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Mit Wolfgang Meseth, Matthias Proske und Frank Olaf Radtke (2012) auf dem Weg zu einer kontingenzgewärtigen Unterrichtstheorie!? Oder: Wie kann Unterricht überhaupt gelingen?

Einleitung

Niklas Luhmann und Klaus Eberhard Schorr (1979) haben die Schulpädagogik und die Allgemeine Didaktik im Engeren darauf hingewiesen, dass das Unterrichten als eine nicht vollständig definierbare Aufgabe gesehen werden muss. Eine Aufgabe wäre nämlich dann vollständig definiert, wenn alle Inputs vollständig und eindeutig beschreibbar wären, es für bestimmte Situationen bestimmte Strategien gäbe, die bestimmter Kombinationen von Inputs bedürften und diese Strategien so objektiviert wären, das sie für jeden Durchführenden denselben Sinn ergäben. Luhmann und Schorr sehen die Aufgabe von Unterricht schon im Bereich der Inputs als nicht vollständig beschreibbar an. Gleichwohl - so Luhmann - könne kein Erzieher und kein Lehrer ohne die Annahme auskommen, dass er die Möglichkeit hat, den, den er erzieht, zu verändern. Schon Immanuel Kant hat die Frage beschäftigt, wie denn die Freiheit bei dem Zwange (den insbesondere Schule und Unterricht im Kontext der Schulpflicht verkörpern) zu kultivieren sei. Auf diese zentrale Ausgangsfrage gibt die Didaktik unterschiedliche Antworten:

 

Die geisteswissenschaftliche Pädagogik z.B. löst den Widerspruch dadurch, dass sie ihn auf zwei unterschiedlichen Ebenen fasst: in die Bildungstheorie auf der einen Seite und in didaktische Modelle auf der anderen Seite: „Während im Bildungsbegriff die Unverfügbarkeit des Lernens über die dialektische Verschränkung von Bildungsangebot und Bildungsprozess beschrieben wird, wird auf der Ebene der konkreten Unterrichtsplanung – etwa der didaktischen Analyse von Wolfgang Klafki (oder auch anderer Modelle wie z.B. der ‚Berliner Didaktik’) – ein Verfahren zur Planung von Unterricht entwickelt, das Verfügbarkeit suggeriert bzw. keine Kategorien von Unverfügbarkeit bereitstellt. Der Bildungsbegriff markiert die Selbsttätigkeit des Individuums im Lernvorgang und damit die Unverfügbarkeit des Lernens aus der Perspektive des Lehrenden, während hingegen Unterrichtsplanungsmodelle als Theorie des Lehrens Unterrichtskausalität voraussetzen und eine Nichtbeliebigkeit des Unterrichtsarrangements suggerieren (Annette Scheunpflug 2004)." 

Die nachstehende kritische Aufarbeitung einer kontingenzgewärtigen Unterrichtstheorie, die auf einem kommunikationstheretischen Paradigmenwechsel beruht, stellt sich - gerade eben weil sie Kontingenz überhaupt denken kann - solchen Widersprüchen.

Anhand solcher Widersprüche lässt sich im Übrigen auch der aktuelle Diskurs um eine angemessene Reflexion unterrichtspraktischer Vorschläge und ihre theoretische Begründung nachvollziehen. In der Pädagogik (11/15, S. 14-17) entwickelt Josef Leisen (Leiter des staatlichen Studienseminars für das Lehramt an Gymnasien in Koblenz) unter dem Titel: "Lernumgebung und Lernschritte durch Moderation steuern - Wie man 'anders' im Unterricht kommunizieren kann" eine diskursorientierte Idee von Unterricht, an der sich der Gegensatz einer von Habermas bzw. von Luhmann inspirierten Unterrichtstheorie deutlich belegen lässt. Josef Leisen will mit seinem Beitrag zeigen, wie "Lehrkräfte zu Moderatoren im Lernprozess werden (sollen)" und damit vor allem auch eine "andere Kommunikation mit den Schülern" begründen:

"Handwerkliche Routine im Moderieren macht frei für die Möglichkeiten der Situation, für situativ-flexibles Moderieren. Das kann zu geschmeidigen Lehrer-Schüler-Kommunikationen führen, muss jedoch noch nicht den Geist des Diskurses atmen. Eine gute Moderation ist diskursiv angelegt und erzeugt Diskursivität. Aber worüber? Diskursivität entfaltet sich im Ringen um die Sache [...] Die Lerner sind als Begleiter, Moderatoren und Anreger mitverantwortlich. Bildung und Lernen findet im gemeinsamen Austausch aller Beteiligten statt. Dabei ist die Art des Geschehens, die bewusste Beteiligung von Lernern und ihrer Bindung zueinander, von entscheidender Bedeutung. Lernen ist ein nonverbal und verbal gesteuertes Beziehungsgeschehen." Und schließlich: "Voraussetzung und Grundlage gelingender und ertragreicher Moderation sind, dass die Lehrkraft dem Gegenstand gewachsen sein muss, Diskurse wollen muss. Sie muss also die passende Diskurshaltung haben und dem Diskurs mit anderen standhalten und mehrwertfähig sein."

Alle Ausführungen von Josef Leisen sind pädagogisch höchst wertvoll - im Sinne einer humanistischen Semantik (von Unterricht). Die angestrebten Prozesse und Bildungseffekte sind wünschenswert und mögen mit Blick auf die gute alte Zeit eines Gymnasiums mit stark homogenisierten Lerngruppen sogar aussichtsreich sein. Mit Blick auf die gegenwärtigen Ausgangslagen schulischen Lernens bilden sie aber keine adäquate Beschreibung dieser Ausgangslagen und mithin auch nur bedingt Handlungsanweisungen, "die mehr wert sind, als dass sie gut gemeint sind" (Robert Speamann in seiner Laudatio auf den Hegel-Preisträger Niklas Luhmann, s.u.). Die Bedingungen für adäquatere Beschreibungsversuche müssen daher über die Diskurstheorie von Jürgen Habermas hinaus eine kontingenzgewahre Unterrichtstheorie berücksichtigen, um nicht allzu unsanft aus ihren diskursiven Traumwelten zu erwachen:

Zum Ansatz von Wolfgang Meseth, Matthias Proske und Frank-Olaf Radtke

Wolfgang Meseth, Matthias Proske und Frank-Olaf Radtke (2012) betonen, dass selbst in der empirischen Bildungs- und Unterrichtsforschung weitgehend Konsens darüber bestehe, Unterricht als soziale Praktik zu begreifen, deren Wirkungen ungewiss seien:

"Zweifellos handelt es sich beim Unterrichten um ein hochkomplexes, nicht lineares soziales Geschehen, in dem retrospektiv Wirkungen erkannt, aber nicht vorhergesagt werden können. Das zwingt zu einer, der pädagogischen Tradition durchaus geläufigen, Selbstbescheidung. Man muss fehlende Kausalität durch Wahrscheinlichkeit ersetzen und von direktem 'Bewirken' auf indirektes 'Ermöglichen' in der doppelten Bewegung von 'Geschehen-Lassen/Einschränken' umstellen (Meseth u.a. 2012, 223)."

Nach Meseth u.a. gehen inzwischen alle Ansätze, die seriöse Unterrichtsforschung betreiben, von doppelter Kontingenz als einer unhintergehbaren Eigenschaft von Unterricht aus. Dies bedeutet, dass in der unterrichtlichen Kommunikation - wie im Übrigen bei jeder Kommunikation - die Akteure aus einer Mehrzahl von Möglichkeiten ihre Anschlüsse auswählen und wechselseitig beeinflussen. Um diese Ausgangslage in ihrer Komplexität begreifen zu können, ist eine Auseinandersetzung mit der "Luhmannschen Lektion" (auch für Lehrer und diejenigen, die Lehrer ausbilden) unverzichtbar. Mit Blick auf das Phänomen Unterricht ergebe sich - so Meseth u.a. - aus der doppelten Kontingenz der Umstand, "dass zwischen Lehren und Lernen, der Vermittlung von Wissen und seiner Aneignung, zwischen Kommunikation und Bewusstsein, eine Kluft bestehe" (siehe auch die an Luhmann anschließende Auseinandersetzung mit der Frage: Was ist Kommunikation?).

Meseth, Proske und Radtke bemühen sich in ihrem Beitrag vor allem auch einen Zugang zur operativen Ebene des Unterrichts zu eröffnen. Dazu greifen sie auf die von Niklas Luhmann vorgeschlagenen Unterscheidungen zur Beschreibung sozialer Systeme zurück: Die Sach-, die Sozial- und die Zeitdimension.

Zur Ausgangslage und der Umstellung auf eine kommunikationstheoretische Perspektive (225ff.)

Meseth u.a. markieren 1962 als das Jahr, in dem Niklas Luhmann erstmals darauf hinweist, "das kausal determinierte Systeme 'im Bereich des sozialen Lebens' nicht vorkommen, da es sich bei sozialen Systemen um (zukunfts-)offene, d.h. dynamische, sinnbasierte, nicht kalkulierbare Systeme mit grundsätzlich unbegrenzten Veränderungsmöglichkeiten handele, bei denen mit Lernen auf allen Seiten gerechnet werden muss (Meseth u.a., 225)." Luhmann plädiere deshalb dafür, im Kontext des Sozialen von einer "linearen Gegenstandsvorstellung" Abstand zu nehmen. In komplexen, funktional differenzierten Gesellschaften (siehe die Luhmannsche Lektion) sorgten "symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien (Geld, Macht, Liebe, Wahrheit usw.) dafür, das Unwahrscheinlichkeitsproblem von Kommunikationserfolgen zu lösen. So wende z.B. Geld für den Bereich den es ordnen könne, Gewalt ab - und insofern diene eine funktionierende Wirtschaft immer auch der Entlastung von Politik: "Geld ist der Triumph der Knappheit über die Gewalt (Niklas Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt 1988, S. 253)."

Für die Unterrichtsforschung werden vielleicht mit folgender Idee der "Umstellung  von einer handlungs - auf eine kommunikationstheoretische Perspektive" die Vorteile deutlich: "Man gewinnt Distanz zu einer akteurszentrierten Beobachtung des Unterrichts, in der dieser nur tätigkeitsbezogen als Realisierung von Plänen und Absichten der Lehrperson erscheinen kann. In einer kommunikationstheoretischen Gegenstandbestimmung, die den Ereignischarakter des Sozialen betont, kommen Handlungen aller Beteiligten bei der Hervorbringung der sozialen Ordnung vor. Sie werden aber lediglich als Bestandteil, ein Element der Evolution des Unterrichts behandelt, der sich als nichtprognostizierbarer Effekt des Zusammenspiels von Schüler- und Lehrerbeiträgen selbst fortschreibt (Meseth u.a., S. 226)." Eine solche "kontingenzgewärtige Ausgangslage" zwingt uns nach Meseth u.a. in eine Distanz zu allen Annahmen eines Kausalitätskontinuums zwischen den Verhaltensweisen der beteiligten Akteure. Auf der anderen Seite zwinge sich mit Blick auf die operative Durchführung von Unterricht die Frage auf, wie man angesichts und trotz dieser Ausgangslage über Kommunikation "in eine bis dahin unbestimmte Welt Festlegungen" einführen könne, um damit Kontingenz einzuschränken (Meseth u.a. beziehen sich auf Dirk Baecker 2005). Eine Antwort: "Durch absichtsvolle Kontingenzeinschränkung werden Sinnräume als Erwartungsräume erzeugt, die dann bestimmte Anschlüsse wahrscheinlicher werden lassen und wieder andere ausschließen (Meseth u.a. in Anlehnung an Kieserling 1999)."

Meseth u.a. argumentieren, pädagogische Kommunikation in der Form des Schulunterrichts könne selbstverständlich nicht auf die Erwartung verzichten, "dass Schüler/innen die in Rede stehenden Aufgaben in einer Weise bearbeiten, die den ihnen zugrunde liegenden Erziehungsansprüchen möglichst nahe kommen (227)". Und selbstverständlich betonen sie auch, dass es um Erziehung in dem Sinne gehe, "dass Lernen fokussiert und der Lernerfolg kriterienbezogen kontrolliert wird". Eine dementsprechende Einschränkung von Möglichkeitsbedingungen stellen Meseth u.a. auf drei Ebenen (Meseth u.a., S. 228) fest:

Semantik: Hier geht es um pädagogische Begriffe, Ideen und Programme. Bezogen auf die Selbstbeschreibung und Selbstvergewisserung von Unterricht im Sinne von Referenzen nennen Meseth u.a. wissenschaftliche Erkenntnisse, anthropologische Annahmen, moralische Prinzipien, politische Vorgaben und professionstheoretische Orientierungen.

Organisation: Hier ist nach Meseth u.a. z.B. die Ebene der materiellen Rahmenbedingungen gemeint: "Beginnend mit der Schulpflicht wird über die Klassenzusammensetzung, den Lehrplan, die Periodisierung des Unterrichts, das Gebäude, die Lehrerbildung usw. (ich erwähne die aktuelle Diskussion um die Klassenmesszahl neben den Strukturfragen, Verf.) als Voraussetzung für Erziehungsprozesse entschieden. Auf diese Weise werden Einschränkungen der Kontingenz des Erziehungsgeschehens vorgenommen, die bis auf die Ebene der Interaktion durchschlagen (Klassenmesszahlen, Verf.)."

Interaktion: Hier gerät die operative Ebene der Ausgestaltung pädagogischer Kommunikation in den Blick. Es geht hier natürlich um die spezifische Formenbildung von Unterricht. Meseth u.a. sprechen von der Verkettung von Ereignissen: Vermittlung, Aneignung, Bewertung. Die jeweiligen Interpretationen der Akteure könnten sich in unterschiedlicher Weise an den semantischen und organisatorischen Rahmungen orientieren: "Als Kommunikationsereignisse verknüpft, lassen sie sich retrospektiv als Ordnungsbildungen rekonstruieren, die sich zu der Form Unterricht verdichten."

Unterricht als Form pädagogischer Kommunikation (S. 229ff.)

Unterricht wird zunächst definiert als eine "besondere, wissens- bzw. belehrungszentrierte Formbildung der pädagogischen Kommunikation unter Anwesenden". Wie alle sozialen Systeme - betonen Meseth u.a. mit Niklas Luhmann - lasse sich auch Unterricht analytisch in drei Dimensionen beschreiben:

"Unterricht ist zentriert um einen Gegenstand/ein Thema (Sachsdimension); er findet in einer bestimmten Schule/Klasse statt, die einem gegebenen Ordnungsrahmen unterliegt, der Erwartungen über die Art und Weise formuliert, wie miteinander interagiert und kooperiert wird (Sozialdimension); und er ist Teil einer organisatorisch spezifizierten Sequenz von vergangenen und künftigen Einheiten, die wiederum einen Anfang und ein absehbares Ende haben (Zeitdimension)."

 

Sachdimension (229):

Zunächst einmal steht hier die Frage im Vordergrund, welche Inhalte mit welchen Zielsetzungen und mit welchen Mitteln an welche Gruppe von Lernenden vermittelt werden sollen. Meseth u.a. weisen darauf hin, dass die damit verbundenen "planungstechnischen Probleme" - je nach Tradition didaktischen Denkens - sehr unterschiedlich bearbeitet werden. Kommunikationstheoretisch stelle sich die Frage, wie die Differenz von Vermittlungsabsicht und Aneignungsrealität von Wissen operativ gehandhabt werde, wie also Kontingenz in Bezug auf das triadische Verhältnis von Lehrperson, Schüler und Sache bewältigt werde, wobei es immer um Massenerziehung - um viele Schüler/-innen gehe. Erst hier ergibt sich eine angemessene kontingenzgewärtige Beschreibung der Ausgangslage allen Schulunterrichts:

"Lehrpersonen und Schüler, die als Teilnehmer an der Kommunikation über ein Thema/eine Sache die kommunikativen Ereignisse gemeinsam erzeugen, beobachten und erleben, schließen auf der Basis ihrer Erlebnisse in nicht vorhersehbarer Weise an vorangegangene Ereignisse an. Alle Beteiligten erleben und verstehen auf eine von mehreren möglichen Weisen. Weil die von der Lehrperson gewählten didaktisch-methodischen Darstellungsformen der Sache nicht identisch sind mit dem Dargestellten, weil die Darstellung eines bestimmten Phänomens eben nicht das Phänomen selbst repräsentiert und restlos erklärt erzeugt das Unterrichtsthema einen erheblichen Sinnüberschuss."

Diese Ausgangslage habe ich gemeinsam mit Peter Rödler vor Jahren versucht in einer Neuinterpretation des "Didaktischen Dreiecks" zu berücksichtigen. Trotz aller Fortschritte in der  professionstheoretischen Selbstvergewisserung (siehe dazu meine Zusammenfassung zu Alfred Holzbrecher), wird nun in der Rekonstruktion Meseths u.a. die Achillesverse und damit die Grenze aller linear-kausal orientierten Unterrichtsverständnisses benannt. Mehr noch tasten sich Meseth und seine Mitstreiter an das unüberwindbare Grundparadoxon allen Unterrichtens heran, das von Niklas Luhmann 1991 (S.23) benannt worden ist: Pädagogik/Unterricht steht "vor dem Problem, dass sie nicht kann, was sie will. Sie hat es mit psychischen Systemen zu tun, die nur tun, was sie tun."

Von außen - so Meseth u.a. - könne man die Lehrperson, die eine pädagogische Absicht verfolge, beobachten, wie es ihr beispielsweise durch Lehrerfragen kommunikationsstrategisch gelinge oder misslinge, die Aneignungsoptionen/Anschlussmöglichkeiten der Schüler gezielt einzuschränken. Dazu versuche sie, deren nicht sichtbare, "innere" Aneignungsweisen zur Sprache zu bringen, indem sie ihnen "Äußerungen" abverlange. Das nun folgende Zitat offenbart das Dilemma allen diesbezüglichen Lehrerhandelns:

"Auf diese Weise sollen Lernprozesse, die unbeobachtbar im Bewusstsein der Schüler ablaufen, auf die 'sichtbare Seite' der Kommunikation gezogen werden. Zumindest kann die Lehrerin die Äußerungen als Indikatoren behandeln und Rückschlüsse auf (Lern-)Vorgänge im Bewusstsein der Schüler ziehen. Dazu muss sie mit ihren Fragen und Aufgaben versuchen, die Erlebnis-, aber vor allem die Wahl- bzw. Anschlussmöglichkeiten der Schüler didaktisch-methodisch-rhetorisch so einzuschränken, dass sich die Wahrscheinlichkeit intentionsgemäßer, in ihrem Sinne 'richtiger' Aneignung des zu vermittelnden Wissens über Sachen erhöht. Die Lehrperson sucht nach der 'zwingenden' Frage, die Schüler geben durch ihre Antworten zu erkennen, wie sie verstanden haben, und provozieren neue Interventionen der Lehrerin - bis die Stunde zu Ende ist."

Für die meisten Lehrer/-innen mag es schmerzlich und kränkend sein, sich dieser kontingenzgesättigten Lage ausgesetzt zu sehen. Nur so lässt sich vermutlich nachvollziehen, warum sich Niklas Luhmann und Klaus Eberhard Schorr mit fortgesetzten Anfeindungen aus dem pädagogische Lager konfrontiert sahen. Ich erinnere an dieser Stelle noch einmal an ihre bereits erwähnte Formulierung,

"dass Unterrichten als eine nicht vollständig definierbare Aufgabe angesehen werden muss. Eine Aufgabe wäre nämlich dann vollständig definiert, wenn alle Inputs vollständig und eindeutig beschreibbar wären, es für bestimmte Situationen bestimmte Strategien gäbe, die bestimmter Kombinationen von Inputs bedürften und diese Strategien so objektiviert wären, das sie für jeden Durchführenden denselben Sinn ergäben. Luhmann und Schorr sehen die Aufgabe von Unterricht schon im Bereich der Inputs als nicht vollständig beschreibbar an."

Luhmann und Schorr sehen die Aufgabe von Unterricht schon im Bereich der Inputs als nicht vollständig beschreibbar an. Was wirkt auf den Schüler, dass er lernt?

• Ist es die Sprache der Lehrkraft?
• Ihr Aussehen und ihre Sympathiewerte?
• Die Klassenatmosphäre?
• Der familiäre Hintergrund?
• Das Wetter?
• Oder die Klassenkameraden? ...

Nicht nur die Frage, ob eine Lehrkraft durch bestimmtes Handeln angesichts der Freiheit ihrer Schüler bestimmte Wirkungen erzielen kann, sondern bereits die Frage, was eigentlich alles auf den Schüler einwirkt, ist von daher ein Problem der Beschreibung von Unterricht.

Abschließend zu den Ausführungen Meseths u.a. zur Sachdimension von Unterricht sei der grundlegende Vorbehalt betont, dass der Versuch, bewusstseinsbasierte Lernvorgänge auf die "sichtbare Seite" der Kommunikation zu ziehen ein unauflösbares Paradoxon markiert. Luhmann stieß - und bis heute stoßen wir - auf das Unverständnis der Gekränkten, als er trocken und nüchtern - wie meist - formulierte: "Ein soziales System kann nicht denken, ein psychisches System kann nicht kommunizieren."

 

Sozialdimension (232):

Eine sachgemäße und wissenschaftsverträgliche Unterrichtspraxis muss erzieherisch ermöglicht und kontrolliert werden: "Hier geht es um die motivationalen Voraussetzungen der Schüler, um die Disziplinierung ihrer Aufmerksamkeit (Meseth u.a. 232)." Über die Schulpflicht wird ein besonderes Gewalt- und Rechtsverhältnis begründet. Ein über Zeit, Räume, Rollen, Fächer, Curricula/Richtlinien) konstituierter organisatorisch-institutioneller Rahmen sorgt dafür, "dass die formalen Bedingungen für die Behandlung der Unterrichtsthemen definiert, ja ritualisiert sind und mit relativ geringem Aufwand aktiviert werden können". Aus den zunehmenden Defiziten des von Meseth u.a. hier zitierten commitments seitens der Schüler werden seitens der Lehrerschaft die Hauptbelastungen im Berufsfeld abgeleitet, und die Feststellung Meseths u.a. verleitet viele der konkreten Lehrer/-innen aus Fleisch, Blut und Emotionen zu einem resignativen Achselzucken:

"Empirisch wird deutlich, dass das 'Kerngeschäft Unterricht' keineswegs störungsfrei verläuft oder die Schüler gleichsam aus sich heraus - inspiriert vom Bildungsgehalt der Sache und seiner didaktischen Präsentation, wie im Ideal des 'erziehenden Unterrichts' konzipiert - aufmerksam wären. Als 'normal' erweist sich vielmehr entweder funktionales commitment, das in der Unterrichtskommunikation weder als Störung noch als konstruktive Beteiligung erscheint; oder aber das commitment fehlt und muss zu Beginn oder auch im weiteren Verlauf der Stunde ausdrücklich herbeigeführt und auch erzwungen werden (233)."

Die Selbsteinschätzung von Lehrern sieht genau an dieser Nahtstelle die entscheidende physische und psychische Belastung. Denn die von Meseth u.a. in der Folge geschilderte Vorgehensweise sieht Lehrerinnen und Lehrer mit Anforderungen konfrontiert, denen eine Vielzahl von ihnen dauerhaft nicht stand hält (siehe die oben erwähnte "Potsdamer Studie"). So geraten auch die Empfehlungen bzw. die "unhintergehbaren" Prämissen erfolgreichen Unterrichts im Sinne von John Hattie zu den typischen Stereotypen einer "humanistischen Semantik [...], die keine Handlungsanweisungen anbieten, die mehr wert sind, als das sie gut gemeint sind (Robert Spaemann 1990, 63 - in der Würdigung Niklas Luhmanns als Hegel-Preisträger).

Meseth u.a. stellen dazu fest: "Wenn es hingegen darum geht, die Aufmerksamkeit zu fokussieren und die gewünschten, schulkonformen Verhaltensweisen der Schüler als Mitglieder der Organisation Schule zu erzwingen, welche die Voraussetzung für die Durchführung eines ungestörten Unterrichts sind, sind beinahe alle Mittel der Disziplinierung recht, psychischer und notfalls auch physischer Zwang, der von der Anwesenheitspflicht über Ermahnungen, Beschämungen bis zur Drohung mit (zeitweiligem) Ausschluss reicht (233)."

 

Zeitdimension (233):

Hier geht es nach Meseth u.a. zentral um die Frage der Wirkungen von Unterricht. Im Unterricht könne nicht auf kurzfristige Wirkungen gesetzt werden: "Er ist auf Kontinuität und Dauer angelegt [...] Schul- und Lebenszeit werden für eine organisatorisch bestimmte Zeitspanne in einer Erziehungsgemeinschaft synchronisiert, um Erziehung erst zu ermöglichen. Die Teilnehmer erleben eine gemeinsame Lehr-Lern-Geschichte, die in dem Maße Teil ihrer Biographie und ihres Lebenslaufes wird, wie sie die Operationen des Systems mit vollziehen." Legitimiert werden diese radikalen Eingriffe in das Selbstverfügungs- und -bestimmungsrecht der Schüler, um "die für relevant erachteten Wissensbestände aus dem kulturellen Gedächtnis einer Gesellschaft - curricular aufbereitet und didaktisch reduziert" - in den Heranwachsenden zu verankern. Den Rahmen bildet die

"Zeitordnung der Schule im Sinne einer Eigenzeit des Unterrichts - der Schulzeit -, die sich in Schulstunden, -tage, -wochen und schließlich Schuljahre gliedert. Die Gegenstände der Vermittlung finden ihre Form in zeitlich gestreckten Lehreinheiten und begegnen dem Schüler auf unterschiedlichem inhaltlichem Niveau gleich mehrfach in seiner Schulzeit (234)."

Meseth u.a. sprechen von einem "temporären Arbeitsspeicher" im Sinne eines "personenunabhängigen Gedächtnisses", in dem enthalten sei, welches Wissen im Unterricht als "gewusst" zu unterstellen sei und das auf der operativen Ebene des Unterrichts rekursiv als Strukturierungselemente für weitere Kommunikation zur Verfügung stehe. Interessant ist der Hinweis, dass das "Phänomen des Gedächtnisses" auch unmittelbar empirisch auf der Ebene von Unterricht zu beobachten sei:

"Das soziale System Unterricht hat sich mit einem eigenen Gedächtnis ausgestattet, über das ein (Klassen-)Buch, manchmal auch Protokoll geführt wird. Es ist das 'soziale Gedächtnis' der Schulklasse als Lehr-Lern-Gemeinschaft, das für die Kontinuierung der Kommunikation im Unterricht verfügbar gehalten wird. Dazu können einzelne kommunikative Ereignisse im sozialen Gedächtnis der Klassengemeinschaft erinnert und wiederholt werden (234)."

Wie verhält sich nun die Schulpädagogik zu dem ihr von Niklas vorgehaltenen Spiegel, der ihr signalisiert, dass sie nicht wirklich könne, was sie wolle. Hören wir Meseth u.a.:

"Das viel beschworene Wirkungs- bzw. Technologiedefizit der Erziehung wird im sozialen System Unterricht gelöst, indem über institutionell-organisatorische Rahmungen thematische Kontinuität hergestellt, die Habitualisierung von Verhaltensnormen begünstigt und auf ständige Wiederholung gezielt, also letztlich auf Zeit gesetzt wird."

Alles entscheidend für einen annehmbaren Erfolg schulischer Bemühungen ist nach Meseth u.a. die kontinuitätsverbürgte, ungebrochene Beeinflussung der Schüler durch Lehrer/-innen. Die einen müssen wissen, was sie wollen; die anderen müssen (irgendwann) begreifen, was sie sollen. Angesichts der aktuellen Migrationsbewegungen und der Vorkommnisse in Paris müsste jedermann und jederfrau vor Augen stehen, was dies bedeutet. Meseth u.a. formulieren die Schlussfolgerungen sehr sanftmütig und bescheiden, aber "siegesgewiss":

"Im Unterricht kann es nur um das Geschehen-Lassen ("laisser-faire") von Lernen und erst auf lange Sicht um den Erwerb von Urteilsvermögen gehen. Weil man in der Schule Zeit hat, kann man selbst auf unangemessene kognitive und sozialmoralische Positionierungen der Schüler gelassen reagieren - und je nach Geschmack auf Sozialisation oder Bildung setzen (235)." Vorausgesetzt - möchte man hinzufügen - man verliert seine Schüler nicht! Und - Wolfgang Meseth und seine Mitautoren haben die Luhmannsche Lektion gelernt - vorausgesetzt, man tauscht seine nüchtern gewonnenen Erkenntnisse nicht gegen naive humanistische Semantiken ein!

"Schüler und Lehrpersonen sind nach einer gemeinsam verbrachten (Schul-)Zeit unbestreitbar nicht mehr dieselben. Da sie in der Zeit jedoch nicht aufgehört haben 'zu leben', also an der Operationen vieler anderer Teilsystem der Gesellschaft teilzunehmen, sind Ursache und Wirkung der Veränderungen, die sie durchgemacht haben, nicht eindeutig auf pädagogische Absichten zuzurechnen. So wie politische Planung Teil der sozialen Evolution der Gesellschaft ist, muss Erziehung in der Form Unterricht als Teil langfristig angelegter Sozialisations- und Bildungsprozesse von Personen verstanden werden (235)." Nur unter dieser Maßgabe scheint es dann auch möglich nachzuvollziehen, was z.B. junge Menschen in die Fänge des IS treibt!

Kontrolliertes Laissez-faire im Unterricht (235):

Meseth/Proske/Radkte bemessen ihre Bemühungen an der Frage, ob und wie es gelingen kann, "mit Hilfe einer kommunikationstheoretischen Modellierung des Unterrichts ein Desiderat der bisherigen empirischen Unterrichtsforschung" zu beheben. Es gehe dabei vor allem darum, das operative (unterrichtliche) Geschehen "realitätsnah" zu erfassen "und dabei dessen Pädagogizität Rechnung zu tragen". Sie sind der Überzeugung mit einer kommunikationstheoretischen Modellierung von Unterricht eine "polyadische, ereignisbasierte Beobachterordnung zweiter Ordnung" etablieren zu können, mit der sich die Instruktionen der Lehrer und die Aneignungen der Schüler sowohl in ihrer Differenz als auch in ihrer Einheit erfassen ließen.

Naivität kommt meiner Auffassung nach ins Spiel, wenn sie dabei annehmen, "die unbeobachteten Absichten und die Motive, seien es die der Lehrperson oder die der Schüler" würden auf diese Weise "retrospektiv in Kommunikationsereignissen sichtbar". Dass sich die jeweils konkrete Gestalt des Unterrichts dabei ergibt, "indem die jeweiligen Anschlussoptionen an vorangegangene Ereignisse durch semantische und organisatorische Vorkehrungen so eingeschränkt werden, dass die Realisierung der pädagogischen Erwartungen wahrscheinlicher wird", erscheint trivial - und bedeutet vor allem noch lange nicht, an "unbeobachtete Absichten und Motive" heranzukommen. Sie bleiben unbeobachtbar bzw. treten in Erscheinung nur als die beobachterabhängigen Konstruktionen der Beobachter. Immerhin - und dies ist eine von Meseth u.a. normativ begründete Position -

"erweist sich der Unterricht als ein gesellschaftlicher Sinnbezirk, in dem das Verhältnis von Wert- und Zweckrationalität eine besondere professionstheoretisch genormte Gestalt gewinnt, die von anderen Formen der Personbeeinflussung (Werbung, Mission, Indoktrination) zu unterscheiden ist." Sollte man an dieser Stelle nicht eher betonen, das dies unter professionstheoretischen Gesichtspunkten so sein soll, aber nicht unbedingt so ist?

Hinsichtlich der Sachdimension betrachten Meseth u.a. den Unterricht als eine kommunikative Form zur Ermöglichung und Bestimmung von Lernen, einen "besonderen Typus der Beeinflussung von Personen" auf der Grundlage einer politisch vermittelten Legitimationsbasis (Lehrpläne, Richtlinien etc.). Hinsichtlich der Sozialdimension - im Übergang zu einer themenbezogenen Kommunikation - geht es um "die Herstellung von Aufmerksamkeit und Kooperationsbereitschaft in der Form von Motivierungs- und Disziplinierungskommunikation".

Entscheidend ist nun, dass man die aus dieser Ausgangslage resultierenden Widersprüche klar benennen kann und den damit verbundenen Wechsel der Kommunikationsmodi sehen kann. Die Autonomie der Schüler könnte dann - so Meseth u.a. - auch hinter die Obligationen zurücktreten, die aus ihrer Mitgliedschaftsrolle resultieren:

"Pädagogische Kommunikation in der Form von Unterricht konstituiert sich also als Einheit der Differenz zweier Kommunikationsgattungen, die sich wechselseitig bedingen und irritieren. In der Wahl der Mittel folgen sie unterschiedlichen Rechtfertigungsordungen. Im einen Fall zielt die Kommunikation auf die moralfreie Bestimmung von Lernen, im anderen Fall auf die rigide Herstellung der Bedingungen seiner Ermöglichung durch die Motivierung und Disziplinierung der Aufmerksamkeit. Genau in diesem Sinne wäre von 'kontrolliertem Laissez-faire' im Unterricht zu sprechen. (236)."

Hinsichtlich der Zeitdimension wollen Meseth u.a. zeigen, "dass die Flüchtigkeit der pädagogischen Interaktion im Klassenzimmer durch Anlage eines Gedächtnisses des sozialen Systems Unterricht kompensiert werden muss". Die zeitliche Taktung von Unterricht - bis hin zu Schuljahren - kann als Antwort auf das Wirkungsproblem betrachtet werden:

"Dass Unterricht nicht auf kurzfristige Wirkungen setzen, sondern nur in the long run durch Retention eine 'zeitliche Fernwirkung' (Luhmann) entfalten kann, scheint gewiß: Die Wirkung von Erziehung (Effektivität) jedenfalls lässt sich durch punktuelle Messungen nach kleinformatigen Instruktionsversuchen nicht bestimmen (237)."

Damit haben Meseth, Proske und Radtke einen Steinbruch begründet, der (auch) für die (empirische) Erforschung von "Formenbildungen im symbolisch generalisierten Kommunikationsmedium Erziehung" eine Menge hergibt; vor allem im Hinblick auf den fragwürdigen Anspruch, der sich um die Beschreibung und Ergründung "unbeobachtbarer Absichten und Motive" bemüht.

Literatur- und Quellennachweise:

Dirk Baecker: Form und Formen der Kommunikation, Frankfurt 2005

Detlef Horster: Niklas Luhmann, München 1997

André Kieseling: Kommunikation unter Anwesenden, Frankfurt 1999

Josef Leisen: Lernumgebung und Lernfortschritte durch Moderation steuern, in: Pädogigk, Heft 11/2015

Dieter Lenzen: Irritationen des Erziehungssystems – Pädagogische Reaktionen auf Niklas Luhmann, Frankfurt 2004

Niklas Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft, Frankfurt 2002

Niklas Luhmann: Was ist Kommunikation, in: Soziologische Aufklärungen 6, Opladen 1995

Niklas Luhmann/Robert Spaemann: Paradigm lost, Frankfurt 1990

Niklas Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt 1988

Wolfgang Meseth u.a.: Kontrolliertes Laissez-faire, in: Z.f.Päd. 2/2012, S.223-241

Annette Scheunpflug: Das Technologiedefizit – Nachdenken über Unterricht aus systemtheoretischer Perspektive, in: Dieter Lenzen (s.o.)