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(Peter Sloterdijk zu seiner Idee des „Erototop“, in: Sphären III (Schäume), Frankfurt 2004, 405-411)

(Zusammenstellung: F.J. Witsch-Rothmund)

Peter Sloterdijk:   Zur Anthroposphäre gehört unübersehbar und prägend das Erototop, das die Gruppe als einen Ort der primären erotischen Übertragungsenergien organisiert und als Eifersuchtsfeld unter Stress setzt. Es markiert Eifersuchtsfelder und Stufen des Begehrens. Zugegeben, man muss schon eine ganze Saison auf der anthropogenen Insel zugebracht haben, um eine Witterung dafür zu bekommen, wie die Einwohner ihr Wunschleben organisieren. […] Wer sich im Inseltreiben zurecht finden will, ist gut beraten, seine Aufmerksamkeit auf das affektive Treiben der anderen zu verstärken. […] Das erotische Feld wird unter Spannung gesetzt, indem die Gruppen durch ständige subakute Selbstirritation eine Art von begehrlich-argwöhnischer Aufmerksamkeit auf die Unterschiede zwischen ihren Mitgliedern produzieren. Daraus entsteht ein Eifersuchtsfluidum, das durch prüfende Blicke, humoristische Kommentare, herabsetzende Nachreden und ritualisierte Konkurrenzspiele in Zirkulation und Fluss gehalten wird. […]

In dieser Dimension manifestiert sich der Eros nicht als dual-libidinöse Spannung zwischen Ego und Alter, sondern als trianguläre Provokation: Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt, sobald ich annehmen darf, dass ein anderer dich liebt und deine schöne Gestalt ihn genügend reizt, um dich in Besitz nehmen zu wollen. […] Erotische Prozesse in der Gruppe bilden demnach die Grundform des Wettbewerbs – ausgelöst durch die imitative Beobachtung des Strebens anderer nach der Beschaffung von Seins-, Besitz- und Geltungsvorteilen. […] Und folglich gehört zur Gruppenweisheit ein Eifersuchtsmanagement, das dreidimensional ansetzt. Sollen die Selbstirritationen der Gruppe in einem lebbaren Tonus gehalten werden, braucht das Kollektiv ausreichende Diskretionen für die Seinsdifferenzen, die Besitzdifferenzen und die Statusdifferenzen in seinem Inneren. Diskret ist, wer weiß, was er nicht bemerkt haben soll. […]

Nichtsdestoweniger ist zu erwarten, dass in allen Gruppen okkasionell oder periodisch der Eifersuchtsfuror den Sieg über die Diskretion davonträgt. […] Um diese so furchtbaren wie insgeheim begehrten Ausbrüche der affektiven Pest zu verhindern, braucht jedes Erototop seine Schule des richtigen Begehrens oder besser eine Moral, die als Prophylaxe der Wut auf die Unterschiede dient. Ganz nebenbei erwähnt entsteht aus dieser rohen Kunst des Liebens die Neidkultur, die sich mit dem Ehrentitel Kritik zu schmücken pflegt. Der erste Unterricht in der Schule des Begehrens wird durch Verbote erteilt. Hier lernt man das Nötige durch das Tabu und das Du-sollst-nicht. Je ruhiger der Besitz, desto eher wird die Wunsch-Eskalation verhindert. Im Verbot macht sich die Anwesenheit des Dritten bemerkbar, der bereits zwischen Mich und Dich getreten ist, bevor wir uns empirisch begeg-neten: Dieser garantieleistende Dritte trennt mich von meinem naiven Begehren nach den Vorteilen des anderen ebenso, wie er dem anderen die Exhibition seiner Begünstigungen untersagt. Da aber weder Verbote noch Tabus die schielende Aufmerksamkeit auf das fremde Gut neutralisieren können, sondern eher zur Fokussierung des Begehrens auf das Entzogene beitragen, müssen fortgeschrittene Kulturen zu einer aktiven Desinteressierung der Menschen gegenüber den Objekten ihrer Eifersucht übergehen. Dies gelingt nur, wenn an ihre Stelle höhere Güter gesetzt werden, deren ideelle Natur eine unbegrenzte Teilung und keinen provozierenden Privatbesitz erlaubt. Von dem Aufatmen, das diese Erhöhung des Begehrens bewirkt, lebt bis zum heutigen Tage alles, was irgendwie einen Bezug zum Geistigen hat. […]

Die hochkulturellen Ethiken im Osten wie im Westen arbeiten mit der Ironie, dass Menschen, die sich um Gutes schlagen, Besseres versäumen. Die Engel, sagt Emerson, verlassen uns nur, damit Erzengel kommen mögen. Gab es im 20. Jahrhundert tatsächlich einen Verrat der Intellektuellen, so indem sie die Ironie umkehrten. Sie begannen, das sogenannte Bessere zu belächeln, entschlossen, ihre eigene Portion vom gewöhnlichen Guten nicht zu versäumen. […] Seither ist die Arena, in der um die Verteilung knapper Vorzugsgüter gespielt wird, wieder alles, was der Fall ist. Große Politik ist nach 1914 die Universalisierung von Eifersuchtskämpfen ohne höhere Ebene. [Anm.: Über den Platonismus und den Stoizismus gelangt Peter Sloterdijk schließlich zur buddhistischen Lehre:] Die reifste Gestalt einer Ethik der Desinteressierung ist ohne Zweifel in der buddhistischen Lehre von den Anhaftungen und ihrer Auflösung durch das Schwert der Einsicht erreicht worden. Mit seiner subtilen Analyse der Kausalkette, die zu leiderzeugenden Fixierungen führt, versucht der Buddhismus wenigstens eine Minderheit von Menschen aus der Begehrens-Arena und von dem Gefühl des unvermeidlichen Verliererseins zu emanzipieren.