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Demenztagebuch 7.10.2007-12.11.2007

Demenztagebuch vom 7.10.2007

Man merkt mal wieder an den deutlichen zeitlichen Abständen, dass das Tagebuch gegenwärtig nicht der geeignete oder geschätzte Begleiter/Spiegel ist, dem ich mich anvertrauen mag. Allein diese Formulierung verdeutlicht, wie sehr ich mir mal wieder im Wege stehe. Eigentlich ist dies eine Eintragung für das begonnene Metatagebuch. Dahinter steckt verunsichernd oder irritierend die Erfahrung, wie radikal sich das Abgesonderte von einem löst und ein Eigenleben beginnt. Es regt sich wieder einmal die uneingestandene Sehnsucht nach einem unmittelbaren, unverstellten Leben, unbeeinträchtigt von allen durch Reflexion hervorgerufenen Brüchen. Andererseits würde(n) sich damit jenes Raffinement, jene Differenzen begründete Zwiespältigkeit verlieren, durch die das Leben mit all seinen Verrücktheiten erst lebenswert erscheint (einmal ganz davon abgesehen, dass ohne Reflexion Erinnerung nicht nur verblasst, sondern auch ihre Konturen verliert). Genau dies ist die bittere Erfahrung, in der sich Leo, mein Schwiegervater mehr und mehr verliert, während wir die aufklaffenden Differenzen zwischen dem, was er einmal für sich - ganz sicher aber für uns - war, Tag für Tag deutlicher wahrnehmen.

Deshalb sollte ich an dieser Stelle - hoch über der Mosel, auf Schwaabs Stillem Winkel, wenigstens ein paar Splitter anmerken mit Blick auf das, was in den nächsten Tagen so eindrücklich Gestalt annehmen wird: Claudia fährt heute Nachmittag mit Frank für eine Woche zum Schilaufen ins Stubai-Tal, auf die Mutterberg-Alm - allererste Sahne. Dies ist zweifellos in mancherlei Hinsicht bemerkenswert. Dazu aber an anderer Stelle mehr.

Demenztagebuch vom 8.10.2007

Ja, am 8. Oktober 2007 an einem meiner Lieblingsplätze unterhalb des Winninger Flugplatzes. Da habe ich mit Biene fürstlich getafelt - ganz alleine. Und dann kommen da ein paar Arschlöcher - grußlos - und setzen sich einfach neben mich! Widerwärtig, pardon, aber wie geht das - an einem so diskreten Platz, der auch noch über eine Oberterrasse verfügt? Manchmal habe ich die Menschen einfach satt, die zur Unterscheidung und Differenzierung unfähigen Arschlöcher, die selbst ein Minimum an Anstand und Höflichkeit vermissen lassen. Andererseits sitze ich hier, trinke aus der Flasche und zeige mich außerordentlich stur und bärbeißig. Und 10 Minuten später ist die Welt schon wieder eine versöhnlichere. Zwei Sauerländer auf Moseltour - ich erzähle ihnen ein bisschen von dem, was ich weiß und bin freundlich und froh, als sie dann endlich ihres Weges ziehen. Da sitz ich nun auf meiner Moselterrasse, 200 Meter hoch über dem gleißenden, glitzernden Fluss, trinke die letzten Schlucke aus meiner Rieslingpulle und gefalle mir in meiner Einsamkeit... Worin gefalle ich mir? Worin übe ich mich? In Einsamkeit? Vielleicht - und vor allem kläglich. Heute Mittag ein Essen mit Laura, meiner Ältesten. Sie hat Linsensuppe für zwei Tage gekocht - lecker, sehr lecker! Der Versuch eines Gesprächs - die Vermittlung von einem Stückchen Freiheit in dem, was jetzt kommt: Studium, Ausbildung...?

Demenztagebuch vom 13.10.2007

Es ist mal wieder Samstag, und ich sitze auf dem Heyerberg - ein sonniger spätherbstlicher Tag, der dazu einlädt auf der grandiosen Terrasse im Wohnhaus meiner Schwiegereltern zu sitzen. Leo sitzt im Wohnzimmer. Ich lasse ihn, oder besser: Ich überlasse ihn heute weitgehend sich selbst. Das ist im übrigen erstmals einem deutlich aggressiv unterlegten Gemütszustand meinerseits geschuldet. Alle Kommunikation ist geschrumpft auf den Versuch, noch eine Restresonanz zu erzeugen/wachzurufen, der auch noch Sinn abzugewinnen ist. So deutlich wie heute hat sich milde Wut und Trauer über unser aller Verschwinden noch nicht ergeben. Das Verschwinden - der Verlust von Leos (Selbst-)Bewusstsein spiegelt sich in meiner facettenreichen Resonanz: Wut, Trauer, Mitleid, Selbstmitleid, Ernüchterung, Resignation, Begleitung, Ohnmacht, Humor, Schwere und Leichtigkeit, Fassungslosigkeit, Angst und immer wieder ein bisschen Wut. Jetzt, wo wir so viel Zeit miteinander verbringen, erlischt der lebendige Austausch, schrumpft die Gegenseitigkeit auf ein Ratequiz mit unterirdischer Trefferquote.Alles, was Du, Leo, erzählen willst, taugt allenfalls dazu, Spekulationen auszulösen - nichts von dem, was zu hättest erzählen können/wollen, gewinnt heute noch an Kontur. Auf dem einen Bild erkennst Du nach langem Zögern Deine Frau - im Hochzeitskleid, hingegen - etwa gleichaltrig - vermagst Du sie als Akkordeonspielerin schon nicht mehr zu identifizieren: "Die kenn ich nicht!"

 

Aktuelle Einlassung, 8.1.2016 - 14.00 Uhr: Meine "sanfte Wut" hat sich über die Jahre - nächstes Jahr werden es 10 und bezogen auf unsere Abschiedstour 2003 in Leos Heimat gar 15 Jahre - konkretisiert; sie hat an rückblickender Ernüchterung noch gewonnen: 2003, als wir um Leos Elternhaus geschlichen sind, war noch Gelegenheit zu einem wirklichen Abschied. Die Demenz erscheint mir rückblickend - vor allem im Übergang, begleitet von Selbstzufriedenheit und Triumpfgehabe Leos - auch als Flucht aus einer Realität, mit der man irgendwann nichts mehr zu tun haben wollte. Ich mag mich nicht streiten um bio-physiologische bzw. biochemische Erklärungsansätze zur Demenz der Alzheimer-Variante. Mehr und mehr wird mir jedoch überdeutlich, dass eine ganze Generation ihr Heil im Vergessen und in der Verdrängung gesucht hat. Repräsentanten dafür im allernächsten Umkreis sind meine Mutter und mein Schwiegervater. Auch meine 92jährige Schwiegermutter erinnert extrem fokussiert durch einen Filter, der das eine Verträglich-Versöhnliche zulässt und das Bedrängend-Unangenehme ausschließt. Ich aktzeptiere dies gegenwärtig ihr - der Schwiegermutter - gegenüber in hohem Maß. Allerdings bin ich nicht bereit, den damit verbundenen Inkonsistenzbereinigungsprogrammen generell das Wort zu reden. Sicherlich hat dies den Entschluss für dieses Demenztagebuch und den BlOG insgesamt begünstigt.

 

Im Tagebucheintrag vom 13.10.2007 folgen Zitate aus Botho Strauß: Gedankenfluchten (zusammengestellt von Volker Hage), Frankfurt 1999. Sie vermitteln die Spannung, die mir offensichtlich über das Führen eines Tagebuches permanent vor Augen standen und stehen:

Ja, "das Diachrone, der Vertikalaufbau hängt in der Luft" - aber der Botho Strauß weiß nicht wirklich, was er da schreibt. Er sitzt nicht Leo gegenüber. Es spricht aus alledem die mir überaus vertraute Larmoyanz dessen, der mit Netz und doppeltem Boden jongliert. Die Feststellungen basieren auf der Gewissheit, ja noch gerade der Hüter des Diachronen zu und des Vertikalaufbaus zu sein. Gleichwohl ist dies mit Verlusterfahrungen verbunden - sei es aus Blindheit oder aus Behäbigkeit reslutierend. Die Frage nach der "Gnade" bezieht sich auf Umstände, die all dieser Larmoyanz tatsächlich den Boden entziehen - wo dem Beobachter nur noch der Schluss bleibt, dies alles spiele "wirklich" keine Rolle mehr - das wahllose Vergessen habe das Regiment übernommen und die Lust am Altwerden weiche beharrlich dem Terror der Unterschiedslosigkeit: Wo kein Du - da auch kein Ich (mehr).

Und dennoch: In dieses Hirn (von Leo) schaut niemand und die Stufen der Unterschiedslosigkeit mögen subtil und graduell sein - in einem Ausmaß, über das wir uns (noch) keine Vorstellung machen!

 

Demenztagebuch vom 23.10.2007

Zehn Tage seit der letzten Eintragung - rekordverdächtig! In all den Eintragungen ist jetzt wenig Struktur, so dass man sich die Frage stellen kann, ob selbst das Diachrone unterdessen verloren geht? Kein wirkliches Wort über Claudias und Franks Stubaier-Tripp; aus Interesselosigkeit, aus Selbst- und Fremdvergessenheit? Die Aphorismen von Botho Strauß weisen ein Maß an Komplexitätsreduktion und Ernüchterung auf, das alles redundant erscheint: "Die Liebe wartet auf's Augenlicht...

Was bedeutet das für mich? Dass ich aller Unbill, allen Ärgers, aller Aufgeregtheit ledig bin? Es ist mir relativ (ja, eine gewisse Einschränkung ist redlich) schnuppe, was in meiner Umwelt geschieht, und zwar in einer gewissen resignativen wie logisch-pragmatischen Haltung: Reisende soll (kann?) man nicht aufhalten - also lass sie gehn! Voraussetzung und Zumutung ist die (selbst) auferlegte Entrückung vom "allzu greifbaren weiblichen Körper". Wie fern aller ursprünglichen Lebendigkeit muss man sein, wenn - wie Botho Strauß meint - Exerzitien einer Verhinderung und Aufsparung als das geeingete(re) Mittel erscheinen, um seine verbrauchten Freuden wieder aufzufrischen und den real allzu nahen, allzu greifbaren weiblichen Körper gebührend zu entrücken. Vielleicht ist es aber auch genau umgekehrt. Man braucht Pausen, um wieder neue Spannung aufzubauen. Wir üben Einsicht und begrenzen die Aussicht. Wir finden uns wieder im Zustand der unverhofften Gnade und verabreichen und Dosen sadomasochistischer Ungnade. Letzteres ist mein hausgemachter Eintopf: Wer die Nase zu nahe ans Feuer hält, muss sich nicht wundern, wenn er sich selbige verbrennt.

Das ist aber ein altes Lied: Die verrückte und kindlich-infantile Beziehungsachterbahn, die Kollege W.R. und Frau A.E. gegenwärtig absolvieren, wirft ein bezeichnendes Licht auf die Abgründe und biografisch begründeten Beziehungsdesaster, die erwachsene Menschen miteinander erleben und inszenieren. Da sind zwei gleichermaßen beschränkte wie bedauernswerte Menschen aufeinander gestoßen und proben das große Missverständnis:

Die eine kann nur "lieben" über die Maßen - wollt ihr die totale Liebe, totaler als ihr sie euch jemals vorstellen könnt, wollt ihr sie so total, dass sie alle Grenzen auflösen und der Ehrlichkeits- und Aufrichtigkeitsfuror zu einem Terror auswachsen, so dass eure Herzen vor lauter Gleichklang ersterben und eure Hirne unendliche Eifersuchtsqualen erleiden, wollt ihr sie so total, dass ihr es bedauern werdet nicht aus eurer Haut heraus zu können und dass der Kannibalismus mit einem Tabu belegt ist...  - der andere kann nur das ersehnen, was er so lange entbehrt hat, er will nur ficken und nicht an einer Liebesbeziehung stricken; einer Liebesbeziehung, die jetzt schon die Konturen eines totalen Krieges am Horizont wachsen lässt.

Und Laura hat gestern die Semestereröffnung erlebt, eingeschrieben für ein Studium, von dem nicht nur sie selbst annimmt, dass es nicht das ihrige ist!

Demenztagebuch vom 30.10.2007

Der Oktober neigt sich dem Ende zu und damit beginnt das letzte Drittel des Jahres 2007 - es hatte von meinem Zeitempfinden eine Rasanz wie kaum ein Jahr zuvor. Vermutlich steigert sich dies mit jedem kommenden Jahr, das mir von vergönnt sein wird. Diese Rasanz nimmt sich insofern merkwürdig aus, als dieses Jahr von Mai an durch eine außerordentliche Kontinuität und Regelmäßigkeit geprägt ist: Bis auf wenige Ausnahmen stand die abendliche Versorgung von Leo an. Seit Sonntag ist wohl die nächste Runde eingeläutet. Leo liegt seither im Bett mit deutlichen Einschränkungen in motorischer und kognitiver Hinsicht. Dr. Schmitt spricht von "cerebralen Veränderungen" - ob es sich um einen Schlaganfall handelt, lässt sich nicht mit Eindeutigkeit sagen.

Demenztagebuch vom 3.11.2007

Was sich am letzten Wochenende ereignet hat, läutet offensichtlich die letzte Runde ein. Äußerlich unverändert sitzt Leo auf seinem Sessel, Lisa unmittelbar neben ihm. Vor einer halben Stunde ist Claudia nach Hause gefahren. Wir sind mit Leo bis zur Haustüre gegangen, er hat Claudias neues Auto angesehen, mit dem Stuhl haben wir ihn zurück ins Wohnzimmer gefahren. Er sitzt auf seinem Sessel uns schaut - wie so häufig - Fotos an. Was ist anders? Vermutlich gar nicht so viel, was Leo anbelangt. Aber Lisas Ängste und auch ihre psychische physische Belastbarkeit kommen an eine Grenze. Fakt ist nunmher ganz schlicht, dass man Lisa und Leo nicht mehr alleine lassen kann - vermutlich nicht einmal mehr fünf Minuten. Lag Leo letzten Montag noch im Bett, so ist er inzwischen wieder "mobil". Mehrfach ist er mit Kathrin oder auch mit mir schon wieder zwischen Schlafzimmer und Wohnzimmer hin- und hergegangen. Er ist unberechenbarer geworden - "kommunikativer" und unverständlicher zugleich. Er ist eigensinniger geworden. Lisa und Leo kleben aneinander - ihr wechselseitiges Verstehen, auch in profanen Dingen, nimmt ab. Lisa kann Leo nicht mehr "kontrollieren". Das ist der Grund, warum ich jetzt hier sitze. Wir müssen auch dafür dringend eine Lösung finden. Wir sind weder bereit noch in der Lage, über das hinaus, was wir seit geraumer Zeit tun, noch mehr (Zeit) zu "investsieren".

Demenztagebuch vom 5.11.2007

Es ist nicht meine Art, auf diese - im letzten Eintrag deutlich werdende - Weise zu argumentieren. Es kommt hinzu, dass wir uns nicht als Einheit definieren können. Claudia grenzt sich - aus Überlebensnotwendigkeit - radikaler und konsequenter ab. Sie hat noch viele Schritte im Sinner einer zu erwerbenden Routine zu gehen. Die Haltung der Kinder ist mehr als redlich in ihrem Bemühen. Ihr Job ist es, sich mehr in den Haushalt einzubringen, solange sie nicht nur zur Familie, sondern im praktischen Sinn auch zum HAUSHALT dazu gehören! Dass Handlungsbedarf besteht, hat das vergangene Wochenende gezeigt. Ich habe gestern kurz mit Ulla, meiner Schwester, gesprochen und durchblicken lassen, dass wir jemanden für die Wochenenden suchen. Aber sie ist auch schon 65 und vermutlich auch solcher Anstrengungen müde. Bei der unterdessen in Ahrweiler eingetretenen Situation benötgt zwar dringend Geld, aber Notlagen sind eine denkbar schlechte Basis für eine Zusammenarbeit.

Apropos: prekäre Situation in Ahrweiler: Unterdessen, nach mehr als zwanzig Jahren der immer wieder gewährten Unterstützung müsste ich dringend lernen, mich auch gegenüber diesen Notlagen abzugrenzen... Und ich habe keine Lust mehr mich überhaupt noch einzulassen auf ein Beharrungs- und Unfähigkeitsfluidum, dass einem jede Begegnung im familiären Kontext mürbe macht, einem die Kotze ins Gesicht treibt. Michael steckt in einer schwierigen, fast aussichtslosen Klemme. Den Kleinkrieg zwischen seinen Eltern können nur Ulla und Ernst beenden. Zweifellos eine Voraussetzung dafür, dass Begegnungen in dieser Familie überhaupt wieder möglich werden, dass Großelternschaft überhaupt auch nur ansatzweise gelingen kann.

Und was ist mit mir? Ich bin zufrieden! Wie bitte??? Ja, ich bin zufrieden!

ZU+FRIEDEN! Nein, so auch wieder nicht. Zweifellos bin ich ruhiger, fokussierter geworden. Ich weiß ganz offensichtlich, wo ich hingehöre - keinerlei Ausbruchsamibitionen. Frank hat mir noch einmal den Rahmen gesteckt, in dem ich erkennen kann, was ich "habe", auch was ich will - bei exorbitanten Zugewinnen in den letzten Monaten. Im "Feingewebe" einer so moschushaltigen Beziehung haben diese Irritationen für neues Strick- und Stickwerk gesorgt. Die Bewegungen sind allseitig! Da bewegt sich eben Claudia unabhängig von mir - und sie bewegt sich kräftig. Sie hat ihre eigenen Indikatoren und Parameter. Ich hingegen beobachte eine interessante Verschiebung: "Die Liebe wartet aufs Augenlicht..." Immerhin nennt Claudia Frank wieder (!) "Dicker", Bärbel vergeht vor Eifersucht, wählt drastische Verbalszenarien für iher "Beobachtungen" und ihre Befindlichkeit. Ich habe hier wenige Eintragungen nur vorgenommen, um "Stubai" zu beschreiben, zu würdigen! Wie immer lasse ich Großchancen aus, um einmal das durchaus Bemerkenswerte und Singuläre zu thematisieren. Denn Claudia und Frank scheint Bemerkenswertes zu gelingen. Dies wird sichtbar an einer "Briefaktion". Franks besondere Beziehung zu Claudia wird besonders deutlich an der Tatsache, dass er in einem Plastikbeutel alle (!) Briefe aufbewahrt hat, die Claudia jemals an ihn in (in über vierzig Jahren) geschrieben hat, und die  offensichtlich alle Umzüge überlebt haben! Sie bilde(t)en einen beeindruckenden Fokus für einen sicherlich gleichermaßern interessanten wie amüsanten Rückblick. Zweifellos hat es eher besondere, singuläre Qualität, wenn auf diese Weise verbundene Menschen eine Woche in der herbstlich-winterlichen Abgeschiedenheit des Stubaiers verbringen. Ich halte es mit Botho Strauß: "Die Liebe wartet aufs Augenlicht..." und dennoch fühle ich mich "sicher", reicher und vielleicht auch "souveräner" denn je! Warum?

Vermutlich weil es den von mir immer wieder in den letzten Monaten betonten "diamantenen" Kern gibt in der Beziehung zu Claudia. Vermutlich weil meine eignen "Obsessionen" mich nicht beherrschen, sondern vielmehr ich sie. Dazu hat mir sicherlich auch AB verholfen. Was also soll mir bitte nach 1997... noch widerfahren?

Demenztagebuch vom 12.11.2007

15.20 Uhr auf unserem Platz unterhalb des Winninger Flughafens. Mein Bruder Will würde heute 52 Jahre alt - im vierzehnten Jahr nach seinem frühen Tod. Es ist trocken und um die 7° bis 8°. Der Himmel zeigt Wolkenlücken nach Tagen des Regens und des Sturms. Ich habe mich für ein paar Stunden verkrümmelt. Rational und im Sinne eines unmittelbar bewusstseinsfähigen bzw. -relevanten Umstands mag ich mich gar nicht darauf einlassen, dass mich Willis Tod heute noch so beeinflusst, dass ich in diese negativen Stimmungsschwankungen hinein gerate. Aber es wird wohl seine Wirkung tun. Ich fühle mich aber ohnehin nicht so lebendig wie noch vor Wochen; habe nach langer Zeit Darmblutungen, die mich an den ersten Auslöser für die Darmspiegelung 2001 erinnern. Ich habe mich heute aufklären lassen, dass meine letzte Darmspiegelung erst 1 1/2 Jahre zurück liegt (Juni 2006). Am Donnerstag lass ich mich von Dr. Keller beraten.

Ich habe inzwischen einen Standortwechsel vollzogen - sitze im Flughafenrestaurant, wo die letzten 1 1/2 Jahre meistens Leo mit dabei war. Im Hinblick auf ihn lässt sich kaum sagen, ob wir dazu noch einmal Gelegenheit haben werden - ich vermute eher nicht. Auf Rat vn Dr. Schmitt haben wir den "Demenzblocker" (Axura) abgesetzt. Leo hat sich erholt. Er geht wieder vom Bad bis ins Schlafzimmer, aber natürlich nur mit Hilfe; er erweckt in der Regel den Eindruck, dass er die Wege alleine gar nicht mehr finden würde. Er wirkt meistenteils recht orientierungslos, kann sich nicht mehr verständlich mitteilen; zweifellos verfügt er noch über ein durchaus ausgeprägtes (Selbst-)Bewusstsein. Er reagiert auf Anrede. Er setzt sich mit seinen Grundbedürfnissen und Grundverrichtungen noch halbwegs bewusst und teils auch angemessen auseinander; er reagiert noch ansatzweise auf "schiffen", "kacken", schlafen. Im Essen zeigt sich noch kompetenter und teils auch zielgerichteter. Die abendlichen Sitzungen auf der Toilette zeigen ihn allerdings in einem zunehmenden Verblödungsprozess. Er beobachtet Lisa wie eine Fremde, nimmt aber dabei zu mir Kontakt auf.