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Die kontinuierliche Drohung, deren er [der Führer] sich bedient und die das eigentliche Wesen dieses Systems ausmacht, richtet sich schließlich gegen ihn selbst. Ob er tatsächlich von Feinden gefährdet ist oder nicht, er wird immer ein Gefühl von Bedrohtheit haben. Die gefährlichste Drohung geht von seinen eigenen Leuten aus, denen er immer befiehlt, die in seiner nächsten Nähe sind, die ihn gut kennen.Das Mittel zu seiner Befreiung, nach dem er nicht ohne Zögern greift, auf das er aber keineswegs ganz verzichtet, ist der plötzliche Befehl zum Massentod. Er beginnt einen Krieg und schickt seine Leute dorthin, wo sie töten sollen. Viele von ihnen mögen dabei selber zugrunde gehen. Er wird es nicht bedauern. Wie immer er sich nach außen stellen mag, es ist ein tiefes und geheimes Bedürfnis von ihm, daß auch die Reihen seiner eigenen Leute sich lichten. Zu seiner Befreiung von Befehlsangst ist es erforderlich, daß auch viele von denen sterben, die für ihn kämpfen. 

Elias Canetti Putin und die Mullahs

1960 – vor vierundsechzig Jahren – hat Elias Canetti Masse und Macht vorgelegt (mir vorliegend in der 29. Auflage bei S. Fischer, Frankfurt 1980). Auf dem Rückdeckel findet sich ein Zitat von Karl Heinz Bohrer: „Wir werden Canettis >Masse und Macht<, so glaube ich, alle zehn Jahre von neuem lesen müssen.“ Bewusst lese ich heute zum ersten Mal, was hätten die Politiker, die Beobachter der (Welt-)Gesellschaft danach schon hätten x-mal, wenigstens sechs Mal hätten lesen können/müssen. Es reichen dabei die letzten fünf Abschnitte. Es gelingt Elias Canetti gleichermaßen die Hybris, die Dummheit und – vor allem – die Urängste der Despoten und Autokraten mit faschistischer Gesinnung auf den Punkt zu bringen. Dies ist deshalb heute so bedeutsam, weil der Kontext mit den Männern, die auf der Bombe sitzen, sich so darstellt, dass der Satz Sinn gibt, mit dem Canetti die Präsentation seiner Untersuchungen autorisiert hat:

„Anthropologische, soziologische und psychologische Aspekte durchdringen die essayistische Untersuchung gleichermaßen, und der Leser spürt, daß hier seine Sache verhandelt, über sein Schicksal nachgedacht wird.“ Ich vermute, dass auch Elias Canetti – auch 1960 - bereits die potentiellen Leserinnen mit im Blick hatte (es bleibt zu überprüfen, inwieweit hauptsächlich immer noch Männer auf der Bombe sitzen und inwieweit es in der Tat immer noch in erster Linie Männerhirne sind, die die Bombe und die dazu passenden Ideologien gebären).

Die Geschichte der Menschen lässt sich – wenn man den Fokus entsprechend ausrichtet – als eine Geschichte von Machtkämpfen beobachten. Masse und Macht leistet – so im Wikipedia-Beitrag zu lesen – „eine besondere, feinfühlige Betrachtung kollektiver Vorgänge und Herrschaftsstrukturen. Gerade in den bildhaften Übersetzungen der Masse-Erscheinungen und der sie beherrschenden Führermacht liefert dieses Werk erhellende Einsichten.“

Canetti deckt zuvorderst elementare Machtstrukturen in totalitären Systemen auf. Warum in der Folge seiner Untersuchungen unsere gegenwärtigen Ängste mehr als berechtigt sind, ergibt sich einerseits aus der – wie ein roter Faden - die Geschichte durchziehende Verführbarkeit der Massen und der Bereitschaft von Führern diese Verführbarkeit für ihre Zwecke und Ideologien zu instrumentalisieren. Dieser Zusammenhang kommt bei Canetti gewissermaßen wie eine anthropologische Konstante daher. Andererseits gewinnt die Geschichte aber im Rückblick – wie Canetti meint – ein nahezu „harmlos behagliches Gesicht“. Denn „aller Schrecken vor einer übernatürlichen Gewalt, die strafend und zerstörend über die Menschen hereinbricht, hat sich [inzwischen] an die Vorstellung von der >Bombe< gehängt.“ Hiroshima und Nagasaki wirken bis heute nach und gewinnen in unseren Vorstellungen eben unvorstellbare Ausmaße von totaler Zerstörung: „Alle werden überleben oder niemand“ schreibt Elias Canetti.

Nun hatte Elias Canetti Adolf Hitler oder Josef Stalin selbst noch vor Augen. Heute haben wir Putin, Assad oder die Mullahs vor Augen. Es gibt durchaus Sinn so zu argumentieren, meint Elias Canetti doch selbst:

„Was Dschingis Khan! was Tamerlan! was Hitler! – an unseren Möglichkeiten gemessen, klägliche Lehrlinge und Stümper!“ Und Canetti stellt die Frage, ob es denn auch eine Möglichkeit gebe, dem Überlebenden beizukommen, der zu diesen monströsen Proportionen angewachsen sei. Es sei dies die einzigen Fragen von Belang! Und: „Die Spezialisiertheit und Beweglichkeit des modernen Lebens täuscht über die Einfachheit, über die Konzentration dieser Grundfrage hinweg.“

Möglicherweise wird die Schlichtheit in der Beantwortung dieser Frage uns konsternieren, bestürzen oder vielleicht auch nur verblüffen. Eines aber ist gewiss: Canettis Antwort kann uns weder besänftigen noch beruhigen:

Gegen die sich steigernde Gefahr, die jeder in den Knochen spürt, ist ein zweites, neues Faktum in Rechnung zu setzen. Der Überlebende selbst hat Angst. Er hatte immer Angst. Aber an seinen Möglichkeiten ist sie ins Maßlose und Unerträgliche gewachsen. Sein Triumpf kann eine Sache von Minuten und Stunden sein […]  Alle werden überleben oder niemand.“

Den letzten Abschnitt von Masse und Macht werde ich nun ungekürzt wiedergeben, zutiefst bestürzt darüber, wie Elias Canetti zuvor das Schicksal der Redlichen und Friedfertigen ohne Aussicht lässt:

„Denn die einzige Lösung, die sich dem leidenschaftlichen Drange zu überleben bietet, eine schöpferische Einsamkeit, die sich die Unsterblichkeit verdient, ist ihrer Natur nach nur für wenige die Lösung.“ In dem von Canetti skizzierten Szenario bleibt wohl auch diese – mir so nahe liegende - Option im Sinne von Bleibefreiheit nichts als eine Illusion. Nun aber zu Canettis Einsichten und Erkenntnissen im Wortlaut:

„Um aber dem Überlebenden beizukommen, muß man sein Treiben dort durchschauen, wo es am natürlichsten erscheint. Auf unangefochtene und darum besonders gefährliche Weise steigert es sich im Erteilen von Befehlen. Es ist gezeigt worden, daß der Befehl in seiner domestizierten Form, wie im Zusammenleben von Menschen üblich ist, nichts als ein suspendiertes Todesurteil vorstellt. Wirksame und akute Systeme solcher Befehle haben sich überall eingebürgert. Wer sich zu rasch an die Spitze hinaufgedient hat oder wem es auf andere Weise gelingt, sich die oberste Verfügung über ein solches System zu verschaffen, der ist durch die Natur seiner Position mit Befehlsangst geladen und muß sich von ihr zu befreien suchen. Die kontinuierliche Drohung, deren er sich bedient und die das eigentliche Wesen dieses Systems ausmacht, richtet sich schließlich gegen ihn selbst. Ob er tatsächlich von Feinden gefährdet ist oder nicht, er wird immer ein Gefühl von Bedrohtheit haben. Die gefährlichste Drohung geht von seinen eigenen Leuten aus, denen er immer befiehlt, die in seiner nächsten Nähe sind, die ihn gut kennen. Das Mittel zu seiner Befreiung, nach dem er nicht ohne Zögern greift, auf das er aber keineswegs ganz verzichtet, ist der plötzliche Befehl zum Massentod. Er beginnt einen Krieg und schickt seine Leute dorthin, wo sie töten sollen. Viele von ihnen mögen dabei selber zugrunde gehen. Er wird es nicht bedauern. Wie immer er sich nach außen stellen mag, es ist ein tiefes und geheimes Bedürfnis von ihm, daß auch die Reihen seiner eignen Leute sich lichten. Zu seiner Befreiung von Befehlsangst ist es erforderlich, daß auch viele von denen sterben, die für ihn kämpfen. Der Wald seiner Angst ist zu dicht geworden, er atmet dafür, daß er sich lichtet. Wenn er zu lange gezögert hat, sieht er nicht mehr klar und mag seine Stellung empfindlich schädigen. Seine Befehlsangst nimmt dann Dimensionen an, die zur Katastrophe führen. Aber bevor die Katastrophe ihn selbst erreicht, seinen eigenen Leib, der für ihn die Welt verkörpert, führt sie um Untergang unzähliger anderer. Das System der Befehle ist allgemein anerkannt. Am schärfsten ausgeprägt hat sich wohl in Armeen. Aber viele andere Bereiche des zivilisierten Lebens sind vom Befehl ergriffen und gezeichnet. Der Tod als Drohung ist die Münze der Macht. Es ist leicht, hier Münze auf Münze zu legen und enorme Kapitalien anzusammeln. Wer der Macht beikommen will, der muß den Befehl ohne Scheu ins Auge fassen und die Mittel finden, ihn seines Stachels zu berauben.“ (Seite 558f.)

Axel Hacke - Danke (:-))

Danke – Axel Hacke, sagt einer, der zum Lachen in der Keller geht (das meint immerhin meine Schwester)

Nun ich habe heute Morgen in einer Viertelstunde Nummer I gelesen aus Deinem Büchlein Über die Heiterkeit in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wichtig uns der Ernst des Lebens sein sollte (schon in der 3. Auflage bei DuMont in Kölle) und habe immerhin geschmunzelt. Axel Hacke schreibt übrigens für Ursula und Anne, Max, Marie, David und Josi – das ist mir sympathisch. Aber sodann rückt schon die Frage in der Vordergrund, wie er das wohl jetzt machen wird. Ich weiß es noch nicht so ganz genau. Ich habe erst das erste von 27 Kapitelchen gelesen. Aber da gelingt dem Axel Hacke etwas – Axel Hacke, im Januar 1956 geboren (der goldene Jahrgang meiner Frau). Wir sind also nur vier schlappe Jährchen auseinander. Und dann passiert’s. Dem Axel Hacke gelingt es, mich unversehens in die frühen 60er Jahre zurück zu katapultieren.

Heute Morgen scheint die Sonne. Es wird gewiss ein heiterer Tag. Und die zwei Sätze, die ich nun lese, lassen mich gespannt erwarten, was da kommen mag: „Wenn ich das Wort heiter höre, denke ich immer zuerst daran, wie gerne ich ein heiterer Mensch wäre, gelassen, entspannt, leicht durch den Tag schwebend. Ich denke an den Neid, wenn ich Menschen begegne, die sich so im Leben bewegen. Zweitens aber fällt mir stets eine Fernsehsendung ein, die in meiner Kindheit überaus beliebt war. Sie hieß Was bin ich? Ein heiteres Beruferaten. Den ersten Satz hat Axel Hacke bei mir abgeschrieben (kleiner Scherz am Rande).

Denken wir das Undenkbare – Fühlen wir das Unfühlbare – Schweigen wir, wo wir nicht antworten können? Aron Bodenheimer und Eva Menasse

Aron Bodenheimer lässt für sein Verständnis des Verstehens keine andere Prämisse gelten, als dass es sich um einen Akt handele, der sich jedesmal neu einstelle, neu entwickele, und dieses Erlebnis dem Überdenken zu erschließe: „Dem Nachdenken, das ist: dem Zustimmen, viel eindringlicher aber dem kreativen Widersprechen.“ (in: Verstehen heißt antworten, Stuttgart 1992, Vorwort)

Zur Erinnerung:

Details

 Veröffentlicht: 20. Dezember 2022

Verstehen heißt antworten - so meint Aron Bodenheimer (Stuttgart 1992, S. 169f.).

"Fragen kann krank machen, sagen kann bewahren - selbst wenn der Tod schon vor der Tür steht. Sogar dann, wenn es der nukleare Tod ist, das Ende im atomaren Genozid. - Im Gespräch über diesen treffen wir, es ist nach Tschernobyl, eine Familie an, irgendwo rund um die Erde, und das Kind fragt: 'Was passiert, wenn die Atombombe losgeht?' Dieses Kind hat Eltern, denen Wahrheit die Deutlichkeit der Realität ist, nicht die bewegende Wirkung des Wortes. Und aus dem heraus, was ihnen als Liebe zur Wahrheit gilt, antworten sie ohne weitere Besinnung dem fragenden Kind:

'Dann sind wir alle tot.'

Nur, die Eltern überhören, dass das Kind sich nichts hat vorstellen können: weder unter den Realitäten noch unter den Bedrohungen dahinter, noch unter dem Text und dem Sinn dieser Antwort. Atomare Bedrohung ist diesem Kind, was der Tod jedem Kind ist, und wenn es fragt, was es mit der Bombe auf sich hat, so fragt es, wie und was es sonst zu fragen gewohnt ist, um zu erkunden, wo seine Eltern sind und wer sie ihm sind. Das Kind will wissen, ob es sich seiner Eltern vergewissern darf. Und darauf kann die Antwort nicht heißen: 'Dann sind wir tot', sondern:

'Dann sind wir bei dir.'

Hannah Arendt - eine besonders kluge Frau!

Bleibt man wach und zapft den guten, alten Wein an, der sich in einer üppigen Bildungsbiografie in den besonderen Jahrgängen offenbart, dann gelangt man zwangsläufig irgendwann auch wieder einmal zu Hannah Arendt (HA). Vor zwanzig Jahren – kurz nach ihrem Erscheinen – hat Claudia mir das Denktagebuch Hannah Arendts geschenkt: Hannah Arendt, Denktagebuch bei Piper München und Zürich, 2002, 2 Bände. Es ist aus gegebenen Anlässen an der Zeit, sich einen gute Flasche der Arendtschen Spätlese  zu gestatten. In den Anmerkungen zu Heft XIII (im zweiten Band, Seite 998) kommentieren die Herausgeberinnen, Ursula Ludz und Ingborg Nordmann:

„Wie dem auch sei, die Eintragung (auf die hier unter anderen Bezug genommen wird, FJWR) reiht sich ein in H.A.s Bemühen um eine Neubestimmung des Politischen, wie es im Denktagebuch erstmals in der Eintragung >Was ist Politik?< (Heft I,21, S. 15ff.) sichtbar wird (vgl. auch Heft II, 30).“

Beginnen wir genau damit und lesen (Erster Band, S. 53):

Der Mensch – die Menschen:
In den totalitären Regimen erscheint deutlich, dass die Allmacht des Menschen der Überflüssigkeit der Menschen entspricht. Darum entspringt aus dem Glauben, dass alles möglich sei, unmittelbar die Praxis, die Menschen überflüssig zu machen, teils durch Dezimierung und generell durch die Liquidierung der Menschen qua Menschen.“ (Hervorhebung, FJWR)

Diese Eintragung hat HA im Januar 1951 in ihrem Denktagebuch vorgenommen – sechs Jahre nach den von den Nazis ins Werk gesetzten Menschheitsverbrechen (im Übrigen ein Jahr vor meiner Geburt). Alle folgenden Hervorhebungen - FJWR)

Kluge Frauen und kluge Männer (in progress) - vor allen Eva Menasse zugedacht

Dass ich zu den klugen Frauen Eva von Redecker zähle, ist mittlerweile sattsam bekannt. Zu den klugen Frauen gehört zweifelsfrei auch Eva Menasse. Ihre Betrachtungsweisen von Welt und Zeit reflektieren ganz grundlegend, was Peter Sloterdijk einmal mit Blick auf einen anderen klugen Mann folgendermaßen auf den Punkt gebracht hat. Es geht dabei um die Unterscheidung von Weltbildern erster und zweiter Ordnung – eine Unterscheidung, die einer Vorbemerkung bedarf. So leite ich Sloterdijks Beschreibung mit einer eigenen kleinen Einleitung ein:

Warum Bildung immer wichtiger wird: Peter Sloterdijk weist darauf hin, dass jene, „die für sich einen höheren Ernst reklamieren, weil sie als Fürsprecher einer Realität erster Ordnung auftreten“ – in der Regel distanzlos agieren. Eine distanzierte Grundhaltung – eingedenk unvermeidbarer blinder Flecken – fördere hingegen „eine Neigung zum Desengagement von fixen Meinungspositionen“. Hier komme zum Tragen, was Niklas Luhmann eine Haltung der Selbst-Desinteressierung nennt. Warum dies so ungemein wichtig ist, wird überdeutlich in der von Peter Sloterdijk vorgenommenen Unterscheidung von Weltbildern erster Ordnung auf der einen Seite und einer Haltung, die den Realitätsglauben als auswechselbare Größe begreift, auf der anderen Seite:

Denn es geht hier, möchte ich vermuten, um nichts Geringeres als das allen Weltbeschreibungen erster Ordnung inhärente Paranoia-Potential und die von ihm gebundene und entbundene Gewalt. Wo immer Menschen anfangen, ihre Weltbilder distanzlos zu bewohnen und ihre Einteilungen des Seienden im Ganzen als eine Arena realer Kämpfe zu erleben, dort sind sie der Versuchung ausgesetzt, für ihre Identitätskonstrukte bis zum bitteren Ende zu kämpfen und für ihre Fiktionen zu töten.“ (Peter Sloterdijk, in: Luhmann Lektüren, Berlin 2010, S. 153)

   
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