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Luhmann lesen mit Peter Fuchs

Ein Jahr nach Niklas Luhmanns Tod – 1998 – strahlte der SWR2 unter dem Titel „Freiburger Vorträge – Niklas Luhmann – Beobachtungen der Moderne“ sechs Vorträge aus, von denen fünf endlich im Jahre 2010, herausgegeben von Wolfram Burckhardt, in einem vom Kulturverlag Kadmos edierten Bändchen: „Luhmann Lektüren“ erstmals in gedruckter Form erschienen sind.

Ich selbst war als "Tourist" bei meinen Wanderungen durch „Luhmannland“ bereits im Jahr 1999 auf die Tonträger der Carl-Auer-Verlags gestoßen, die dankenswerter Weise die im Gedenken an Niklas Luhmann organisierte Vorlesungsreihe einem breiteren Hörerkreis zugänglich machte. Eine gedruckte Form der Vorträge lag hingegen nicht vor. In einer Dachkammer im abgelegenen Nordflügel des A-Gebäudes der Uni Koblenz – noch auf dem Oberwerth – reifte der Gedanke, das nur auf den Tonträgern zugängliche, gesprochene Wort in eine les- und damit nachvollziehbarere Form zu bringen. Zu meinem fünfzigsten Geburtstag 2002 habe ich mir meine eigene Festschrift zusammengebastelt.

Hier finden Sie einen Zugang zu wichtigen Passagen aus Peter Fuchsens Vortrag: Die Metapher des Systems - Gesellschaftstheorie im dritten Jahrtausend.

 

Freiburger Reden

 Peter Fuchs: Die Metapher des Systems – Gesellschaftstheorie im 3. Jahrtausend, Vortrag vom 18. April 1999

... Auch bei Luhmann finden wir – entsprechend der soziologischen Tradition - die Sichtweise, das Gesellschaft etwas sei, was als umgreifendes Sozialsystem alle anderen beinhaltet.

Der eigentliche Unterschied besteht in einer Kränkung, die ähnlich wie die Freudsche oder die Kantsche Kränkung oder die Kopernikanische Kränkung den Menschen zutiefst verletzt hat und dies war einer der Hauptgründe, warum Luhmanns Werk so sehr umstritten und bekämpft gewesen ist. Die Grundidee ist, das dieses umfassende System der Gesellschaft bewusstseinsfrei operiert. Das heißt innerhalb der Gesellschaft – ganz im Gegensatz zu der Tradition, die wir kennen, behauptet Luhmann – gebe es keine Menschen, keine Subjekte, keine Individuen; all dies seien Phänomene, Einheiten, die jenseits der Gesellschaft stünden, in deren Umwelt. Also, der entscheidende Gesichtspunkt in dieser Art von Gesellschaftstheorie ist die Bewusstseinsfreiheit von Gesellschaft.

Und sie können sich das relativ leicht vorstellen, wenn ich einen Moment schweige ........... so werden sie bemerkt haben, dass keine Leuchtschriften über ihre Stirnen liefen, das niemandes Gedanken sozusagen durch die Luft schwirrten, es herrschte einfach nur eine relative Stille. Es wäre auch absurd anzunehmen, dass dieses System, das wir jetzt im Augenblick bilden wächst, wenn ihre Fußnägel wachsen, ihre Leber arbeitet; dass das sozusagen das System beeinflusst, das als ein soziales aufgefasst werden kann. Und genau dies waren die Gründe, die Luhmann dazu führten, den Menschen exzentrisch zu Gesellschaft in ihrer Umwelt zu positionieren.

Diese – dann subjektfrei, bewusstseinsfrei gedachte – Gesellschaft besteht nach Luhmann dann aus Kommunikationen. Wenn sie denn nicht aus Gedanken besteht oder aus irgendetwas anderem, aus Körpern oder was auch immer, woraus besteht sie dann? Seine Auffassung ist, aus Kommunikation, die an Kommunikation anschließt, die an Kommunikation anschließt und eigentlich nie irgend etwas anderes.

Unter modernen Bedingungen führt das dazu, dass die Gesellschaft nur noch Weltgesellschaft sein kann, also eine Gesellschaft, die den Zusammenhang aller möglichen Kommunikationen thematisiert. Es gebe jenseits der Gesellschaft keine Inseln mehr der Gesellschaftlichkeit, sondern alles ist mit allem verbunden, wobei ganz interessant ist, dass dieser Weltbegriff im Rahmen von Weltgesellschaft nicht dasselbe meint, wie ‚Globalisierung’, also nicht etwa ein räumlich ausgedehntes System, zu dem dann Südamerika, Australien, Japan und Deutschland zählen würde. Gedacht ist bei ‚Welt’ immer an eine systemrelative Größe, also das sozusagen, was das System ausschließt, indem es selbst dann eingeschlossen ist, das ist immer die Welt, System und Umwelt addieren sich zur Welt. Also ein ganz anderer Weltbegriff, ein Horizontbegriff, den er wie viele andere auch von Edmund Husserl bezogen hat...

Der Weltbegriff, der Begriff der Weltgesellschaft, wenn er den nicht auf den Globus bezogen hat, geht dann aus von einer Pluralität von Welten, also es gibt soviel Welten, wie es Systeme gibt, soviel systemrelative Umwelten, wie es psychische und soziale Systeme gibt und daraus folgen eine Fülle von Problemen, die ich gleich noch näher thematisieren werde.

Zunächst mal ist diese Weltgesellschaft, wie Luhmann sie beschreibt, eine differenzierte Gesellschaft. Alle Gesellschaften... sind differenzierte Gesellschaften, also in sich gegliederte Einheiten. Wenn wir weit zurückdenken in der Geschichte, so wird eine der frühesten Differenzierungen in sozialen Einheiten die Frau-Mann-Unterscheidung gewesen sein. Die drängte sich sozusagen optisch schon auf, die drängte sich zeitlich auf. Und wir können uns leicht vorstellen, dass die Stämme, die Horden, die tribalen Einheiten frühester Gesellschaftsformationen genau entlang dieses Unterschiedes ihre eigenen Strukturen entwickelten. Es wird also glückliche Dörfer gegeben haben, wo die Frauen auf der einen und die Männer auf der anderen Seite lebten und man sich sozusagen nur zu ganz bestimmten, nämlich vielleicht zu Vermehrungszwecken getroffen hat. Dies scheint aber nicht haltbar gewesen zu sein, vielleicht deswegen nicht, weil die Männer, die auf der Jagd waren dann auch verwundet wurden, sich dann in den Höhlen aufhielten, in denen auch die Frauen waren. Vielleicht ist bei dieser Gelegenheit auch die Kunst entstanden, man weiß es nicht ganz genau, vielleicht aus Langeweile, aus verhindertem Tätigkeitstrieb. Wie auch immer, dies könnte eine der frühen Differenzierungen gewesen sein, dann aber ganz sicherlich das, was die Soziologie, segmentäre Differenzierung’ nennt, also die Aufteilung einer Gesellschaft in räumliche Einheiten; und zwar so – die räumliche Aufteilung – dass man gar nicht weiß, ob man von einer Gesellschaft oder von Gesellschaften sprechen soll.

Wenn wir uns also noch einmal diese ‚tribalen Einheiten’ vorstellen, so sind die in weiten Räumen verteilt, und die Zwischenräume zwischen diesen Einheiten sind hochgefährliche Räume mit Dschungeln gefüllt, mit Wüsten, mit was auch immer. Und die sozialen Strukturen entstehen jeweils im Segment und das Problem taucht dann auf – wenn man dieses Segment verlässt – lange, lange durch gefährliche Welten ziehen muss, was denn geschieht, wenn man dann auf andere Einheiten der gleichen Art trifft? Wird man dann als Mensch aufgefasst oder wird man aufgefasst als etwas, das man verspeisen kann oder wird man aufgefasst als etwas, das Gott gleich ist. Das war vorher nicht absehbar und das ganze Syndrom sozusagen der Fremdheit und des Fremden, das wir heute immer noch mit uns führen, könnte auch aus diesen Tagen rühren. Jedenfalls konnte man damals noch von Gesellschaften im Plural reden. Dann gibt es aber Verdichtungszonen, meinetwegen bestimmte Segmente liegen an Flüssen, an günstigen Punkten, wo Quellen sind. Und die werden dann zu Zentren, so ähnlich wie Shmuel Eisenstadt das behandelt hat, zu Zentren, auf die hin bezogen die peripheren Segmente allmählich sozusagen sich verdichten, einschmelzen, so dass etwas entsteht wie Rom oder Babylon oder Athen oder welche Städte sie auch immer im Augen haben...

Die unmittelbare Vorform der Moderne, also unserer Epoche ist dann die Stratifikation des Mittelalters, die geschichtete Ordnung des Mittelalters. Und ich nehme diese stratifizierte Ordnung des europäischen Mittelalters heraus, weil die These Luhmanns ja war, das die moderne Weltgesellschaft und deren Differenzierungsform in Europa und nur einmal, also in Europa entstanden ist und von dort aus so etwas wie die Gesamtweltgesellschaft entwickelt hat. Die Stratifikation des Mittelalters – und sie entsinnen sich, dass die Spitze dieses Dreiecks durch Kaiser und Papst gebildet wird, das dann sozusagen der Adel kommt, der Klerus kommt, die Bürger kommen bis hin zu der Basis der Pyramide – dort sind die Leprakranken und die Bettler, die ehrlich Armen, während die unehrlich Armen möglicherweise ganz aus diesem Pyramidensystem ausgeschlossen sind...

Legitimationsbedürftige Ordnung der Ungleichheit – Umkehrbarkeit im Jenseits: „Alles, was hienieden geschieht, ist sozusagen im Jenseits umdrehbar...

Die Moderne, deren Einbruch man sicherlich nicht auf Jahrhunderte festlegen kann, ist nun eine Ordnung, die diese ständische oder stratifizierte Ordnung zerbricht. Anfang des 19. Jahrhunderts sind die letzten Stände zerbrochen. Die Gesellschaft selber gibt es auf, sich in Schichten zu ordnen. Es gibt noch immer eine Schichtung, sozusagen sich naturwüchsig sich einstellende Ungleichheit der Personen. Aber sie wissen vielleicht, was wir heute Schichtung nennen, ist ja nichts anderes als eine Parametrisierung von Lebensverhältnissen...

Aber die primäre Differenzierungsform der Gesellschaft stellt sich um. Die wesentlichen Lebensbedürfnisse, selbst das, was für uns entscheidend ist, damit wir leben können, wird delegiert an die großen Funktionssysteme der Gesellschaft. Damit das funktioniert müssen ein paar Einrichtungen in der Gesellschaft entwickelt werden oder aufgegriffen werden, die es in ihrer Vergangenheit schon gegeben hat. Eine dieser Nachentwicklungen bezeichnen wir heute mit einem kuriosen Wort: Es heißt „symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium“. Im Prinzip ist einfach nur gemeint, dass wir im Alltag eigentlich immer konfrontiert werden mit Sinnzumutungen oder Sinnofferten, die wir nicht befriedigen wollen. Also, jemand verlangt etwas von mir und ich sage denn „nein“, oder ich sage ihnen etwas hier und sie sagen, das ist alles Quatsch. Das mag ja Luhmann sein, aber ich hänge an Habermas oder an irgendwelchen anderen Schulen. Immer haben wir das Problem, dass sehr unwahrscheinliche Selektionsofferten in irgendeiner Weise umgesetzt werden sollen. Und einige dieser Zumutungen, dieser alltäglich auftretenden Sinnzumutungen werden jetzt nicht mehr reguliert durch die persönliche Überzeugungskraft von Personen, sondern durch den Einsatz von Medien, die als Verstärker wirken.

Ich mache einfache Beispiele: Warum sollte ein Bäcker mir Brötchen geben nur aufgrund meiner weißen Haare, meiner Augenbrauen oder meiner Beredsamkeit oder muss ich ihm nicht Geld geben? Und genau Geld wäre ein solcher symbolischer Verstärker, ein Medium, das weltweit funktioniert. Das wäre ja nur ein Medium, das Medium der Wirtschaft...

Es gibt mehr Medien. Es entwickelt sich ja beispielsweise ein System wie Politik, in dem es darum geht kollektiv bindende Entscheidungen durchzusetzen – wie kann man das machen – dann hätten wir ein weiteres Medium: Macht. Also, Macht würde dann genau analog zu Geld im politischen System als Selektionsverstärker wirken: Warum gehe ich bei rot nicht über die Ampel? Einfach deswegen, weil mich dafür jemand bestrafen kann, wenn er mich erwischt, dass ich bei rot über die Ampel gegangen bin. Es gibt eine ganze Reihe von Medien. Aber ich nenne erst einmal Systeme, wie eben Wirtschaft, wie Recht, wie Politik, wie Kunst, wie Erziehung, wie Religion, vielleicht Sport, vielleicht auch das System der Massenmedien. Man kann also auch lange darüber diskutieren, was als Funktionssystem überhaupt in Betracht kommen soll. Ich nehme nur die eingeführten, also wie z.b. Wirtschaft und sage, dass solche Systeme üblicherweise Selektionsverstärker haben, die wir Medien nennen. Anhand dieser Medien entwickelt sich dann etwas, wofür es – jedenfalls im Abendland – lang, lang zurückliegende Vorläufer gibt, nämlich eine Technik der „binären Codierung“, der zweiwertigen Unterscheidung.

Binäre Codierung soll sagen – zunächst ganz abstrakt gesprochen – dass wir eine Unterscheidung machen, bei der die Bezeichnung der einen Seite der Unterscheidung die Bezeichnung der anderen Seite ausschließt. Das wäre eine solche Unterscheidung wie schwanger oder nichtschwanger; oder ein Lieblingsbeispiel von Luhmann selber: Das wäre eine Unterscheidung wie: Die Telefonnummer und alles andere ist nicht die Telefonnummer, sie müssen sozusagen immer nur die eine Nummer wählen, und es gibt keine Zwischenmöglichkeit: ‚Ich wähl jetzt ein bisschen die Nummer meiner Frau, oder ich geh davon aus, dass sie ein bisschen schwanger sei. Es gibt also Unterscheidungen, die sehr scharf sind und in sich selbst oszillieren und die berühmteste, das ist die von Sein und Nichts, eine mit der wir sozusagen groß geworden sind, die wir immer und überall wiederfinden. Es gibt nur das Sein und es gibt nicht das Nichts. Wir können uns dazwischen nichts vorstellen. Und wenn wir dann über Möglichkeiten sprechen, wie Aristoteles das getan hat, dann fragen wir uns schon: ‚Gibt es Möglichkeiten oder gibt es sie nicht?’ Wir bewegen uns also im gleichen Duktus solcher binärer Unterscheidungen.

Diese Technik vorausgesetzt, die wir alle beherrschen, und die Frage ist, ob asiatische Kulturen sie auf gleiche Weise beherrschen, ob Brasilianer sie auf die gleiche Weise beherrschen, aber die bei uns jedenfalls eingeführte Unterscheidung ‚Sein und Nichts’, eine Unterscheidung, die in sich oszilliert, die nihilistisch ist, die gar keinen Inhalt mit sich führt, das ist genau die Technik, die von den Funktionssystemen aufgegriffen wird, um sich zu autonomisieren, also um einen eigenen Bereich zu schaffen, der für andere nicht mehr zugänglich ist. Auch dafür Beispiele: Nehmen wir das bekannteste, die Wirtschaft: Der binäre Code dieser Wirtschaft wäre Haben oder Nicht-Haben, oder in einer etwas operativeren Fassung gesprochen: Zahlung – Nicht-Zahlung. Was immer Wirtschaft von der Welt wahrnehmen kann, was immer sozusagen auf dem Monitor des Systems, das sie darstellt, abgebildet werden kann, ist nur diese eine Unterscheidung Zahlung oder Nicht-Zahlung und nie etwas anderes.

Vielleicht sehen sie an dieser Stelle auch wie wichtig das ist, dass wir die Subjekte jetzt rauslassen, dass wir nicht über Individuen sprechen. Jemand, der beispielsweise einen Laden aufmachen will, in dem es darum geht, Lebensmittel zu verkaufen, die auf eine faire und anständige Weise erzeugt wurden, der kann das psychisch-moralisch so wollen, er kann sich wohl dabei fühlen, das so getan zu haben. Wenn er aber die Miete nicht zahlt, wenn er den Strom nicht zahlt, dann wird auch sein Laden keine Möglichkeit des Bestandes haben. Und selbst dann, wenn sich ein Förderer findet oder Leute sammeln, funktioniert die Wirtschaft immer nur, wenn die Zahlung bezeichnet ist und die Nicht-Zahlung ausgeschlossen ist – mit Ausnahme der relevanten Nicht-Zahlung, also Schulden. Man kann natürlich Schulden machen. Aber im Prinzip, nur so würde Wirtschaft operieren: Zahlung – Nicht-Zahlung. Und wir können schon daran sehen, dass eine der Errungenschaften der Moderne – ‚Errungenschaft’ zunächst einmal sehr vorsichtig gesagt – darin besteht, dass diese Systeme vollkommen sich gegen Moral abdichten. Ob eine Zahlung stattgefunden hat oder nicht stattgefunden hat, ist keine Frage einer moralischen Entscheidung. Es ist zunächst einfach eine Frage des Anschlusses: Schließt jemand mit einer weiteren Zahlung an oder nicht.

Ähnlich würden wir dann für Politik uns fragen, was denn dort der binäre Code sei? Ich beziehe ihn jetzt einmal auf die Demokratien des Stils, den wir kennen. Dort wäre dieser binäre Code das Innehaben von Ämtern und das Nicht-Innehaben von Ämtern, also entweder jemand hat ein Amt oder er hat keins. Wenn er keines hat, ist er nicht legitimiert, kollektiv bindende Entscheidungen zu treffen. Wenn er eins hat, dann genau ist er dazu legitimiert. Und alles, was dazwischen in der Grauzone liegt, ist dann extern zum politischen System. Also nehmen wir einmal Protestbewegungen oder Vergleichbares. Wenn es um Erziehung geht, als ein weiteres System, könnten wir vielleicht sagen, dort sei die Entscheidung oder binäre Codierung ‚bestanden’ oder ‚nicht-bestanden’. Das hieße, die Funktion dieses Systems wäre die Ermöglichung von Karrieren, negativen und positiven Karrieren. Und diese Ermöglichung wird erreicht durch das Bestehen einer Prüfung oder Nicht-Bestehen einer Prüfung.

(Ich selbst bilde natürlich Studierende aus, und ich kenne welche, die hochbegabt sind, aber die Prüfungen nicht bestehen, folglich niemals den Job, um den es dort geht, ausüben oder ausführen können, gleichgültig wie gut sie sonst irgendwo sein mögen. Sie müssen sozusagen Nebenkarrieren oder andere Wege gehen, um in vergleichbare Bereiche zu geraten.)

Oder, nehmen wir als ein umstrittenes System das System der Kunst. Auch von diesem System behauptet Luhmann in seinem Buch „Die Kunst der Gesellschaft“, es sei ein autonomes Funktionssystem der Gesellschaft – was immer die Funktion im Einzelnen sein mag - man könnte sagen, anhand der Welt oder anhand der Dinge das Unbeobachtbare beobachtbar machen, in etwa die Richtung geht Luhmanns Argumentation. Und man könnte sich dann fragen, was sei der entscheidende Code dieses Systems, was wäre diese binäre Unterscheidung. Luhmann hat eigentlich bis zu seinem Lebensende darauf insistiert, diese Codierung sei ‚schön’ – ‚hässlich’, und es hat viel Streit darum gegeben. Ich selber habe in der Auseinandersetzung mit ihm immer darauf bestanden, dies sei eines der seltenen Systeme, das die Unterscheidung, die es selbst macht, nämlich Kunst oder Nicht-Kunst als Codierung auch benutzt. Also, das System selbst legt jeweils fest, was als Kunst gelten soll und was nicht. Und die Voraussetzung dafür wäre nur, dass sozusagen ein Medium geschaffen wird, dass die Berechtigung hat, Objekte, was auch immer, so zu bezeichnen, das sie als Kunst gelten; und das wäre dann die Person, die der sozialen Beschreibung eines Künstlers entspricht. Sie hat dann diese Berechtigung und andere hätten diese Berechtigung nicht. Wenn ich also dieses Papier nachher versteigern würde – als Kunstwerk – hätte ich wahrscheinlich schlechte Karten. Hätte ich sozusagen diese Zeichnungsberechtigung, würde ich als Künstler gelten, hätte ich also irgendwann einmal eine Sensation oder eine Überraschung produziert, dann wäre das nicht so...

( Vielleicht noch am Rande ‚das System’ der Intimität, der Familie – also welche Codierung gäbe es da. Wahrscheinlich: ‚wir zwei/Rest der Welt’, also Operationen, bei denen die wechselseitige Komplettbetreuung ausschließt, dass irgendjemand anderer noch mit betreut werden. Und diese wechselseitige Komplettbetreuung schließt aber dann auch aus, dass in der Familie das Medium Liebe sein könnte. Dort wäre es dann die obligatorische Liebe, also ein Paradox in sich selber – sie wissen Luhmann schätzt außerordentlich Paradoxien – und die obligatorische Liebe bringt dann Probleme: Muss man denn alle seine Kinder lieben, wo man doch schon seine Frau liebt. Und was machen sie, wenn sie ein Kind weniger lieben als ein anderes? Sagen sie dann: ‚Dich hab ich gern, du kannst weggehen’ oder so, das funktioniert auch nicht...)

Diese zweiwertigen Bereiche, diese Systeme, die mittlerweile weltweit operieren, stoßen – wenn sie so wollen – in einem imaginären Raum aufeinander: Wirtschaft auf Recht, Recht auf Politik, Kunst auf Politik, Kunst auf Sport, Sport auf Massenmedien. All diese Bereiche haben miteinander zu tun, aber ihre Zweiwertigkeit schließt aus, dass sie ineinander überführt werden können. Also immer dann, wenn sie eine Wertstruktur haben, in der eine Vielzahl von in sich selbst nicht transzendierbaren Unterscheidungen ist, bekommen sie es mit einer Welt zu tun, die sich nicht mehr auf die Einheit eines einzigen Beobachters reduzieren lässt.

Wenn ich also – um erst ein Beispiel zu nehmen – auf dem Platz vor dem Freiburger Münster einen Dackel verbrenne, dann ist dies scheinbar ein Ereignis. Wenn sie dann in den nächsten Tagen die Massenmedien konsultieren, würden sie feststellen, dass diese Dackelverbrennung natürlich für das Recht etwas anderes – eine Verbrennung einer Sache – ist, als beispielsweise für das Kunstsystem. Dort ist es ein ultimates Ereignis... Es wurden auch schon Fische im Rheinwasser vergiftet aus künstlerischen Motiven. Die Politik würde wiederum anders reagieren. Sie müsste sich fragen: ‚Sind Wahlchancen oder Nicht-Wahlchancen damit verknüpft und so weiter und so fort. Und dies alles unabhängig davon, was der je einzelne dazu denkt, denn was immer er denkt wird ja angeschlossen im Rahmen des Systems.

Solche zweiwertigen Bereiche nennt man Kontexturen seit Gotthard Günter. Das sind Bereiche, die man nicht überschreiten kann. Wenn ich also sage: Sein – Nichts, dann haben sie sozusagen nichts mehr, wo sie noch hingehen können. Alles ist entweder seiend oder nicht seiend. Und dann gibt es noch sozusagen Randzonen, gibt es so etwas wie Möglichkeiten, das aristotelische Problem der futuris contingentibus, also die Frage, gibt es Möglichkeiten als existierende oder nicht. Aber zunächst einmal kommen sie aus dem Bereich nicht raus. Kontexturen, diese nicht überschreitbaren Bereiche, die sind nun in der Moderne in einer Pluralität aufgetreten. Und eben deshalb hat Gotthard Günter unter anderen Theorievoraussetzungen vorgeschlagen von ‚Polykontexturalität’ zu sprechen. Die moderne Gesellschaft sei eine polykontexturale Gesellschaft, formuliert dann Luhmann.

Und das bedeutet: Sie hat keine Einheit außer Kommunikation selber. Es gibt nicht einen Beobachter, der nicht von wo anders her beobachtet werden könnte als einer, der aus einem System heraus spricht; wie ich z.B. jetzt beobachtet werden kann als jemand, der aus einem System heraus spricht, der Wissenschaft und in der Wissenschaft aus einem ganz entlegenen System, der Soziologie und da wieder aus einem spezifischen Bereich, der Systemtheorie und dann auch noch aus Neubrandenburg (Gelächter) – also wie gesagt, der entscheidende Gesichtspunkt ist: Sie können mich genau so beobachten, oder sie können Motive an mir beobachten (???), gegen die ich nichts machen kann:

(Ich erinnere mich, ich habe mal einen Vortrag gehalten in Berlin, dabei habe ich eine Büroklammer in der Hand zerdröselt, aus welchen Gründen auch immer. Aber seitdem es Freud gibt, kann das beobachtet werden als Nervosität. Und tatsächlich trat dann jemand auf und unterstellte der Systemtheorie hohe Aggressivität im Verweis auf die von mir zerdröselte Büroklammer.)

Und die Massenmedien tragen natürlich dazu bei – und wir alle können wissen, dass woanders anders beobachtet wird. Und das zentrale Problem der Gesellschaft ist dann: Wie kann noch jemand für alle sprechen? Wie kann es noch eine Ethik geben für alle. Wir sind eine Welt ohne legalen Beobachter. Und genau das würde ich für den Punkt halten, an dem sich die Systemtheorie gegenwärtig befindet. Die Luhmannsche Systemtheorie hat – sozusagen mit Hilfe des Systemsbegriff – eine europäische Tradition zerschlagen, diejenige nämlich, es gebe eine Repräsentation der Einheit der Gesellschaft in der Gesellschaft, es gebe sozusagen privilegierte Positionen, freischwebende Intelligenzen, Päpste oder wen auch immer, die diese Einheit beschreiben. Und genau das wird durch die Form der Theorie, also durch die Polykontexturalität ausgeschlossen.

Geht es darüber hinaus? Luhmann ist gestorben, und ich bin jemand, der aus der Wissenschaft heraus spricht. Und deshalb weiß ich sehr gut, dass es unser Schicksal ist – im Gegensatz zum Künstler – als jemand beobachtet zu werden, der überholt wird. Also, Wissenschaft fußt auf Kritik, und alles, was ich jemals tun kann, das ist allenfalls – nicht ich, sondern Luhmann (und der hat das sehr gefürchtet) ein Klassiker der Wissenschaft zu werden, also jemand, den man nicht mehr braucht, aber an dem man noch Exegesen vollziehen kann. Mona Lisa beispielsweise gilt immer noch als Mona Lisa und wir schätzen Leonardo da Vinci, aber Wissenschaft ist etwas, was überholt werden soll. Und die Frage ist, wie findet dieser Überholprozess eigentlich statt? Ich denke, dass man diesen Überholprozess sieht, dieses Weitergehen, wenn man noch weiter sich distanziert und davon ausgeht, dass die Wissenschaft sich in Paradigmen – das ist bekann (Kuhn), oder in Metaphern organisiert:

Es gibt zeittypische oder epochaltypische Metaphern. Und ich nenne nur wenige, die ihnen geläufig und bekannt sind: Das wäre die „Maschinenmetapher“. Lange Jahrhunderte haben wir die Welt beobachtet unter dem Gesichtspunkt ihrer maschinellen Konstruktion. Das ging über die Faszination von Automaten bis zu komplizierten Uhrwerken. Der menschliche Körper selbst konnte als Maschine aufgefasst werden. Und das hat natürlich Fortschritte stimuliert, aber nichtsdestoweniger wurde kurze Zeit später eben dieses Modell ersetzt durch ein „Organismusmodell“, also eines reziproken Zusammenspiels von lebendigen Teilen. Und auch dies hat Jahrhunderte bestimmt. Und alle diese Paradigmen oder Metaphern sind noch immer in unseren Köpfen oder verfügbar/einsetzbar. Das letzte Jahrhundert hatte eine Metapher, die bis in unser Jahrhundert hineinreicht: Das ist die „Energiemetapher“. Es gibt Energie, und in den Dingen, um die Dinge herum kreist eine Energie, die Strukturen annehmen muss. Das können wir in der Physik sehen, bei Ernst Mach. Das können wir aber auch – sozusagen in der verheerendsten Erfindung der Moderne – der Psychoanalyse entdecken. Dort nämlich ist das Freudsche Modell an die Energiemetapher gekoppelt. Der Mensch ist sozusagen nichts weiter, als ein Sack voller schwirrender Triebe, voll dunkler Instinkte, voller Leidenschaften, voller Begierde, voll Desir. Und er kann so beobachtet werden. Und sie wissen, welche Strukturen daraus entstanden sind. Noch heute ist die Gesellschaft psychisch reizbar. Psychisch reizbar in dem Sinne, dass jeder den anderen so beobachten kann, als ob der selbst nicht wüsste, was er sagt. Ein Verfahren, welches das Mittelalter nur gekannt hat mit dem Blick auf Exorzismen oder Teufelsaustreibungen, oder die Annahme, das jemand besessen oder dämonisch sei.

Die Frage ist, gibt es auch eine Metapher des Systems?In diesem Jahrhundert – jedenfalls scheint mir das sehr nahe zu liegen – ist der Systembegriff einer der am meisten eingesetzten alltäglichen und wissenschaftlichen Begriffe. Jeder redet von Systemen, vom politischen System, vom wirtschaftlichen System, von Systemen in der Wissenschaft, also es gibt z.B. systemische Therapien, Systemtheorien en masse. Und es gibt natürlich auch die Variante der Bielefelder Systemtheorie. Und die Frage ist, ist „System“ selbst eine Metapher? Das kann ich hier nicht beantworten. Ich kann nur Hinweise geben, wo möglicherweise Probleme mit dieser Metapher in der Zukunft auftauchen werden...

Ich erinnere daran, dass „systema“ im Griechischen vielerlei Bedeutungen hat. Aber eine die selten zitiert wird, das ist eine medizinische Bedeutung. „Systema“ heißt soviel wie Stockung, das Blut stockt, die Verdauung stockt oder Milch stockt, wird sauer. Es gibt also eine Bezeichnung für ein Verharren oder für eine Art von Isolation oder Hartwerdung. Und ich denke, da ist viel daran. Wir sehen Systeme heute – wenn wir über sie reden – immer noch wie „ontologische Einheiten“. Wir haben den Eindruck, wir könnten Systeme isolieren, wir könnten also über das politische System reden, oder wir könnten über das psychische System reden und setzen dabei eine Art von Stockung, von Ontologie, von Härte voraus und degradieren sozusagen die Umwelt. Die Umwelt ist all das, was nicht das System ist. Aber wenn ich eine Organisation beobachte, habe ich den deutlichen Eindruck – auch als Soziologe – ich beobachte ein etwas mit einem drumrum. Und gerade dies ist eine Metapher, die man unter Gesichtspunkten der „Innen-Außen-Metaphorik“ beleuchten kann. Man kann sich also fragen, wie kommt das denn, das wir so sehr sicher sind, dass es ein Innen-Außen von Systemen gibt? Es gibt ein wunderschönes Beispiel bei Spencer-Brown: Er fragt sich, wenn ich Geschirr spüle, bezeichne ich ja operativ immer das Geschirr. Ein anderer Beobachter könnte sehen, das ich das Universum abkratze. Der gleiche Vorgang kann sozusagen als ein zweiseitiger gesehen werden. Und Spencer-Brown hat dafür ein Wort, das nennt er „konditionierte Koproduktion“, also eine Simultanität von sozusagen wechselseitig sich bedingenden Prozessen, von denen die einen ohne die anderen nicht gesehen werden können.

Aber, wenn sie Luhmann sehr ernst nehmen, er hat gesagt, das System ist die Einheit der Differenz von System und Umwelt und das bedeutet, man kann weder das System für sich isoliert sehen noch die Umwelt für sich isoliert sehen. Beide konstituieren die Prozesse, über die wir reden. Und mein Eindruck ist, dass die logischen Mittel im Blick auf solche Verhältnisse einfach noch nicht entwickelt sind...

Ein weiteres Problem ist das der „Binarität“. Luhmann war ein binärer Denker, ein „binärer Horizontdenker“. Also, auf der einen Seite hat er immer die Dinge gesehen im Licht anderer Möglichkeiten à la Husserl: Ich wähle etwas und etwas anderes ist dadurch ausgeschlossen. Und er war ein binärer Denker in dem Sinne, das er immer – jetzt gerade bei Funktionssystemen – die binäre Unterscheidung, die scharfe Unterscheidung gesucht hat, selber gesehen hat, das dadurch dritte Werte sozusagen aufgerufen werden. Aber die Frage war, können wir heute mit diesen dritten Werten tatsächlich schon umgehen, oder warum finde ich so viele, die sich mit Systemtheorie beschäftigen und jede Art von „kognitiver Verschmutzung“ vermeiden. Binäre Verhältnisse sind klare Verhältnisse: schwanger – nicht-schwanger; Recht-Unrecht usw. und warum wird sozusagen in dieser gesamten Terminologie und in den anschließenden Arbeiten die Verschmutzung, die Verwirbelung, der unklare Bereich nicht selbst bearbeitet... Es gibt eine Art von „Verschmutzungsangst“, die dann der Systemtheorie auch den Vorwurf einbringt, sie sei esoterisch oder hermetisch gegenüber allem, was nicht zu ihr selbst gehört, denken sie an Theorien wie Jaques Lacan oder Freud selber, die in der Systemtheorie nur sehr schwer zu berücksichtigen sind.

Ich will einen „Theoretiker“ zitieren, der heißt Christian Morgenstern. Das Gedicht lese ich jetzt vor:

Ein blonder Korken spiegelt sich

In einem Lacktablett.

Allein- er sah sich dennoch nicht,

Selbst wenn er Augen hätt.

Das macht, dieweil der senkrecht steigt

Zu seinem Spiegelbild.

Wenn man ihn freilich seitwärts neigt,

Zerfällt, was oben gilt.

Oh Mensch, gesetzt du spiegelst dich

Im – sagen wir im All

Und senkrecht? Wärest du dann nicht

Ganz in demselben Fall?

Und das eigene Beispiel: Ich war in diesen Tagen mit meinen jüngsten Töchtern, die Wendy-Leserinnen, also Pferdeliebhaberinnen sind, beim Reiten und hab dort zugeguckt. Und ich sah wie ein Pferd gefüttert wurde, mit Hilfe eines Eimers. Und das Rätsel, das sich mir sofort aufdrängte ist, wie macht das Pferd das, den Eimer zu finden, obwohl es nicht nach unten gucken kann? Die Augen sind ja oben, an den beiden Seiten und dann ist da so ein langes Kinn – ich hoffe, man nennt es Kinn oder Kiefer, und es kann den Eimer nicht sehen. Und darauf hin hab ich die Pferdelehrerin befragt, wie es denn bemerken würde, wo der Eimer sich befindet und wie es damit umgehen kann? Und darauf sagt mir die Pferdelehrerin: Dies seien „Tasthaare“, die dafür verantwortlich seien, Tasthaare unten am Kiefer. Und ich würde sagen, die Metapher des Systems, von Luhmann genial ausgenutzt und eingeführt in dieser Form, ist ein Kompendium von Tasthaaren. Das System sozusagen, dieser Begriff, diese Metapher hat uns geholfen, sehr viel weiter über die alteuropäische Tradition hinauszukommen. Aber wir sehen noch nicht, wohin das führt!

   
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