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Lautverschiebung (22)

Über die Jahre I

Der kleine Winzig sprach zu seiner Frau:
Komm in den totgesagten Park und schau
Wie alle Kräutlein wieder blühn.
Sie blühen rotgelblilablau
Und alles ist voll Hoffnungsgrün!

Der kleine Winzig sprach zu seiner Frau:
Vertreib mit mir die Trübsal und das Grau!
Ich bin so selbstbewusst und kühn
Und weder trunken, blind noch blau,
Die Liebe soll auf’s Neu erblühn.

Der kleine Winzig sprach zu seiner Frau:
Nimm’s Leben leicht, nicht so genau!
Die Last, das Leid und auch die Mühn
Sind Mörtel im Familienbau,
Worüber nachts die Sternlein glühn!

Der kleine Winzig sprach zu seiner Frau:
Zur Welt gehörn der Eber und die Sau!
Die Frau ist keine platte Fläche,
Sie hat Kontur und Vorderbau,
Den ziert sie auch mit Wäsche!

K(l)eine Trauer

Alle Frauen werden Nonnen
– Jung und alt!
Mein heißes Blut ist nun geronnen
Und mein Herz wird kalt.

Erbärmlich fleh ich um ein bisschen Zeit.
Der Kopf denkt: Nein!
Die Seele schreit –
Und alle sind allein.

Erde, Wasser, Luft und Sonne,
Alles schien schon dein/mein.
Kosmisch diese Wonne,
Ach du/ich armes Schwein.

Leben ist auch Pflicht!?
Gewiss mein Kind –
Adel durch Verzicht,
Wo Astern Rosen sind.

Wo Sommer Winter bleiben.
Hör doch Bruder:
Lass das Schreiben,
Geh ans Ruder!

Lass es rollen
Durch die Welt!
Du musst wollen,
Wo und wann es hält.

Draw a distinction! 

Unterschiede,
Die einen Unterschied machen,
Beleben das Leben.
Dies dacht ich grad eben.

Fast nüchtern und unaufgeregt
Pfleg ich Arschloch und Zähne.
Die Kellnerin hat gut aufgelegt:
Und wie ich so wähne

Regt sich ein wenig die Trauer.
Bescheiden – aber immer ein Abschied –
Sitzt der Frosch vor der Mauer,
Beginnt müde sein Lied.

Er weiß: Heute erhört ihn niemand.
Da bleibt er lieber gleich stille
Und blickt in ein Land
Voll Lust, doch mit nüchterner Brille.

Unterschiede,
Die einen Unterschied machen,
Beleben das Leben.
Dies dacht ich grad eben,
Was will man da machen.

Es vollzieht sich das Leben
Und manchmal die Ehe.
Mal Wohl und mal Wehe.
Draw a distinction – na eben!

Paarlauf

Schau, das Paar und seine Kreise –
Wie es sprüht und lebt
Und auf synchrone Weise
Über allen Niederungen schwebt.

Sieh nur ihre Augen strahlen
Und ihr Lachen in der Sonne blitzen,
Ihre Körper fliegen, malen,
Während ihre Spuren ritzen

Feine Linien in das Eis.
Ihre Herzen jubilieren, springen,
Ihre Seelen schimmern rein und weiß,
Engel hört man Halleluja singen.

Ach, so leben wir doch alle
Für ein Jahr, auch mal für zwei,
Tappen blindlings in die Falle
Und aus Eigenart wird Einerlei.

Immer wieder habe ich auf sprachlich verdichtete Formen der Daseinsbeschreibung und –bewältigung  zurückgegriffen. Wie Seismographen zeichnen sie Eruptionen auf; in der Regel orientiert an wendepunktrelevanten Ereignissen und Geschehnissen. Die weiter oben wiedergegebenen fünf Gedichte sind nach 1997 entstanden. Sie weisen eine erste – zunächst sanfte – dann immer bestimmter auftretende Lautverschiebung auf. Sie taugen erstmals dazu eine rein düstere, destruktive Haltung zu ersetzen durch eine Perspektive, die mit einer Mischung aus sanfter Resignation, Humor und Selbstironie so etwas erzeugt wie eine Beobachtungsqualität zweiter Ordnung. Eine solche Qualität nimmt dann Konturen an, wenn genügend Abstand von den Dingen sowohl Selbstdesinteressierung als auch Selbstironie ermöglicht. Insgesamt sind aus meiner Feder etwa 120 Gedichte geflossen, die sich genau an diesem markanten Unterscheidungsmerkmal differenzieren lassen. Es werden weitere Gedichte folgen, die die beobachtete Lautverschiebung zu einer Sinnverschiebung anstoßen, in deren Folge eine eher kindlich-naive-trotzige Haltung einer widerborstigen Welt gegenüber einer zunehmend reifen und realistischeren Perspektive weicht.

Darin spiegelt sich vielleicht mehr und mehr die von Reinhold Niebuhr  in einem Aphorismus empfohlene Haltung, mit Gelassenheit, die Dinge hinzunehmen, die wir nicht ändern können, mit Mut, die Dinge zu ändern, die wir ändern können, und mit Weisheit, das eine vom anderen unterscheiden zu  können. Diese Weisheit wird einem aber ganz offensichtlich nicht in den Schoß gelegt. Eine weitere hilfreiche Unterscheidung in diesem Zusammenhang übernehme ich von Odo Marquard: Das Zufällige - das, was auch anders sein könnte, weil es durch uns änderbar ist - versteht Marquardt als eine "beliebig wählbare und abwählbare Beliebigkeit". Er nennt es das Beliebigkeitszufällige. Davon unterscheidet Marquard das Zufällige, das zwar auch anders sein könnte, aber gerade nicht durch uns änderbar ist (Schicksalsschläge: also Krankheiten, geboren zu sein und dgl.).  Marquard geht also davon aus, dass es eben nicht nur das Beliebigkeiteszufällige gibt, sondern auch das Schicksalszufällige.

Kleine Randbemerkung zur Philosophie Odo Marquardts: Dazu gehört essentiell die Überzeugung, dass es überwiegend Zufälle dieser zweiten Art (Schicksalszufälle) sind, "die als natürliche und geschichtliche Gegebenheiten und Geschehnisse, welche uns zustoßen, unser Leben ausmachen (Zukunft braucht Herkunft, Stuttgart 2003/2015, S. 157f.)". Er geht so weit zu behaupten, dass das Schicksalszufällige die Wirklichkeit unseres Lebens ausmacht. Das habe vor allem Hermann Lübbe gezeigt - Handlungen würden dadurch zu Geschichten, dass ihnen etwas dazwischenkomme, passiere, widerfahre: "Eine Geschichte ist eine Wahl, in die etwas Zufälliges - etwas Schicksalszufälliges - einbricht: darum kann man Geschichten nicht planen, sondern muss sie erzählen (ebd., S. 158)."

Ja, gewiss ist dies wohl auch zu meinen Urmotiv geworden Geschichten zu erzählen – nunmehr unter der Maßgabe einer maßgeblichen Lautverschiebung, die eine behutsame, aber markante Verschiebung der Sinnkoordinaten zur Folge hat. Die von Odo Marquard angebotene Unterscheidung wird auch von dem bereits mehrfach erwähnten Paartherapeuten Detlef Klöckner aufgenommen. Dabei ist zunächst für ihn deutlich, dass sich im Kontext einer Langzeitperspektive quasiautomatisch Klippen auftürmen, „an denen das Paar scheitern oder wachsen kann“. Und ebenso deutlich sind für ihn die Unterschiede, die sich mit Blick auf lebenslange Monogamie auf der einen Seite und serielle Monogamie auf der anderen Seite ergeben:

„Manche persönliche und manche gemeinsame Transformationen sind nur erfahrbar, wenn man in einer Beziehung verbleibt, andere nur, wenn man immer wieder wechselt oder sich fern von Beziehungen aufhält. Um diese Unterschiede kommt niemand herum. Man wird im Leben also einiges oft, anderes weniger und vieles nicht erleben, je nachdem, welche Weichen man sich selbst stellt, und natürlich, welche das Leben zufällig anbietet und aufbürdet (Detlef Klöckner, Phasen der Leidenschaft, Stuttgart 2007, S. 100).“

Wer im Sinne des Phasenmodells, das Detlef Klöckner entwirft, bis zur letzten Phase – bis zum Fürsorglichen Finale – durchhält, weiß, dass man eine Ehe so wenig planen kann, wie Geschichten; also bleibt im Grunde genommen – sofern man sich selbst auf der Spur bleiben will – nur die Möglichkeit, zu erzählen: Phase I  –  VERZAUBERUNG – bildet den Auftakt meiner Erzählungen, genauso, wie Detlef Klöckner sie charakterisiert, als singulare Verliebtheit, die vom mentalen Ausnahmezustand bis zur Lust-Angst-Ambivalenz reicht. Phase IV – INTIME DIALOGE – geht ein in die Kapitel 20 und 21. Klöckner spricht von Gewohnheiten und Umbrüchen und Freundschaft; von Wiederverzauberung versus unromantischer Fixierung. Sieben Liebesbriefe – geschrieben zwischen März und Juli 2008 – belegen die Wiederverzauberung (in der Mohnfrau, Seite 109-133). Gemeinsam haben wir - Claudia und ich, je auf unsere Weise - versucht unser Schiff durch hohen Seegang zu steuern, nachdem wir beide erfahren haben, welche Weichen das Leben zufällig anbietet und uns auch aufbürdet. Mehrfach schon habe ich erwähnt, dass wir auf ein gemeinsames FÜRSORGLICHES FINALE hoffen; Phase V nach Klöckner; im besten Falle geprägt von einer komplementären Vertrautheit und dyadischer Dämmerung. Hier geht es noch einmal und zuletzt um existentielle Erfahrungen, Vermächtnis und in der Regel unvermeidbare Degeneration. Was uns jetzt schon hilft – und warum ich diese Aufzeichnungen auch als Vermächtnis betrachte – hängt mit unserer starken generativen Verankerung zusammen. Detlef Klöckner schreibt dazu:

"Phase V ist ein Spagat des abnehmenden Lebens. Das Paar steht vor der Bilanz seiner zurückliegenden Aktivitäten. Es braucht selbst Stütze und hat die Aufgabe, seine Lebenserfahrung und Werte an Nachfolgende zu vermitteln. Die leidenschaftlichen Wendungen der Altersbeziehung gehen über das Individuelle hinaus. Es ist eine Suche nach Versöhnung, Weitergabe und spirituellem Halt (S. 232f.).“

Ein Aspekt der Bilanz unserer zurückliegenden Aktivitäten lässt sich lyrisch verdichten, indem die Rückschlüsse aus Phase IV – Intime Dialoge – eine andere Klangfärbung annehmen als die von mir – vor allem in Phase I – Verzauberung – angebotene Liebeslyrik:

Überstehn

Wir sind die Silben
Auf dem Sprung zur Sprache
Wir schreiben dieses Buch,
Wir haben es geschrieben.

Du und Ich,
Erst zaghaft, überrascht,
Dann freudig, sanft getrieben,
Als ging es ums Verlieben.
So traumhaft finden sich die Worte,
Denn jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.


Doch streben wir nicht zu den Sternen,
Wir wissen doch:
Aus dieser Welt gilt es zu lernen.
Wir segeln dabei hart am Wind
Und sehen beide,
Was der Horizont verspricht.
Dahinter liegt Phantasia
Doch nicht für uns.


So können wir bewahren,
Was andern früh im Feuer schon verbrennt,
Wenn Alter blind in Ego rennt.


Wir lindern unsre Schmerzen,
Bewahren uns in unsren Herzen
Und mischen die Essenzen neu.


Wir bleiben auf der Hut,
Und finden immer neuen Mut,
Und werden nicht das Höllenfeuer sehn,
Wir werden unverzagt uns überstehn.