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Demenztagebuch vom 04.05.2008 - 20.5.2008

 

Aktuelle Einlassung vom 10.12.2017

"Seht einmal, wie die Zeit vergeht!" Weiter unten kann man lesen, dass ich vor einem Jahr mit dieser Plattitüde meinen letzten Eintrag in das Demenztagebuch begonnen habe. Morgen würde mein eigener Vater 95 - Rudi Krawitz wird 74. Es sprengt den Rahmen dieses Tagebuches, der Dynamik der aktuellen Entwicklungen gerecht zu werden. Aber wenn eines deutlich ist, dann die Tatsache, dass dies schon langen nicht mehr das Demenztagebuch meines Schwiegervaters Leo ist, sondern dass mehr und mehr Lisa, meine Schwiegermutter, in der Vordergrund tritt. Sie ist am 27.9. vierundneunzig (94) Jahre alt geworden und lebt sei Juli 2017 im Seniorenstift Laubenhof hier in Güls. Sie hatte sich an Muttertag - im Mai - den Arm gebrochen. Wir haben uns dann entschlossen sie nach Kurzzeit- und Verhinderungspflege in vollstationärer Betreuung dort zu belassen. Seither sind wir regelmäßig - jeden Tag - in die Rolle der Besucher gewechselt. Ich versuche einmal in Stichworten die massiven Veränderungen zu markieren:

Im Fortgang werden die Eintragungen zu Leos Demenztagebuch noch sehr viel massiver von diesen aktuellen Entwicklungen durchwirkt, zumal ich seit dem 1.10.2017 Pensionär bin!

Aktuelle Einlassung vom 02.12.2016

Seht einmal, wie die Zeit vergeht, wie sie fliegt. Eintragungen bzw. die Übertragungen in den Demenzblog habe ich lange vernachlässigt. Ich bewege mich ziemlich genau 2 Jahre vor Leos Tod. Wie ihr sehen könnt ist das in der Chronologie des Demenztagebuches der April/Mai 2008. Wir hier in der Aktualität, also in der unmittelbaren Gegenwart, nähern uns dem 11.12.2016. An diesem Tag würde nicht nur mein Vater 94. Es ist der Tag, an dem Rudi Krawitz 73 wird, und es ist der Tag, an dem sich der Oberschenkelhalsbruch meiner Schwiegermutter zum ersten Mal jährt. Seit 12. Februar 2016 lebt sie mit uns gemeinsam in unserem Haus. Der Demenzblog wird ja - wie ihr rückblickend seht - immer wieder durch aktuelle Einlassungen durchschossen, weil wir nunmehr, konfrontiert mit einer ganz normalen Altersvergesslichkeit - zuweilen auch -starrsinnigkeit oder -blödigkeit - eine zweite intensive Runde der Pflege und der Fürsorge leben.

 

Demenztagebuch vom 04.05.2008

Sonntag - Sonnentag, Blauer Himmel, ca. 20° im Schatten, die Natur explodiert. 10.39 Uhr - die Kirchenglocken läuten zum Hochamt (gibt es das noch?). Ich sitze auf dem Riesenbalkon des Heyerbergs mit Blick auf die Gülser Kirche mit ihren hohen, spitzen Streichholztürmen. Leo liegt nebenan im Schlafzimmer, schon fürs Mittagessen angezogen. Er liegt flach auf dem Rücken, er atmet noch - wie lange noch? Tage, Wochen, Monate, Jahre, wach und extrem eingeschränkt, reduziert in seinen Kontaktmöglichkeiten; das ist also der Rest seines Lebens, der inzwischen schon fast zwei Jahre in dieser extremen Reduktion andauert, auf fremde Hilfe angewiesen - ohne diese unmittelbar zum Tode verurteilt. Er wäre nicht in der Lage auch nur noch einen Monat - vielleicht eine Woche menschenwürdig zu (über-)leben.

Ich habe mich jetzt bewusst hierher gesetzt, habe ihn liegen lassen, damit er wenigstens nachher die Mittagszeit, die Zeit des gemeinsamen Essens übersteht. Lisa duscht, widmet sich ihrer Sonntagstoilette, eine bisschen Zeit für sich allein. Ich kann Leo durch die Scheibe des Schlafzimmerfensters sehen. Ich sehe, wie sich sein Oberkörper hebt und senkt, regelmäßig im Rhythmus seiner Atemzüge. Es wäre mir gerade recht - möglicherweise ihm auch -, wenn er in den nächsten Sekunden oder Minuten seinen letzten Atemzug tun würde. Mag sein, dass dies den Eindruck von Kaltherzigkeit oder Abstumpfung erweckt. Wer mich in den letzten Monaten erlebt hat, der weiß, dass es im Großen und Ganzen nicht so ist - aber zuweilen eben doch!

Gestern Vormittag war ich in Ahrweiler und für zwei Stunden mit Barbara auch in Bonn, in der Uniklinik bei Michael. Dort liegt er jetzt auf der Intensivstation, genau seit sechs Wochen im künstlichen Koma. Es ist unterdessen durch den Aufenthalt dort un die Konzentration auf die Infektion eine Besserung, möglicherweise eine Wende eingetreten. Die Medikatierung ist inzwischen so umgestellt - "eingeschränkt", dass sich die ersten Reflexe wieder eigenständig, das heißt unwillkürlich einstellen; das erste Gähnen, der "Hustenanfall" lässt gleichermaßen aufhorchen wie erschrecken. "Aufhorchen" passt nicht, es gibt nichts zu hören, es ist ein Würgen, auch ganz sicher gegen diesen unsäglichen Beatmungsschlauch. Es sind im Übrigen die Geschichten hinter den Geschichten, die wirklich aufhorchen lassen. Vor allem die Geschichte, die sich nach anfänglichem Zögern und Ablehnung ergeben hat, nachdem eine Ärztin, die in der Nachbarschaft von Barbara und Michael lebt, und die eine "Schamanenausbildung" gemacht hat, "Kontakt" zu Michael aufgenommen hat. Michael und offenkundig auch Barbara haben mit einem spirituellen Zugang oder Zugangsweise (des Lebens) nichts im Sinn. Was sich an Bildern aus dieser "Kontaktaufnahme" ergeben hat, gibt (mir) außerordentlich hohen Sinn.

Was wir geahnt haben und was Barbara wusste, findet hier eine tiefe Bestätigung! Michael hat wohl seit Jahren in ein totales Burnout hineingelebt, zuletzt mit einem nachhaltigen Verlust der Sinnperspektive seiner beruflichen Tätigkeit. Die "Schamanin" hat die Bilder so gedeutet, dass Michael nicht den Mut gefunden hat zu einer Kehrtwende, sondern dass er sich für diesen Weg aus dem Beruf "entschieden" habe. Es ist zu spüren, dass Barbara damit eine Menge anfangen kann, und dass sich für eine Rückkehr, die die "Schamanin" ankündigt, eine völlig neue Perspektive erarbeitet werden kann/muss. Es wird kein "weiter so" geben!

Und hier in Güls? Hier gibt dies vielleicht noch viel mehr Sinn, weil wir die "Not-Wenden" und die Not-Wendigkeit" von Veränderungen in den letzten 10 Jahren begriffen und kultiviert haben. So lässt sich bei aller Veränderung der Kern und der Lebenssinn bewahren. Für uns hier in Güls waren gerade die letzten Monate diesbezüglich eine Offenbarung!

Demenztagebuch vom 20.5.2008

Über's (Auf-)Schreiben komm ich gegenwärtig nicht wirklich an mich und die von mir wahrgenommenen Entwicklungen heran.

Soeben habe ich ein längeres Gespräch mit unserer polnischen Haushalts- und Pflegehilfe - Katarczyna - gehabt. Sie deutet unmissverständlich an, dass sie im Laufe des Jahres - eher früher als später - aus dem Arbeitsverhältnis ausscheiden wird. Das Zusammenleben mit Lisa - Claudias Mutter - wird zunehmend schwieriger, was ich selbst partiell nachvollziehen und bestätigen kann. Das heißt, wir werden uns wohl nach einem Pflegplatz umsehen müssen. Möglicherweise kommt das genau zum richtigen Zeitpunkt. Der Eindruck nimmt zu, dass alle Beteiligten, das heißt insbesondere auch Lisa und vor allem Claudia dem zustimmen könnten. Das trifft insbesondere auch auf mich zu! Ich werde mir in den nächsten Tagen den Laubenhof ansehen, die mit einem Schwerpunkt Betreuung von Demenzkranken werben. Es wäre die einzige Lösungm die nach gegenwärtigem Status von Lisa noch zu Fuß zu bewältigen werden könnte.

Aktuelle Einlassung vom 15.12.2017

9 1/2 Jahre später - ja, nicht 9 1/2 Wochen, sondern 9 1/2 Jahre später - traue ich kaum meinen eigenen Augen! Leo ist seit 7 1/2 Jahren tot. Seine Frau, meine Schwiegermutter, hat noch 5 1/2 Jahre dort gewohnt, wo sie 43 Jahre mit ihrem Ehemann Leo gelebt hat. Erst im Dezember 2015 - vor zwei Jahren - begann ihre Odyssee, die sie über zweimalige Aufenthalte im Brüderhaus und 1 1/2 Jahre bei uns seit nunmehr Juli 2017 genau dorthin geführt hat: in das Seniorenstift Laubenhof! Ich versuche bis heute die Antwort zu finden auf die Frage, ob und wie wir dort leben und sterben können, wo wir hingehören. Wie sehr sich die Perspektiven verschieben, wird deutlich, wenn Lisa mit ihren 94 Jahren zwar noch wie aus der Pistole geschossen sagen kann, wie die Wohnadresse ihrer Kindheit und Jugend lautet, also dort wo ihr Elternhaus bis heute steht: Triererstraße 282, aber nicht mehr in der Lage ist, die Adresse jenes Hauses zu nennen, in dem sie mit weiten Abstand die längste Zeit ihres Lebens zugebracht hat - und zwar gemeinsam mit ihrem Mann! Ihre erste gemeinsame Adressse, der Pollenfeldweg 49, dort wo Claudia, ihre Tochter, geboren worden ist und wo sie aufgewachsen ist, ist gänzlich aus der Erinnerung getilgt. Und ihr Mann war - wenn sie einen guten Tag hat - der Mann, der Häuser gebaut hat, unter anderem ein schönes Haus am Heyerberg in Güls. Wenn wir es heute sanieren und umbauen, ist dies ihr nicht mehr vermittelbar.

Andererseits - und dies habe ich hier schon mehrfach betont - bleiben wir intensiv in Kontakt, solange diese Kontaktaufnahme ihrerseits auf so eindrucksvolle Weise sich jeden Tag neu ereignet. Meine Angst ist verbunden mit der Erwartung jenes Tages, wo ich ihr Zimmer im Laubenhof betrete und das vertraute: "Ach, guten Tag Josef!" einem fragenden Blick weichen wird und der jene Vertrautheit auflösen wird, die (immer) noch jeden neuen Tag zu einer erfüllenden Begegnung macht.