magnetfeld der Familie zueinander gehören und sich einen Reim darauf machen wollen, wie sie in diese Welt gelangt sind, eigene Geschichten ausdenken. Hat man dazu einige kleine Mosaiksteinchen, muss man - wie bei einem Puzzle - die dazu gehörigen Mosaiksteine erfinden und zu einem irgendwie passenden Ganzen zusammenfügen. Zu Hildes Geschichte gehört offenbar die Annahme, dass es im März 1942 noch nicht zum völligen Zusammenbruch von Hildes hoffnungsgeschwängerten Phantasien kam. Sicher hingegen ist, dass Franz Streit im Zeitfenster von nur einer Woche Hilde in Flammersfeld besucht und wenige Tage später in Mistelbach seinen zweiten Sohn Werner gezeugt hat. Dies geben die Akten mit Blick auf die Lazarettaufenthalte und die Verweise zur "Garnisonsverwenung Heimat" her. Sie bestätigen Heimaturlaub im März 1942 genauso wie der Abgang Franz Streits zur Truppe am 16.06.1942 nach Erkrankung. Es ist also weniger Spekulation als eine Bestätigung der Erinnerungen Hildes, die zwei Besuche Franz Streits in Flammesfeld nahelegen.
Und es mag einen Unterschied ums Ganze ausmachen, wenn Hildes gute Hoffnung in den letzten zwei Monaten ihrer Schwangerschaft sowohl auf eine erfolgreiche Niederkunft setzten als auch über diesen Tag hinaus von einer gemeinsamen Zukunft mit Franz ausging.
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Hildes Geschichte - Franz will nach Flammersfeld
Änne traf Franz um die Mittagszeit, sie zeigte ihm den Blumenladen am Bahnhof, wo Franz sieben blass gelbe Nelken mit Asparagus kaufte, um sie Hildes Mutter zur Begrüßung zu überreichen.
Anne wählte den Weg durch die Felder, den Grünen Weg hinunter bis zur Kreuzstraße, an deren Ende – dort wo die beiden Wege aufeinander stießen – lediglich zwei Häuser standen, das 11 m hohe der Familie Witsch und das über dem Erdgeschoss „abgeschnittene“ der Lahnsteins.
So, als hätte sie es geahnt, stand Hildes Mutter im Eingang ihres Hauses, als Änne mit Franz in die Kreuzstraße einbog. Änne winkte und Barbara Lahnstein, geborene Schülter, die in Bonn in hochherrschaftlichem Hause den Haushalt gelernt hatte, winkte zaghaft zurück und bat die beiden umgehend in die Stube. Franz verbeugte sich, nahm die Nelken aus dem Papier, überreichte sie und stellte sich vor: „Liebe Frau Lahnstein, ich bin der Franz Streit. Ich freue mich, dass sie mich empfangen und danke der Änne für die freundliche Vermittlung.“ Hildes Mutter bedankte sich und erklärte zuerst, dass sie alleine sei, Ihr Mann sei auf der Arbeit.
Franz zögerte nicht lange, erklärte, dass Änne ihm alles erzählt habe und bat Hildes Mutter ihm dabei zu helfen, Hilde zu treffen. Er wisse, dass ihm dies nicht ohne ihre Unterstützung gelinge – und er wolle das auch nicht.
Barbara Lahnstein, die ein enges, religiöses und im Glauben gefestigtes Weltbild hatte, sah Franz Streit ruhig, aber mit sorgenvoller Miene an und meinte dann auf eine für sie ungewöhnlich offene und unvermittelte Weise: „Herr Streit, Hilde ist ein Kind von 17 Jahren und erwartet ganz offenkundig ein Kind – von Ihnen! Was wollen sie von meiner Tochter, was haben sie ihr zu bieten?“ Franz antwortete nicht ganz so offen, aber doch so, dass ein Anschluss möglich erschien: „Ich gebe zu, dass ich nicht wusste, dass Hilde erst 17 Jahre alt ist. Aber ich habe ihre Tochter in den 3 Wochen unserer wenigen Begegnungen lieben gelernt, sie so lieb gewonnen, dass ich sie heiraten möchte. Aber dazu muss ich sie sehen, mit ihr reden, sie endlich wiedersehen.“ Franz hörte sich selbst diese Sätze sagen und er war gleichzeitig tief davon überzeugt, in diesem Augenblick frevelhaft, ja gar in der Haltung eines Heiratsschwindlers oder eines Bigamisten zu reden. Er war zutiefst davon überzeugt, den gordischen Knoten, den er soeben knüpfte, auch wieder lösen zu können. Und hier – just in diesem Augenblick – schlug das Pendel zweifellos in Hildes Richtung.
Niemand, der diese Zwickmühle, in die sich Franz mit Nachdruck hineinzwängte, wirklich in ihrer Ausweglosigkeit zu erkennen vermochte, hätte diesen Auftritt Franz Streits auch nur ansatzweise begreifen können: „Ich bitte Sie, Frau Lahnstein, geben sie mir die Adresse, unter der ich Hilde finde; ich habe nur noch zwei Tage, bevor ich zu meiner Einheit zurück muss!“ Franz zeigte sein gewinnendes Siegerlächeln, ohne jede Aufdringlichkeit oder Arroganz – nein ganz und gar eher in der Haltung eines grenzenlos offenen und optimistischen Menschen, dem man um keinen Preis böse Absichten unterstellen mochte.
Hildes Mutter, die Mutter war, und die ihre Fraulichkeit und erst recht ihre Weiblichkeit nicht nur hinter Kittelschürzen und einer eher das Leid und die Demut vermittelnden Körpersprache zu verbergen wusste, sondern bei der Mentalität und äußeres Erscheinungsbild zum Habitus einer „frommen Helene“ verschmolzen, selbst bei dieser unerreichbaren Frau, verfehlte Franz nicht diese ungewöhnliche, gleichermaßen aufschließende wie einnehmende Wirkung. „Änne, Du hast Adresse und Telefonnummer des Heimes in Flammersfeld. Kannst du dort anrufen? Ich werde mit Herrn Streit morgen dorthin fahren!“
An Franz gewandt sagte Hildes Mutter dann: „Ja, wir werden es versuchen – aber ich weiß nicht, wie wir die Fahrt dorthin ermöglichen sollen. Wir müssen über Remagen oder Neuwied 30 km tief in den Westerwald nach Flammersfeld gelangen.“ Änne und Franz antworteten gleichzeitig und durcheinander, so dass Barbara Lahnstein für Ruhe sorgte und darum bat: „Einer nach dem anderen!“ Änne meinte, sie werde sich um den Anruf kümmern, aber ein Fahrzeug müsste Franz besorgen. Der war sofort einverstanden und versprach anderntags um 10.00 Uhr in der Kreuzstraße zu sein. Mit diesem Entschluss gingen die drei an diesem Dienstagmittag des 17. März 1942 auseinander.
Änne, die ein gutes Verhältnis zu ihrem Dienstherrn hatte, der im Übrigen auch Hilde gegenüber seine wohlwollende Haltung bewahrt hatte, bat Herrn Broicher das Telefon benutzen zu dürfen, um in Flammersfeld anrufen zu können. So erfuhr Hilde am Nachmittag des 17. März, dass Franz am morgigen Mittwoch mit der Mutter nach Flammersfeld zu Besuch kommen würde. Änne brauchte Hilde gar nicht Mut zuzusprechen. Sie spürte sofort, wie Hilde auflebte und wie ihre Freude alle Entbehrungen und Enttäuschungen der letzten Wochen zudeckte.
Hilde, die seit 14 Tagen in Flammersfeld war, hatte natürlich Heimweh. So sehr es sie auch erleichterte, Bad Neuenahr den Rücken kehren zu können, so sehr litt sie doch hier in der fremden Umgebung unter den fremden Menschen. Einzig die Tatsache, dass alle überaus freundlich und zugewandt waren, so ganz anders als es Hohn, Spott und Verachtung zu Hause in Bad Neuenahr vermittelten, erleichterte ihr den Anfang in der Fremde. Und jetzt, da Franz kommen würde, könnte ja doch noch alles gut werden. Sie stellte sich vor, dass er zu Hause auch die Eltern überzeugt hatte, und natürlich freute sie sich, dass die Mutter mitkommen und der Vater vielleicht inzwischen etwas versöhnlicher reagieren würde.
Als sie am 9. März mit Änne und der Mutter das Haus verlassen hatte, war der Vater verschwunden. Erst viele Monate später würde Hilde von Annemie, der 4 Jahre jüngeren Schwester, erfahren, dass der Vater im Keller des Hauses gesessen und bitterlich geweint hatte. Die Zeit für eine Versöhnung lag wohl noch in weiter Ferne. Für den Großvater sollte sie erst kommen, da er die kleine Ursula zum ersten Mal zu Gesicht bekommen und auf seinen starken Armen tragen sollte.
Hildes Mutter und Franz trafen am Mittag gegen 12.00 Uhr in Flammersfeld ein. Franz hatte alles generalstabsmäßig organisiert und mit Hilfe Ännes bei einem örtlichen Unternehmen einen PKW gemietet. Er war ein versierter Fahrer, der sich natürlich unter Beschaffung entsprechenden Kartenmaterials dazu entschlossen hatte, über Sinzig und Andernach zu fahren und bei Weißenthurm den Rhein nach Neuwied hin zu überqueren. Von dort aus fuhren Franz und Hildes Mutter, vermutlich ohne viel miteinander zu reden, über Niederbieber und Rengsdorf auf die Westerwaldhöhe in Richtung Altenkirchen. Auf halbem Weg an der historischen Raiffeisenstraße lag die kleine Gemeinde Flammersfeld.