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Tagebucheintrag vom 29.7.2007-11.8.2007

Demenztagebuch 29.7.2007

Wieder einmal auf der Fähre nach Juist - eigentlich alle Jahre - zumindest nach Abschluss des Sommersemesters; in der Regel für eine Woche. Die Woche nach Semesterende war hektisch und auch die Fahrt nach Juist war noch davon geprägt. Der Abschied vom Heyerberg war gedämpft und von einer gewissen Schwere. Ich neige Leo gegenüber ja nicht mehr zu Erklärungen. Lisa, meine Schwiegermutter meinte wohl, ihm erklären zu müssen, dass wir - Claudia und ich - für eine Woche Urlaub machen würden. Leo hat gestern auf mich einen eher traurig bis gedämpften Eindruck gemacht und schien unser Vorhaben durchaus wach und kritisch zu registrieren. Ganu offensichtlich realisiert er, dass da kurzfristige Veränderungen ins Haus stehen, die er so gar nicht haben möchte - keine Veränderungen im unaufhaltsamen Veränderungsgeschehen.

Ich selbst bin gespannt, ob mir Juist als 7-Tage-Ziel ansatzweise den "doppelten Ertrag" bringt, wie das bisher eigentlich meist der Fall war. Selten bin ich so entspannt in eine Doppelzimmer-Zweisamkeit hineingegangen; selten war das Klima zwischen Claudia und mir so entspannt wie gegenwärtig. Und selten war die Anspannung angesichts der Situation in Güls auf dem Heyerberg so ausgeprägt.

Aktuelle Einlassung (13.12.2015): Ich hätte es kaum glauben wollen, hätte mir jemand 2007 angedeutet, dass wir im Dezember 2015, kurz vor Weihnachten, vor einer ähnlichen Situation stehen würden. Eile ist geboten. Lisa, meine Schwiegermutter, wird nach erfolgreicher Operation ihres Oberschenkels vermutlich noch vor Weihnachten entlassen. Wir müssen eine "Kurzzeitpflege organisieren - ich sage "wir" (gemeinsam mit dem Sozialdienst des Brüderhauses), weil wir dies in Lisas und in unserem Sinne regeln wollen. Deshalb hatte ich bereits heute Morgen ein Gespräch im Laubenhof, vor Ort in Güls. Dort deuten sich Möglichkeiten an, aber erst einmal in einem Doppelzimmer. Und genauso wie Leo - nein, viel massiver - wird sich meine Schwiegermutter dagegen wehren. Aber wir haben aufgrund der ersten Eindrücke im Brüderhaus festgestellt, dass wir mit einer pflegerischen Betreuung Lisas bei der gegebenen Ausgangslage (Oberschenkelhalsbruch) überfordert sind. Wir werden uns durchsetzen und nach 20 Jahren der intensivsten Betreuung der (Schwieger-)eltern sowohl Vernunft wie Egoismus walten lassen. Der Laubenhof ist vor Ort, und sie wird täglich Besuch haben. Wir sind eine starke Familie, die aber nun auch Grenzen definieren wird!

Erste Inseleindrücke: Man muss schon eine starke Affinität zu einem nordischen Klima und einer entsprechenden Mentalität aufweisen, um der Spröde und der Spärlichkeit dieses Eilandes etwas - oder gar mehr - abzugewinnen. Es ist eine Mischung aus bescheidenem bis gediegen daher kommendem Backsteincharme, sehr viel Horizont bei gleichzeitiger Enge der Insel; 18km in der Länge, aber wohl nur 500 bis 600 Meter breit an der schmalsten Stelle. Es riecht nach See - auch nach dem großen Ozean bis hin zu den Urgerüchen, salzig, fischig und nach Tang, an guten Tagen Salz und Sonne, an weniger guten Sturm und Urgewalt.

Demenztagebuch 30.7.2007

"Spaziergang" am Hundestrand entlang zur "Wilhelmshöhe". Spaziergang in Anführung, weil wir zur Zeit auf der Insel nicht nur Sturmwarnung haben, sondern in der Spitze Böen mit der Stärke 7 bis 8 erleben. Während des "Spazierens" suchen wir ein paar markante Muscheln und Steine für Lauras Geburtstagspäcken - sie wird am 2. August immerhin 20, und wir sind nicht da! Das sind ja auch Abnabelungsprozesse - auch die Eltern nabeln sich ab, vielleicht sogar in einer Haltung und Dynamik, die den Kindern seltsam vorkommen mag.

Demenztagebuch 31.7.2007

Bedingt die Emanzipation anderer die eigene? Am Beispiel von Frank und Claudia ließe sich das eindrücklich zeigen und auf meine eigene Emanzipation beziehen. Eine eigene Wohnung, eigene Interessen, eigene Wertigkeit, kein Preisgeben einmal erkämpfter Positionen und Freiheiten, das sind Errungschaften. Und wie ich höre, haben sich Claudia und Frank in die Hand versprochen, gemeinsam Ski-Laufen zu gehen (hört sich lustig an). Claudia bemisst Franks Erfolg und Konsequenz auf dem eigenen Weg an der Einhaltung dieser Absprache. Und Frank - ein exzellenter Ski-Läufer hat etwas zurück zu gewinnen bzw. zu erobern - seit mehr als zwanzig Jahren entsagt er dem Wintersport, nicht zuletzt aus familiärer Verantwortung und Rücksichtnahme. Ansonsten bleibt es dabei: Diskret ist, wer weiß, was er nicht bemerkt haben soll.

Ich arbeit (an mir selbst) - habe mir Detlef Klöckner: Phasen der Leidenschaft, Stuttgart 2007 (Klett-Cotta) mit auf die Insel genommen; ein grandioses Buch, in jeder Hinsicht erhellend und den Beweis antretend, dass ein multidisziplinärer Ansatz (mit therapeutisch-diskretem Fokus) einer pädagogischen Perspektive in galaktischer Weise überlegen ist. Ich sitze im "Kibitz-Eck" (hört sich auch lustig an) nach einer schönen Strandwanderung mit Biene. Claudia gönnt sich eine Strandkorb. Es herrscht heute Kaiserwetter, nachdem gestern noch der Himmel ins Meer gefallen ist:

Klöckner (79): "Man wird also einiges erleben und anderes nicht, je nachdem, welche Weichen man sich selbst stellt, welche das Leben zufällig anbietet und aufbürdet und wie man diese Hürden nimmt oder ignoriert."

Klöckner (62): "Für die Gesamtgestalt der Beziehung hat das Paar selbst die schlechteste Brille. Es lebt dieses Muster, es sieht aber wenig davon." Klöckner spricht von einem unverwechselbaren Konglomerat aus Persönlichkeitsaspekten und Lebensideologie, Alltagsmustern und Umfeldbedingungen, das eine Form (auch Morphologie) ergebe.

Demenztagebuch 4.8.2007

Das ist der letzte Tag auf Juist. Morgen geht es zurück nach Hause. Die Insel ist mir lieb geworden - zweifellos. Sie hat insbesondere für den von mir bevorzugten Wochentakt den idealen Zuschnitt. Es wäre schön und ein kleiner Traum, wenn wir die Insel noch einmal gemeinsam mit den Kindern erleben dürften - vielleicht in fünf, sechs - meinetwegen in zehn Jahren!? Den Kindern ist die Insel vertraut. Man bekommt dies allenthalben mit, dass Menschen, die die Insel als Kinder erlebt haben, irgendwann als Erwachsene zurückkehren. Das war bei Claudia ja auch so, ich glaube mit 15 und dann noch einmal nach dem Abitur. Schade, dass es wohl keinen Weg mehr mit Lisa, meiner Schwiegermutter, gibt. Aber wer weiß das letztlich schon?

Aktuelle Bemerkung: Nach den Ereignissen vom 11.12.2015 wissen wir dies nun wohl definitiv. Fünfeinhalb Jahre nach dem Tod von Leo und im 93sten Lebensjahr von Lisa nach ihrem Oberschenkelhalsbruch beantwortet sich diese Frage von selbst.

1992 waren wir einmal mit meiner Mutter auf der Insel - das löst keine guten Erinnerungen aus. Das Wetter war eine Woche lang einfach nur Scheiße und die Stimmung war ebenfalls beschissen. Aber wenigstens gibt es ein paar schöne Fotos. Mama ist danach einige Male mit einer Klassenkameradin, Frau Schneck, auf die Insel Langeoog gefahren.

Demenztagebuch 5.8.2007

10.35 Uhr - noch dreieinhalb Stunden bis zur Überfahrt nach Norddeich-Mole bei Kaiserwetter. Das macht die Abfahrt attraktiv, aber nicht leichter. Man merkt dann schon, wie kurz eine Woche ist. Und es ist dann immer die Frage, was einen zu Hause erwartet. Sich auf die Kinder zu freuen, das ist keine Frage; auf der anderen Seite ist da der Heyerberg, und wir sind ja schon auf dem Weg, wir wissen ja schon, was Kinder erwartet, die sich mit der fortschreitenden Demenz von Vater oder Mutter - oder gar beiden auseinandersetzen müssen. Und wie geht es ansonsten mit uns allen weiter: Laura vor dem Studium? Anne jetzt in der 12! Und ich bin gespannt, ob Claudia mit Frank das avisierte Projekt (Schilaufen) in Angriff nimmt.

Demenztagebuch 11.8.2007

Es ist eine Woche vergangen seit unsrer Rückkehr von Juist; eine knappe, sehr intensive Woche [ich reduziere die Komplexität mit dem Filter der Demenzrelevanz - ergänzt um ein paar Schlenker, die einfach als zeitgeistige Erfrischung oder aus 2015 betrachtet als überraschende Kontext erhellende Erinnerungssplitter in Erscheinung treten]:

Diese Kladde ist die 22ste in den letzten sieben Jahren, und es kommt mir unwirklich vor, dass in Jahren einmal jemand (vielleicht meine Kinder) diese (ungefilterten) Absonderungen lesen wird; wenn Leo und Lisa, die jetzt beide in unmittelbarer Nähe ihre Mittagsruhe halten, schon lange gestorben sein werden und ich vermutlich eben auch nicht mehr leben werde. Merkwürdig, dies hier so aufzuschreiben [aktuelle Einlassung, 16.12.20015: es zum zweiten Mal aufzuschreiben!] und eine Vorstellung davon zu entwickeln, woran sich meine Kinder erinnern werden. Laura ist gegenwärtig noch mit Biene und Sascha in Kiedrich (wo Sascha im Weingut Weil eine Ausbildung macht - was mag wohl aus ihm geworden sein?) und Anne erholt sich zu Hause von der letzten Nacht - sie war mit Julia in Maria-Roth ->Dieblich und hat dort im Zelt übernachtet.

Ich habe von der Tatsache unser aller Endlichkeit unterdessen eine sehr erfahrungsgesättigte Vorstellung, die mich natürlich mit einschließt. Heute bemerke ich besonders gut, wie unstrukturiert ich diese Aufzeichnungen anfertige. Lisa und Leo schlafen heute Mittag länger als sonst, und so gibt es noch keinen Grund diese Eintragungen zu unterbrechen. Man gerät dann eher ins Kursorische und hält "Äußerliches" fest (Karasek würde von "Fürzen" sprechen): Ulla, meine Schwester, ist am Knie (Miniskus) operiert worden und hat wohl unter großen Schmerzen gelitten.