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Lesen lernen - eine Anregung im Geiste Niklas Luhmanns

oder: Die Kunst des umformulierenden Schreibens

In den "Short cuts" zu Niklas Luhmann (Frankfurt 2000) findet sich ein kleiner Beitrag zum "Lesen Lernen". Es verwundert nicht, dass eine hochgradig funktional differenzierte Gesellschaft auch unterschiedliche Textsorten produziert, die unterschiedliche Lesarten - heute spricht man von "Lesekompetenz"- erfordern. Luhmann empfiehlt eine Unterscheidung zwischen poetischen, narrativen und wissenschaftlichen Texten. Natürlich geht es Niklas Luhmann in erster Linie um wissenschaftliche Texte, deren Eigenart sich seiner Auffassung nach am besten erhellen lasse, wenn man zunächst klärt, dass und weshalb sie nicht wie Gedichte oder Romane zu lesen seien.

Luhmann unterscheidet zwischen "realer Realität" und "fiktionaler Realität". Bei narrativen Texten - so seine Argumentation - ergebe sich der Textzusammenhang aus der Spannung, die mit dem "Unbekanntsein der Zukunft" einhergehe. Bereits Gelesenes wecke Erwartungen auf eine noch unbestimmte Zukunft: "Der Leser wird sozusagen mit der Paradoxie konfrontiert, schon zu wissen, was er noch nicht weiß." Andere Anforderungen stelle hingegen die Lektüre von Gedichten. Sie seien in der Regel nicht zu verstehen als "Erzählungen in Versform". Zugänge ergäben sich eher  über klangliche Elemente, die Ungewöhnlichkeit der Wortwahl, Paradoxien und Kontraste, die zudem durch Sprachrhythmik unterstützt oder auch irritiert würden: "Die Lektüre erfordert ein aufmerksames Kurzzeitgedächtnis und vielschichtige Rekursionen, die sich nicht darauf verlassen können, dass das, was gemeint ist, auch gesagt wird."

Im scharfen Gegensatz hierzu sollen "wissenschaftliche Texte" alles Kryptische vermeiden und sich durch Klarheit ausweisen. Aber "auch Wissenschaftler müssen, wenn sie publizieren wollen, Sätze bilden. In der dafür notwendigen Wortwahl herrscht jedoch ein für die meisten Leser unvorstellbares Maß an Zufall. Auch die Wissenschaftler selbst machen sich dies selten klar. Der weitaus größte Teil der Texte könnte auch anders formuliert sein, wenn er am nächsten Tag geschrieben worden wäre." Wie finde ich nun als Leser wissenschaftlicher Texte die Worte auf die es ankommt? Niklas Luhmann illustriert die Problematik an zwei - aus seiner Sicht - "drastischen Fällen: bei Übersetzern und bei Anfängern." Konzentrieren wir uns auf die prekäre Situation der "Anfänger", die sich von Semesterbeginn zu Semesterbeginn mit entsprechenden Fragen und Anforderungen konfrontiert sehen:

"Anfänger, vor allem Studienanfänger, finden sich zunächst mit einer satzförmig geordneten Menge von Worten konfrontiert, die sie Satz für Satz lesen und dem Satzsinn nach verstehen können. Aber auf was kommt es an? Was soll man 'lernen'? Was ist wichtig, was ist nur Beiwerk? Nach einigen Seiten Lektüre kann man kaum mehr erinnern, was man gelesen hat. Welche Empfehlungen könnte man hier geben?"

Niklas Luhmann weist auf einschlägige Möglichkeiten hin:

Niklas Luhmann ermutigt dazu, ein "eigenes Aufschreibsystem" zu begründen. Es gehe um die "Suche nach etwas, was zu merken sich lohnt; und um Lesenlernen." Und auch die Frage, was man denn nun mit dem Aufgeschriebenen mache, ist Niklas Luhmann eine Überlegung wert: Da er aus einer anderen Welt stammt, kommt nun sein berühmter Zettelkasten zur Sprache, den man aber auch mittels eines Computers kompensieren könne. Sein schlichter Rat lautet, die Notizen so aufzubereiten, "dass sie für einen späteren Zugriff zur Verfügung stehen". Zu Beginn sei dies immerhin tröstlich, auch wenn man zunächst weitgehend Abfall produziere. All dies professionalisiere sich mit der Zeit, der Blick fürs Wesentliche werde geschärft ebenso wie ein sachbezogenes Langzeitgedächtnis.

Wie lernt man also das Lesen wissenschaftlicher Texte? "Die Antwortet lautet nur, dass dies weitausgreifende Rückgriffe auf schon Bekanntes, also Langzeitgedächtnis erfordert. Dies bildet sich nicht von selbst. Vielleicht ist umformulierendes Schreiben eine dafür geeignete Methode; und dies auch dann, wenn man die Hoffnung auf wissenschaftliche Produktivität noch etwas hinausschieben muss."

Wenn man bereits das 63ste Lebensjahr überschritten und keinerlei Aussichten mehr hat auf das, was Niklas Luhmann "wissenschaftliche Produktivität" nennt, schreibt es sich insgesamt recht ungeniert, wenn auch durchaus im Bemühen um Seriosität. Davon soll der hier gepflegte Blog insgesamt zeugen, vor allem nach wie vor unter dem maßgeblichen Hinweis, dass "umformulierendes Schreiben" eine vorzügliche Übung darstellt, die in jeder Lebenslage zur Horizonterweitung führt (siehe idealtypisch die Kunstform des simulierten Interviews: so z.B. "Gebrauche niemals den Imperativ" oder die "Interviews" mit renommierten Therapeuten unter: "Paartherapeuten im Interview").

Ein weiterer Hinweis sei gestattet, der sich auf Luhmanns Ermunterung bezieht, "wieder mehr auf die Eigenleistungen des Schreibens zurückzukommen. Wenn man - rein statistisch betrachtet - das letzte Lebensdrittel erreicht hat, gibt es keinen Sinn mehr zu warten; weder auf den Kuss der Muse noch ein Erweckungserlebenis à la Heureka. So sind meine Geschichten, "Hildes Geschichte", meine Gedichte (siehe eine kleine Auswahl) und auch meine wissenschaftsorientierten Auslassungen entstanden. Also haben wir Mut, uns unseres Verstandes und unserer kreativen Möglichkeiten zu bedienen.