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Demenztagebuch vom 16.7.2007-27.7.2007

Demenztagebuch 16.07.2007:

Zitat des Tages: "Manche Zeit wird uns entrissen, machen gestohlen, manche verrinnt einfach" (Seneca). Ja, das scheint wohl so, aber ein kostbares "Stück" unserer Zeit holen wir bewusster und anspruchsvoller in unsere Verfügbarkeit. Wir "nehmen uns Zeit" und gestalten sie zu einem gemeinsamen Erleben: Wir nehmen eine Kühlbox, statten sie mit ausreichend Kühlmittel aus, vertrauen ihr eine Flasche besten Moselriesling an, geben eine Flasche Wasser dazu, begeben uns bei Kaiserwetter hoch über die Mosel und genießen die Aura des Ortes sowie das unschätzbare Privileg eines wertschätzenden Miteinanders, eines Gespräches im umfassendsten Sinne, vielleicht aber auch nur ganz schlicht in Anerkennung der Bennschen Notdurft:

Kommt -

Kommt reden wir zusammen - wer redet ist nicht tot,

es züngeln doch die Flammen - schon sehr um unsere Not.

 

Kommt, sagen wir: die Blauen - kommt, sagen wir: das Rot,

wir hören, lauschen, schauen - wer redet, ist nicht tot.

 

Allein in deiner Wüste - in deinem Gobigraun -

du einsamst, keine Büste - keine Zwiespruch, keine Fraun,

 

und schon so nah den Klippen - du kennst dein schwaches Boot -

kommt öffnet doch die Lippen - wer redet, ist nicht tot.

 Gottfried Benn

 

Aktueller Eintrag (13.12.2015):

Es ist Sonntagvormittag. Claudia besucht ihre Mutter im Brüderhaus. Wir beginnen jetzt schon unsere Kräfte einzuteilen. Ich war gestern Nachmittag für eine Stunde bei meiner Schwiegermutter, Lisa, nachdem Anne und Sebastian sowie Claudia und Laura sie am Vormittag besucht hatten. Ich werde das heute Nachmittag wiederholen. Der Zustand meiner Schwiegermutter ist bemerkenswert. Sie hat die OP gut überstanden. Gestern, am Spätnachmittag entwickelte sie einen Rededrang, wie lange schon nicht mehr. Ohne Punkt und Komma und ohne jede Wortfindungsschwierigkeiten erzählte sie "von früher". Fokussiert um ihren Vater, den sie immer schon als liebevollen Vater geschildert hat (er ist bereits 1952, wenige Wochen vor der Hochzeit von Lisa und Leo, verstorben), reihte sie eine Geschichte an die andere. Dabei drehte sich - wie schon bemerkt - alles um ihren Vater, seine Fürsorge, mit der er sie in vielen erinnerten Situationen bedacht habe (bei der Feldarbeit, im Verwöhnen mit den von ihr so sehr geliebten Herzkirschen). Sie erzählte mit umgekehrter Perspektive von ihrer Zuneigung/Liebe ihrem Vater gegenüber, von einem Spaziergang in die Stadt, in dessen Verlauf, sie sich nicht getraut habe, den Gang in ein Café vorzuschlagen. Sie hätte weder gewusst, ob er Geld dabei hatte noch ob er sich aufgrund seines "Buckels" geschämt habe. Es war ihr wichtig, zu betonen, wie sehr sie den Vater gemocht habe, und dass sie sich nicht für seine - offenkundig durch Mangelernährung in der Kindheit verursachte Wachstumsstörung - seinen "Buckel", geschämt habe. Sie habe ihm - als sie schon Schneiderin gewesen sei - eine Jacke mit einem Polster geschneidert, so dass der Bucke kaschiert wurde. Weiter sprach sie in Hochachtung von ihrer Mutter, die den Vater - trotz seines Buckels - geheirtat habe. Ebensolche Hochachtung brachte sie dem Vater gegenüber, der ja seine Magd geheiratet habe; die Anna, ihre Mutter, sei ja als Magd auf dem Hof gewesen. Ihr Mann, mein Schwiegervater - Claudias Vater - spielte gestern Nachmittag keine Rolle. Mal sehen, was ihr heute einfällt. Jedenfalls ist es das schiere Gegenteil von einer Demenz-geprägten Entwicklung. Sie erzählt mit ungemeiner Präzision - wortreich, gleichwohl unter dem schonenden Einfuss der Luhmannschen "Inkonsistenzbereinigungsprogramme". Claudia kommt soeben nach Hause und erzählt, dass ihre Mutter gerade so davor bewahrt werden konnte, alleine aufzustehen. Die Schwestern mobilisieren sie bereits im Rahmen der Möglichkeiten - Frühstück und Haarwäsche nicht im Bett, sondern am Tisch bzw. im Bad.

Demenztagebuch 23.7.2007:

Man könnte auch mal einen Life-Bericht aus dem Demenz-Zentrum Heyerberg liefern. Ich sitze jetzt hier jetzt hier um 20.12 Uhr bei Lisa und Leo im Wohnzimmer. Es laufen die Nachrichten, Tagesschau. Leo sitzt in seinem Sessel und schaut sich Fotos an. Das ist seit Monaten seine Hauptbeschäftigung; dabei sortiert er auch Fotos aus, er sondert sie aus, indem er sie zerreißt. Meist sind es Bilder von den Kindern oder auch von Lisa, ab und zu auch eigene Motive. Ich habe ihm entlocken können, dass das für ihn vorbei sei - abgeschlossen. Als ich ihm einmal "Unterstützung" versprach - ich würde ihm helfen und dabei sein Lieblingsfoto in die Hand nahm und so tat, als würde ich es zerreißen, wehrte er sich vehement. Ich "drohte" seinen 350er Mercedes zu zerreißen. Also nimmt der alte Sack noch genau Anteil an dem, was geschieht, was er "will" und was nicht.

Leo sieht blendend aus - Lisa ebenfalls. Er ißt gut und reichlich, wird bestens versorgt und gepflegt. Sein Tagesrhythmus wird von Lisa bestimmt. Sie nimmt z.B. meine heutige frühere Anwesenheit dankend an und nutzt die Situation, um noch eine halbe Stunde früher ins Bett zu kommen. Also werden wir - Leo und ich - gegen 20.30 Uhr den Weg ins Bett antreten.

Demenztagebuch 26.7.2007:

Morgen ist Freitag, der 27.7.2007, mein letzter Arbeitstag vor einem Kurzurlaub und zugleich Mamas fünfter Todestag.  Ulla, meine Schwester, hat - wie all die Jahre - eine Messe (auch für Papa) bestellt. Ich werde nicht hinfahren, sondern ein wenig "Horizonte" genießen. "Horizonte - unser Festival der Weltmusik - findet zum fünften Mal statt, insofern jährt sich auch Mamas Todestag zum fünften Mal. Es ist erschreckend und ernüchternd, weil ich das Gefühl habe, die letzten Jahre im Zeitraffer verbracht zu haben; vielleicht auch deshalb, weil es mir seither nie mehr wirklich schlecht gegangen ist, sondern ich eher das Gefühl habe, die beste Zeit meines Lebens zu haben - Mama hat mir einen guten Wind mit auf den Weg gegeben. Der Blick richtet sich nicht mehr primär auf die anderen (obwohl der Heyerberg wie nie zuvor meinen Alltag beeinflusst), sondern im Fokus der Aufmerksamkeit stehen allenfalls meine Kinder, Claudia (und Frank), im Grunde genommen aber ich selbst - natürlich immer in meiner Beziehungwelt.

Demenztagebuch 27.7.2007:

Wem gebührt wohl der erste Eintrag an diesem Tag? Ich sitze für eine halbe Stunde auf dem Jesuitenplatz. Dort steht bereits die erste Touri-Gruppe vor der Rückseite des Rathauses, des alten Jesuiten-Kollegs, in unmittelbarer Nähe des Denkmals für Johannes Müller. Bei ihren Städtetouren hat Mama vermutlich genau dies geschätzt und geliebt. Ich habe ihre wenigen Aufzeichungen bis heute nicht angesehen - vielleicht später einmal. Man könnte auf den  Gedanken kommen, es könnte einem selbst wohlmöglich einmal das Glück widerfahren, dass sich jemand für eigenen Aufzeichnungen interessieren möge, dann nämlich, wenn sie dem eigenen Einfluss, der eigenen Kommentierung entzogen bleiben. Und im Unterschied zu meiner eigenen Mutter haben mich in meinen Kladden ja auch eher selten Aufzeichnungen und Bemerkungen über "Äußerlichkeiten", halt Reiseerlebnisse und -beschreibungen interessiert! Vermutlich würde ich ansonsten an dieser Stelle auch nicht nochmals vermerken, dass Mama am 27.7 2003 nach einem mühsamen und elenden Sterben gegen die Mittagszeit die Augen für immer geschlossen hat.

Meine täglichen Einblicke in Leos langen Abschied vermitteln mir im Unterschied dazu in den letzten Monaten eher den Eindruck, dass es bei meinem unterdessen 83jährigen Schwiegervater eben nicht ums Sterben geht, sondern um die Gestaltung eines langen, langen Verfallsprozesses. Es gibt immer wieder High-Ligths - so wie gestern Abend, als ich mit meinem Schlüssel das Haus betrete und von weitem schon wieder weiß/höre: "Aha, heute Abend führt wieder die (elende) deutsche Volksmusik das Regiment!" Schön zu sehen, wie Leo und Lisa im Wohnzimmer stehen und in Tanzhaltung behutsam den Rhythmus in wiegende Bewegung umsetzen. Wie werde ich doch milde und unendlich sentimental.

Da ist es schon wieder eine andere Frage, ob Frank mit seiner zarten Anfrage, er habe da etwas in Erinnerung -> "Horizonte", sich heute sehen lässt, da er ohnehin morgen einen Notartermin in Neuwied habe. Wie mühsam sich doch anderen Orts die familiären Abschieds- und Klärungsprozesse ausnehmen! Da habe ich doch allen Grund zu danken: Mama, Papa, Ulla, Willi und nicht zuletzt mir selbst. Beglückend, ja beglückend, wie viel weniger mühsam sich dies in der eigenen Familie vollzieht. Und wie sehr belastend sich dies in anderen Familien zeigt.