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Spurensuche I (4)

Gehen wir einmal – von 1988 aus gesehen – 28 Jahre rückwärts; wir landen im Jahr 1960, genauer im Juli 1960. Am 19. Juli 1960, an einem Dienstag, fährt Hilde mit ihren beiden Söhnen, Franz Josef und Wilfried, nach Flammersfeld, so ziemlich genau 18 Jahre nach der Geburt ihrer Tochter Ursula. Die erste Frage, die sich heute stellt: „Was – um Himmels Willen – will sie dort in Flammersfeld?“ Die Erinnerungen des Schreibers dieser Aufzeichnungen sind dünn; hilfreich sind sechs Postkarten, die zum einen das Zeitfenster (19.7.-27.7.1960) exakt belegen, und die zum anderen etwas offenbaren über Umstände und Eindrücke dieser merkwürdigen Reise. Drei Karten sind adressiert an „Familie Theo Witsch“, jeweils eine Karte an „Familie Josef Lahnstein“, „Fräulein Ulla Witsch“ und „Herrn Theo Witsch“. Was am meisten irritiert, sind die Anreden, wobei die erste Karte (20.7.) an „Familie Theo Witsch“ einen rätselhaften, nicht mehr nachvollziehbaren oder irgendwie interpretierbaren Hinweis enthält (fett). Die Anrede irritiert, weil dem Schreiber dieser Aufzeichnungen die Anrede „Vati“ völlig fremd ist und in keiner Weise erinnerlich im Sinne einer alltäglichen Anrede (die lautete immer: Papa und Mama!) Da heißt es:

„Lieber Vati und Ulla, viele Grüße sendet Euch Mutti. Das geben 8 lange Tage. Franz-Josef sagte gestern Abend, da wäre er doch lieber zu Hause geblieben, immer nur spazieren gehen, das ist nicht das richtige. Im Schwimmbad ist kein Tropfen Wasser und spielen kann man auch nicht gehen. Jetzt gehen wir einen Ball kaufen, dann können wir wenigstens Fußball spielen. Der Herr mit Auto ist mir schon begegnet, war mir sehr peinlich. Nochmals Gruß Mutti.“

An ihre Eltern schreibt Hilde:

„Liebe Eltern! Viele Grüße senden Euch Hilde und Kinder. Hier kennt man sich nicht mehr aus. Flammersfeld ist noch 2-mal so groß, wie es war. Liebe Mutter, wie geht es Dir? Wenn es schlimmer ist, dann ruft mich vor 9 Uhr morgens an, die Nummer ist 286. Nochmals viele Grüße Hilde und Kinder.“

Am 21.7. gehen zwei weitere Karten nach Bad Neuenahr; eine an Herrn Theo Witsch und eine an Familie Theo Witsch:

Lieber Vati, heute regnet es in Strömen, als ob die Welt untergehen wollte, und ich sitze hier mit den Beiden auf dem Zimmer (ich möch zefoß no Kölle jon). Kannst Du Dir das vorstellen. Aber vielleicht regnet es sich heute aus und wir haben dann doch noch ein paar Tage schönes Wetter. Die Leute sind sehr nett und wir bekommen ein prima Frühstück: 6 Brötchen, Brot in Mengen, 1 Ei, Käse, Marmelade, drei Stück Butter. Die Kinder bekommen Kakao. Man könnte es hier schon aushalten. Aber es ist eben zu Hause doch am schönsten. Für heute viele Grüße an Euch beide Mutti.“

Eine mit Bleistift geschriebene Postkarte – liniert – habe offenkundig ich geschrieben:

Lieber Vati und Ulla! Ich wünschte es wäre schon Dienstag. Heute hat es fast den ganzen Tag geregnet. Mama hat uns heute Morgen Regenkeps gekauft. Eben haben wir ein Reh gesehen. Sonst sieht man hier nur Kühe und Ochsen. Was macht Hansi? Für heute viele Grüße von Franz Josef und Wilfried. Auch viele Grüße an Oma und Opa.

Am 22.7. schreibt Hilde an ihre Tochter:

Aus Deinem Geburtsort herzliche Grüße sendet Dir Deine Mutter und Geschwister. Hast Du auch schon Post von Deinem Ernst. Ich habe gedacht, wenn der Ernst Dir vielleicht nicht schreibt, will ich Dir wenigstens eine Karte schreiben. Für heute nun viele liebe Grüße sendet Dir Mutter.“

Und schließlich die letzte Karte vom 23.7. an Familie Theo Witsch:

Lieber Vati und Ulla! Bis jetzt haben wir noch nicht einen Tag ohne Regen gehabt. Wir sind es richtig leid. Abends liegen wir schon um sieben Uhr im Bett. Wenn man mit dem Zug von hier fahren könnte wären wir schon wieder zu Hause. Aber von hier fahren nur Busse und da hat Franz Josef zu viel Angst. Bis am Dienstag viele Grüße und Aufwiedersehen Mutter.“

Versuchen wir das Wesentliche festzuhalten und es in einen Verstehenshorizont aus heutiger Betrachtung einzuordnen: Vom 19. bis zum 27. Juli 1960 fährt Hilde mit ihren beiden Söhnen nach Flammersfeld im Westerwald, den Geburtsort ihrer Tochter. Diese Geburt ereignete sich – bezogen auf den 19. Juli 1960 genau 18 Jahre und 34 Tage zuvor. Auf der Karte, die Hilde ihrer Tochter schreibt, ist das Geburtshaus Ullas zu sehen, das sogenannte „Braune Haus“, das vier Geschossebenen aufweist, von denen drei auf der Postkarte eindeutig zu erkennen sind. Dieses sogenannte „Braune Haus“ beherbergte 1942 ein Entbindungsheim der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt – inzwischen ist es abgerissen. Bemerkenswert ist, dass Hilde die Karte mit dem Hinweis beginnt: „Aus Deinem Geburtsort …“. Ursula Witsch, geborene Lahnstein, bekam hiermit einen Hinweis, der ihr – nimmt sie ihn wörtlich – die Frage aufzwingt: „Warum bin ich nicht zu Hause bzw. in Bad Neuenahr geboren, sondern in Flammersfeld?“ Und genauso, wie sie all die kleinen Mosaiksteine gesammelt haben mag in ihrem Unterbewussten, wird sie diesen Hinweis abgespeichert haben auf der langen Liste von Fragen, die sich mit ihrer Zeugung und Geburt verbinden: „Wieso Flammersfeld – am 5.6.1942? Da war meine Mutter nicht einmal 18 Jahre alt!“ Dass Flammersfeld jene wendepunktspezifischen Qualitäten repräsentiert, die Niklas Luhmanns Lebenslauf-Definition entsprechen, wird in unmittelbarer Zukunft eine weitere markante Besonderheit offenbaren. Luhmann bemerkt ja in seiner unvergleichlich trockenen Diktion: „Die Komponenten eines Lebenslaufs bestehen aus Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen.“ Und die Postkarte an ihre Tochter enthält weiteren Zunder, und man ist geneigt, Hilde zu unterstellen, dass sie hier bewusst zündelt: „Hast Du auch schon Post von Deinem Ernst? Ich habe gedacht, wenn der Ernst Dir vielleicht nicht schreibt, will ich Dir wenigstens ein Karte schreiben.“ Stand die Beziehung zu jenem Ernst, der der Vater ihres Sohnes Michael werden sollte, soeben auf der Kippe? War es jener Sommer, den Ernst mit einem Freund in Dänemark oder Schweden verbracht hat, um sich die Hörner abzustoßen – seine Erzählungen sind legendär!? Das Zündeln hatte zwiespältige Folgen. Hilde hat gewiss weder damit gerechnet noch davon geträumt, dass es ihre Tochter ihr gleichtun würde, sich nämlich zu einem vergleichbar frühen Zeitpunkt schwängern zu lassen – irgendwann im März 1961, noch mit 18 – wenige Monate vor ihrem 19. Geburtstag. Am 14. Januar bringt sie ihrer Mutter den vielleicht – nein, den ganz sicher – innig begrüßten Enkelsohn zur Welt.

Aber bleiben wir zunächst in Flammersfeld – im Juli 1960! Das Entbindungsheim der NSV war unversehrt. Hilde ist gewiss an diesen Ort zurückgekehrt. Meine Erinnerung mag mich trügen, aber es gibt verschwommene Bilder, die mir zumindest einen Besuch signalisieren. Was zum Teufel hätte unsere Mutter genau an diesen Ort zurückführen sollen, wenn nicht die Hoffnung den ein oder anderen Akteur, die ein oder andere Beteiligte aus jenen Wochen ihrer Obhut im Heim der NSV wiederzusehen? Und welcher Herr ist ihr begegnet? Und warum war ihr diese Begegnung peinlich? Die Postkarten hat im Übrigen meine Schwester aufbewahrt, meine Schwester, die – nachdem sie gebenedeit war unter den Frauen – ihren Ernst heiratet auf dem Standesamt jenes Ortes, in dem sie das Licht der Welt erblickt hat – in Flammersfeld!

Eine Ironie am Rande all dieser Merkwürdigkeiten ergab sich  40 Jahre später bei der Rekonstruktion des Einsatzweges von Franz Streit in der Deutschen Wehrmacht. Wäre F.S. nicht im September 1943 gefallen, hätte er sich mit dem Stab seines Stammregiments (Panzerregiment 33 der 9. PD) am 15.3.1945 in Flammersfeld wiedergefunden. In den Regimentsunterlagen findet sich zum 15.3.1945 folgender Vermerk: „Die rückwärtigen Teile der Abteilung verlegen über Altenberg – Benzberg – Overath – Much – Schönenberg – Eitorf und Kircheib nach Mehren. Stab über Benzberg – Gummersbach – Auchel – Waldbröl – Wissen – Roth – Hamm – Lenscheid und Weyerbusch nach Flammersfeld.“ Quartier war mit Sicherheit das sogenannte „Braune Haus“, das seine Aufgabe als Entbindungsheim zu diesem Zeitpunkt gewiss schon hatte aufgegeben müssen. Franz Streit, der Hilde zuletzt und seine Tochter zum einzigen Male im Juni 1942 in Flammersfeld gesehen hatte, gehörte da bereits zu den Gefallenen seines Stammregiments, dem er seit der Aufstellung der Division angehört hat.

Es ist müßig über die Motive Hildes zu diesem einwöchigen Urlaub in Flammersfeld zu spekulieren. Dem Verfasser dieser Aufzeichnungen ist erst spät – eigentlich erst im Alter – die unaufgelöste Spannung bewusst geworden, in der Hilde lange gelebt haben muss, und die sie möglicherweise auch dazu veranlasst hat einer Heirat mit Theo erst so spät zuzustimmen. Gleichermaßen unbeantwortet bleibt die Frage, welcher Mann Jahr um Jahr sein Werben aufrechterhalten hätte – gegen alle bedeutsamen Anderen, vor allem gegen die eigene Mutter? Und mit der Heirat war das Menetekel nicht aus der Welt geschafft, dass irgendeines ungewissen Tages Franz Streit auftauchen könnte, um seine Tochter zu sehen und was sonst noch für Motive im Schilde zu führen. Die letzten Heimkehrer wurden 1955 aus russischer Gefangenschaft entlassen! Und da Franz Streit Hilde gegenüber eingestanden hatte, bereits verheiratet zu sein und ein Kind zu haben, lebte sie schlicht in der Ungewissheit über Franzens Schicksal nichts zu wissen. Hilde hat – nach eigenem späten Bekunden – alles vernichtet bzw. verbrannt, was mit Franz Streit zu tun hatte und was sie an ihn hätte erinnern können. Dass Franz Streit den Heldentod gestorben war und nicht nur einen Sohn, sondern derer zwei hatte, würde erst ihre Tochter 60 Jahre später ans Tageslicht befördern. Jahre, nachdem ihr Bruder Wilfried auf dem Weg nach Österreich mit dem Flugzeug abgestürzt war, würde Ursula in Wien (Gert) und in der Nähe von München (Werner) zwei weitere Brüder finden und so ein neues Kapitel ihrer ganz persönlichen Familiengeschichte aufschlagen.

Ein Schisma der Moderne liegt ganz gewiss in der Möglichkeit einer wirksamen, verlässlichen Empfängnisverhütung begründet. Die Zulassung der Pille in den sechziger Jahren bedeutet ein radikal neues Kapitel in der Beziehung von Frau und Mann. Während sich Hilde mit ihrer gänzlich ungewollten und ungeahnten Schwangerschaft tatsächlich einer Todsünde schuldig machte und den vollen Preis dafür bezahlte, bedeutete die Schwangerschaft ihrer Tochter ein deutlich geringeres Maß an Tragik, da ja immerhin der erfolgreiche Schütze aus der ersten Reihe in die Pflicht genommen werden konnte. Die Tragik war gewissermaßen eine nachgetragene, weil Ehen – ausschließlich auf den Tatbestand eines erfolgreichen Beischlafs gegründet – ihre eigenen Hypotheken mit sich schleppen. Weitere Schwangerschaften blieben dem Paar dann auch erspart, bevor die Ehe sich schließlich überlebte und vor dem Scheidungsrichter endete. Dem Prinzip der Generativität war genüge getan und die junge – überaus junge Großmutter – sorgte, so wie das gesamte familiale Umfeld dafür, dass der Enkel beste Startbedingungen für sein künftiges Leben erfuhr. Die lebensprägenden Umstände und die richtungsweisenden Lebensentscheidungen dieses Enkels werden – aus der puren Beobachterhaltung seines Onkels – noch eine raumgreifende Aufmerksamkeit erfahren. Alle in die Verantwortung bzw. das Geflecht von Erziehung und Beziehung einbezogenen – meinetwegen auch verstrickten – Akteure hatten bzw. habe ihre Sicht auf die Familiendynamik, die sich aus all den bereits erwähnten Hypotheken und Belastungen gleichermaßen ergeben. So wie der Schreiber dieses Berichts versucht eigene Spuren aufzudecken (und wo aufgedeckt wird, geht es immer auch um Verhüllung), kann – was den Enkel von Hilde und Franz Streit anbelangt – nur der Enkel selber etwas Licht ins eigene Dunkel tragen – wie er vor Jahren einmal meinte, ganz im Interesse seiner Kinder.