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Das Unfassbare als basso continuo unseres Lebens (24)

„Elias Canetti war ein Todfeind im wahrsten Sinne des Wortes. Mit obsessiver Verbissenheit hat sich der Nobelpreisträger über Jahrzehnte hinweg gegen die Begrenztheit des menschlichen Lebens zur Wehr gesetzt. Er hat den Tod gehasst und gefürchtet wie kein Zweiter. Sein Leben lang schrieb er in Notizen dagegen an, wollte den Tod als etwas Natürliches nicht akzeptieren.“ Mit diesen Sätzen leitet Günter Kaindlstorfer seinen Beitrag/Rezension Lebenslanges Anschreiben gegen den Tod ein.

Ganz gewiss muss man nicht annähernd so besessen sein von der Idee, der Tod sei ein unerträgliches Skandalon, um nicht gleichzeitig in einem langen Leben das memento mori im Sinne Rainer Maria Rilkes gegenwärtig zu haben:

Schlußstück

Der Tod ist groß.
Wir sind die Seinen
lachenden Munds.
Wenn wir uns
mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
mitten in uns.

Als mein Schwiegervater im März 2010 im Alter von fast 86 Jahren starb, betrachteten wir alle miteinander in der Familie diesen Tod als Erlösung. Auch wenn alles, was lebt, in der Regel leben will, stand uns allen doch überaus deutlich vor Augen, dass Leben als fortgesetztes und nachhaltiges Siechtum in der Dunkelheit des Selbts- und Weltvergessens keinen absoluten Wert an sich darstellen kann. Aber so klar sich auch diese Einsicht einstellen wollte, so klar war andererseits im Rückblick unser aller Bemühen, dieses Geschehen – das Leben zum Tode hin – nicht unbotmäßig zu verkürzen. Die gegenwärtig veränderte Rechtslage mit Blick auf die Erleichterung der Sterbehilfe habe ich herbeigesehnt, und ich habe sie mit herbeigeschrieben. Das Sterben in seinen generativen Abfolgen war mir damals schon auf lebensnahe Weise vertraut. So will ich auch heute im Rückblick betonen, dass mir der Tod meines Vaters im Alter von eben erst 65 Jahren unerträglich verfrüht erschien. Seit diesem Ereignis – 1988 – hat das Leben auf brutale Weise dafür gesorgt, dass das Unfassbare als immer gegenwärtiges memento mori den basso continuo im Konzert des Lebens vorgibt. In Kapitel 9 meiner Aufzeichnungen habe ich mich Elias Canetti am weitesten angenähert, indem ich bekenne, den Tod meines Bruders – wenn auch nicht im Sinne Canettis – als Skandal empfunden habe. Zusammengedrängt auf die letzten Sekunden des Lebens meines Bruders, wage ich die These, dass die freie Willensentscheidung des Flugzeugführers nicht nur für ihn selbst einer Entscheidung über Leben und Tod gleichkam. Und erst die Aufdeckung der Zusammenhänge im Detail erlaubt ja so etwas zu konstruieren, wie Handlungsmotive, deren Ignoranz oder schlichte Unkenntnis in der öffentlichen Wahrnehmung den Heldenstatus des Piloten begründeten. Umso unerträglicher erwiesen sich die Ergebnisse eines nüchternen Faktenchecks, der nicht weniger zutage brachte als folgende, überaus schlichte Sachverhalte:

Ich will nicht so weit gehen, den Tod der vier Flugzeuginsassen als grundsätzlichen Skandal zu verstehen. Skandalös wird er in meinen Augen durch das grob fahrlässige Agieren des Piloten; skandalös, weil sich – wie so oft – die Motive, die zu folgenreichen Handlungen führen, als banal und egomanisch erweisen. Da ist der Preis des Todes dreier unbescholtener Männer – mitten im Leben und im Falle meines Bruders als Vater zweier Töchter im Alter von fünf und acht Jahren – eben ein Skandalon.

Mors certa – hora incerta! So unausweichlich der Tod auch sein mag, ein Tod zur Unzeit grämt uns über alle Maßen. Als die Mutter dann zum Sterben ging, stellte sich ein diffuses, kaum greifbares Lebensgefühl ein, dass erst sichtbar(er) wurde, als in den letzten 10 Tagen ihres Lebens das Bedürfnis in mir nach Lösungen suchte, sie diesen letzten Weg nicht alleine gehen zu lassen. Dieses Bedürfnis führte – im Kontext einer seins- und erst recht todesvergessenen Gesellschaft zu recht obsessiven Konsequenzen. Ich lotete alle Möglichkeiten des medizinischen Apparats aus und erkämpfte mir mit Unterstützung der Klinikleitung und des Personals ungewohnte Freiräume. Der Klinikleiter, Dr. Kreuter – gebürtiger Gülser – ermöglichte mir in das Sterbezimmer meiner Mutter (das bis zuletzt ein Einzelzimmer bleiben konnte) ein Bett einzustellen, so dass ich die letzten Nächte in unmittelbarer Nähe zu meiner Mutter verbringen konnte. Zuletzt – als ich den Sterbeprozess nicht mehr infrage stellte – war Abschied möglich; für mich zivilisationsverwöhntes Glückskind eine singuläre Erfahrung. Am 21.7.2003 findet sich folgender Eintrag in das Sterbetagebuch:

"21/07/03 14.15 Uhr: Heute ist der 21. Juli 2003. Anne hat Geburtstag. Sie wird 14 Jahre alt. Mama stirbt. Der 21. Juli wird wohl nicht ihr Sterbetag sein. Aber wir haben sie heute auf „Normalstation“ verlegt, um der Quälerei ein Ende zu machen: austherapiert! Wenn keine Aussicht auf Heilung und Genesung ist, nach einem Hirnschlag und einem so reduzierten Allgemeinbefinden, ist eine weitere Therapie im Sinne der Intensivmedizin nicht zu vertreten und auch nicht zu wollen. Darin waren sich Ulla und ich und alle behandelnden Ärzte einig. Neben dem Chef, Dr. Kreuter, dem Stationsarzt, Dr. Holl und Dr. Alberti auch die bewundernswerten und mit Dankbarkeit zu honorierenden Schwestern auf der Intensivstation. Das heißt, auf der 5 erhält Mama jetzt außer Wasser über die Magensonde nur noch lindernde Medikamente, in erster Linie Morphium. Ich habe Mama gefragt, ob sie schlafen könne. Sie hat das eindeutig verneint. Ich habe sie gefragt, ob sie schlafen wolle, und das hat sie eindeutig bejaht. Dr. Holl und Dr. Alberti haben die Gabe von Morphium eindeutig bejaht. Dazu muss man allerdings zunächst einmal festhalten, dass Mama seit Donnerstag, seit dem Hirnschlag zwar nicht mehr sprechen konnte, aber ganz und gar zweifelsfrei uneingeschränkt wahrnehmungsfähig und kommunikationsfähig war. Ich habe oft mit ihr gesprochen und mir ihre Zustimmung zu den kleinen Erleichterungen, die möglich waren, geholt.

Und heute Morgen, so wie an jedem Morgen, habe ich zuerst bittere Tränen in beträchtlichem Maß vergossen, weil ich zuerst und immer noch ihr Kind bin, das seine Mama liebt und nicht gehen lassen will. Dies haben wir dann anders hinbekommen, immer die Kurve bekommen und der Abschied war in jeder Hinsicht ein möglicher und im Rahmen des Möglichen ein guter! Nie wieder in meinem Leben, solange es dauern mag, werde ich vergessen, wie ich ihre linke Hand zu mir geführt habe, meine rechte Wange hineingeschmiegt habe und ihre Hand über mein Gesicht habe gleiten lassen, über meine Haare, über meinen Nacken. Und ich habe gespürt, wie sie es genossen hat, und wie sie es durch den ihr möglichen Druck verstärkt hat. Sie hat es mehrmals wieder tun wollen, indem sie ihre Hand gehoben und mit ihren Augen signalisiert hat, wie wohl ihr das tut. Und ich habe es genossen, diese letzten bewussten Berührungen. Meine Tränen sind wie kleine Bäche gelaufen – so wie jetzt – so wie noch oft, wenn ich an meine Mama denke.

Sie liegt jetzt ruhig da. Sie hat heute zum allerersten Mal eine Gabe Morphium bekommen. Sie soll jetzt nicht mehr leiden. Wir haben alles versucht – der Kampf, ihr Kampf ist wohl verloren. Und es möge nicht zu lange dauern. Aber auch Dr. Alberti hat schon bemerkt, dass Mama eine Kämpferin ist, wie so viele Frauen dieser Generation. Ich glaube, wir können sie gehen lassen, das letzte wirkliche Geheimnis zu erforschen. Aber es bleibt immer die Frage, ob sie bereit ist, und daran gibt es durchaus Zweifel. Rinpoche: Der Mensch stirbt, wie er gelebt hat. Ja, es gab Ungeklärtes in ihrem Leben. Aber ich (will) glaube(n), dass Mama ihren Frieden gemacht hat, auch mit meiner Schwester Ulla. Wir sind keine blindwütigen und egoistischen Kämpfer, die Mama um jeden Preis im Leben halten wollen. Wir haben damals schon – bei Papa – gelernt, wie begrenzt aller Menschen Leben, Macht und Möglichkeiten sind. Wir haben bei Willis Tod erfahren, dass man unter Umständen – und die Umstände waren so – nicht einmal die geringste Chance hat, sich zu verabschieden. Wie ohnmächtig sind wir doch eigentlich alle miteinander! Uns fehlt nur die Demut zum rechten Leben. Aber vielleicht sind wir auf einem guten Weg! 15.30 Uhr: In einer Stunde kommt Helga, meine Schwägerin; die Mutter von Ann-Christin und Kathrin. Sie löst mich ab, bis gegen 19.30 Uhr Ulla kommt, unterstützt durch ihre Freundin Claire. Claire, Ullas beste Freundin, war eben hier. Ich möchte gerne alle Vorbehalte und dummen Ressentiments von ihr wegnehmen. Sie hat eine sehr gute, wohltuende Art. Ich fahre um 17.00 Uhr nach Hause, möchte noch ein bisschen bei Annes Geburtstag dabei sein. Dann werde ich ein paar Stunden schlafen und Ulla wieder ablösen; ich schätze so gegen zwei Uhr in der Nacht. Die meisten Dinge sind einigermaßen geklärt. Ich muss für Mittwoch noch einen Ersatzprüfer besorgen."

Am 27. Juli ist unsere Mutter gestorben. Im Herbst bin ich mit Leo, meinem Schwiegervater zur Abschiedstour an den Bodensee aufgebrochen. Sein Leidensweg vollzog sich von da an über seinen 80sten Geburtstag hinein in jenen im vorangehenden Kapitel beschriebenen nicht mehr enden wollenden Tunnel des (Selbst-)Vergessens. Auch hier habe ich an den unausweichlichen Wendepunkten die Flucht in die sprachlich verdichteten Formen der Lyrik gesucht. Mindestens zweimal täglich führte mich mein Weg die wenigen hundert Meter von unserem Wohnhaus auf den Heyerberg an Mülltonnen vorbei, von denen mir einige in diesen Jahren von 2007 bis 2010 immer wieder durch ein merkwürdiges Phänomen auffielen:

Was mögen die Müllmänner denken

Was mögen die Müllmänner denken,
Wenn die Tonnen vor Windeln bersten?
Um Deutschland scheint es bestens bestellt
Es poppt sich in eine neue Kinderwelt?


Kämen sie auf die Idee, genauer hinzuschauen,
Dann würden sie merken –
Das müssen recht große Kinder sein,
High-Tech-bewindelt
Mit 2-Liter-Fassungsvermögen.


„Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder“
Geht an der Sache vorbei:
Kinder wachsen hinein in die Welt
Und in die Welt der Sprache.


Die großen Kinder hingegen
Stürzen hinaus
Und hinein in den Alptraum,
„Die Krankheit zum Tod“.


Wir fallen mit ihnen –
Noch nicht so ganz,
Wenn wir flechten
Aus Windeln den Ehrenkranz.

Mit Elias Canetti verbinden mich die Fassungslosigkeit und eine intuitive Abwehr des Todes als endgültiges Faktum. Gleichwohl finde ich mich dennoch wieder in einer Mischung aus Fatalismus und ungläubiger Hoffnung gegenüber einem Phänomen, das sich unserer Erfahrung gänzlich entzieht:

So gern

Ach, ich hab’s so gerne, wenn sie kommen,
Wenn sie kommen, kommen, kommen –
Dann freu ich mich so sehr,
Ganz still in mir.


Doch alle, die da kommen,
Müssen wieder gehen.
Sie gehen, gehen, gehen –
Und schmerzt dies noch so sehr.


Denn es sind keine Phantasien,
Die Mär vom Werden und Vergehen.
Wo wir heut gehen oder stehen,
Sah unsre Welt einst andre gehen.


Sie gingen uns voraus.
Ich fühle ihre Spuren
In mir selbst vergehen.


Nein, nicht die Zeit,
Der Wind lässt sie verwehen.
Sie sinken in uns ab
Bis hinter das Verstehen.


Und nicht nur Kreuze Sind die Grenzen,
Und nicht nur unter Kränzen
Ruht die Welt.


Wenn Augen nicht mehr leuchten
Und die Erinn’rung innehält,
Dann sind es meine Schmerzen,
An denen meine Welt sich stählt.


Die einen gehen schnell und hart,
Und andre wollen noch im Gehen stehen.
Sie dämmern dann in kleinsten Schritten
Hinein in jene Welt,
Wo jeder Blick in Leere fällt.
Und irgendwann
Verfehlt sie unser Schmerz
Und einmal mehr
Bricht unser Herz.


Dann sehen wir die Grenze
Und bleiben vor ihr stehen.
Den letzten Schritt –
Im Licht der Kränze –
Muss jeder dann alleine gehen.

Der generative Wechsel zur Elterngeneration ist vollzogen. Vor der Zeit sind neben meinem Bruder meine Jugendfreunde gegangen: Jopa, Peter-Georg, Karl-Heinz. In meinem Freundeskreis gibt es einen Bruder im Geiste, dessen Schicksal mich immer wieder berührt; es ist eine Berührung im Modus des Mitleidens und des fortgesetzten Irritiertseins.

Eine kurze Zwischenbemerkung: Gegenwärtig lese ich Anna Haag: Denken ist überhaupt nicht mehr Mode – Tagebuch 1940-1945 (Reclam-Verlag), Stuttgart 2021). Auf Seite 333f. lese ich folgenden Eintrag. Es handelt sich um eine Danksagung: „‘Für die freundliche Anteilnahme, die wir bei dem Soldatentod unseres unvergesslichen Sohnes erfahren durften, danken wir von ganzem Herzen.‘ In einem seiner letzten Briefe schrieb er: ‚An meinem eigenen persönlichen Leben hänge ich nicht. Die Wirkung, der Auftrag ist alles.‘“ Anna Haag kommentiert hierzu: „Wer versteht das? Ich meine: wer begreift die Eitelkeit dieser und so vieler deutscher Eltern, die diese Eigenschaft noch mit dem ‚Soldatentod‘ ihres Sohnes kitzeln? Warum hat der Vater seinen Sohn nicht belehrt (der Vater hat sich uns gegenüber als Anti-Nazi und Kriegsgegner ausgegeben. Er ist ein gelehrter Herr), dass ‚Auftrag‘ und ‚Wirkung‘ nur dann einen großen Sinn haben kann, wenn der ‚Auftrag‘ edel, und seine ‚Wirkung‘ entsprechend ist? Fluch über die Narren, die das Schlachten und Geschlachtetwerden heute noch immer als ‚großen Auftrag‘ feiern! Ich bin erfüllt von Menschenhass und Menschenverachtung!“

Die Selbstverständlichkeit eines Dulce et decorum est pro patria mori („Süß und ehrenvoll ist es, fürs Vaterland zu sterben.“) ist für uns heute unvorstellbar. Sie disziplinierte selbst gelehrte Herren mitsamt der Familie zu einer Haltung, die bis zur Selbstverleugnung führte. Sie mündete in einem traumatisierten Nachkriegsdeutschland in eine kollektive Verdrängungshaltung, gepaart mit einer offenkundig unbändigen Energieleistung, die einerseits zur Wirtschaftswunderwelt führte, die aber andererseits Beobachter dazu veranlasste, von einer Unfähigkeit zu trauern zu sprechen (Margarete und Alexander Mitscherlich).

In der postmodernen Gesellschaft gerät Trauer – so könnte man sagen – zu einer latent dynamischen bis virulenten Grunddisposition. Sie nimmt vielfältigste Gestalt an, indem die Einsicht, dass wir alle sterben müssen, die unterschiedlichsten Antworten provoziert: Die traditionellen Milieus der Religionsgemeinschaften erodieren; die Vertreter eines offensiven oder auch diskreten Jugendwahns führen eine letztlich erfolglose Abwehrschlacht, die auch durch gesündeste Lebensführung nicht zu wenden ist; vermutlich kommt es einer fundamentalen Kränkung gleich, wenn man schließlich erkennen muss, dass man – gesund bis ins allerhöchste Alter – dennoch sterben muss. Die übergroße Zahl der Menschen sucht ihr Heil in einer mehr oder wirksamen Verdrängungshaltung und sieht sich irgendeines Tages – vollkommen überrascht – mit Gevatter Hein konfrontiert (Freund Hain lässt sich abwenden nit mit Gewalt, mit Güt, mit Treu und Bitt – ich bevorzuge die Version von Georg Ringsgwandl).

Wie gehen wir also mit unserer Sterblichkeit um, vor allem solange nicht unser eigener Tod gemeint ist? Das Ereignis eines frühen Todes – eines Todes zur Unzeit – schockiert; zumindest das unmittelbare Umfeld. Handelt es sich um einen Unfall – je spektakulärer, desto intensiver – nimmt die Öffentlichkeit daran Anteil.

Kaum jemand hat diese Zusammenhänge deutlicher thematisiert als Jean Baudrillard (Frankfurt 2003) Er fragt:

"Warum hat der erwartete und vorhergesehene Alterstod, der Tod in der Familie - welcher von Abraham bis zu unseren Großvätern als einziger einen vollen Sinn für die traditionelle Gemeinschaft hatte - diesen Sinn heute nicht mehr (a.a.O., S. 94)?

Die Moderne lässt Baudrillard aufscheinen in all ihrer Brutalität und Verachtung des Einzelnen, indem er der Frage nachgeht, warum denn der gewaltsame, zufällige - beispielsweise der Unfall-Tod -, der früher für die Gemeinschaft ein Un-Sinn gewesen sei, bei uns so eine exponierte Bedeutung hat? Vielleicht erkennen wir uns als diejenigen wieder, die sich dem konsumativen Terror der Massenmedien aussetzen - ja ausliefern, und die im "natürlichen" Tod keinen Sinn mehr erkennen können: "Der 'natürliche' Tod ist sinnlos, weil die Gruppe daran keinen Anteil hat. Er ist banal, weil er mit dem banalisierten individuellen Subjekt und er banalisierten Familienzelle verbunden ist und weil er nicht mehr kollektives Freud und Leid ist (a.a.O., S. 95)."

Baudrillard stellt in den Raum, dass jeder seine Toten beerdige. Hingegen gebe es bei den Primitiven keinen 'natürlichen' Tod: jeder Tod sei gesellschaftlich, öffentlich und kollektiv und er müsse durch die Gruppe und nicht die Biologie absorbiert werden: "Diese Absorbierung geschieht im Fest und in den Riten. Das Fest ist ein Austausch der Willen (man sieht nicht, wie das Fest ein biologisches Ereignis resorbieren könnte). Böse Willen und Sühneriten werden über dem Kopf des Toten ausgetauscht. Der Tod treibt sein Spiel und er gewinnt symbolisch - der Tote gewinnt seinen Status und die Gruppe bereichert sich um einen Partner (a.a.O., S. 95)."

Bei uns hingegen macht sich der Tote aus dem Staube!

Baudrillard hat vielleicht nicht mehr das massenhafte Verscharren von a-sozialisierten Toten auf den anonymen Grabfeldern unserer Friedhöfe erlebt. Die Vereinzelung zu Lebzeiten führt auch nach dem Ableben immer häufiger zur Bestattung auf anonymen Grabfeldern, die es  inzwischen auf jedem Friedhof gibt. Baudrillard behauptet schon 1976, dass sich die Toten aus dem Staube machen. Am Ende eines Lebens der Akkumulation (von gewonnen Jahren - auf dem Hintergrund rasant ansteigender Lebenserwartung bzw. durchschnittlichen Ablebens) werde er vom Ganzen abgezogen. Er werde zu keiner Erinnerung:

"Das ist ein banaler, eindimensionaler Tod, das Ende eines biologischen Parcours, die Bezahlung einer Schuld: 'den Geist aufgeben', wie ein Reifen, der seine Luft verliert. Welche Plattheit (a.a.O., S. 96)!"

Damit könnte man ja vielleicht noch leben. Damit aber der Tod nicht als vollkommene Inkarnation der Sinnlosigkeit erlebt wird, reicht es nach Baudrillard eben nicht aus, einen Toten "der Natur zurückzugeben". Vielmehr müsse er nach genauen herkömmlichen Riten ausgetauscht werden, damit seine Energie, die Energie des Toten und des Todes, auf die Gruppe zurückwirken und von der Gruppe aufgenommen und verausgabt werden könne, anstatt nur der 'Natur' überlassen zu werden (vgl. ebd., S. 97). Wie fremd ist uns denn diese Einsicht; uns, die wir - wie Baudrillard meint - über keinen wirksamen Ritus zur Absorption des Todes und seiner gewaltigen Energie mehr verfügen. Uns bleibe nur noch das Phantasma des Opfers und des gewaltsamen künstlichen Eingriff des Todes: "Daher die intensive und zutiefst kollektive Befriedigung angesichts des Todes im Auto. Was beim tödlichen Unfall so fasziniert, ist die Künstlichkeit des Todes. Er ist technisch, nicht natürlich, also beabsichtigt (möglicherweise vom Opfer selber), also von neuem interessant - denn der beabsichtigte Tod hat einen Sinn (a.a.O., S. 97)."

Das Jahr 2003 vermittelte mir individuell auf ungewöhnliche Weise die Erfahrung, einer Absorption des Todes und der von Baudrillard angenommenen und phantasierten gewaltigen Energie des Todes. Das unmittelbare und konsequente Einlassen auf die Sterbebegleitung meiner Mutter endete mit dem Übergehen der gewaltigen Energie, die sich in der Lebensleistung und –einstellung meiner Mutter manifestierte, in Art einer Osmose auf meine energetische Ausstattung für ein überschaubares Zeitfenster – etwa ein halbes Jahr – und latent als haltungsbestimmender Einfluss für den Rest meines Lebens. Natürlich hält mich die Mehrheit meines Umfeldes für bekloppt. Was allerdings nach dem Tod meiner Mutter an nachhaltiger, wirkungsmächtiger Verhaltensausrichtung mir selbst beobachtbar und erfahrbar wurde, zeugt von einem Entwicklungspotential und einem Entwicklungsschub gleichermaßen.

Das Unfassbare wurde sowohl vertrauter als auch in seiner Vertrautheit weniger bedrohlich. Als 2016 Andreas tödlich verunglückte, sahen wir alle uns einmal mehr konfrontiert mit einem Tod zur Unzeit. Der Tod trat ein infolge eines vermeintlich selbst verschuldeten bzw. verursachten Autounfalls, dessen Umstände – wie Baudrillard es beschreibt –, zu Spekulationen Anlass gab. Andreas war nicht nur der Sohn eines engen Freundes, er war über mehr als zwei Jahre die erste Liebe unserer jüngsten Tochter – Anne – mit all den Höhen und Tiefen, die den singulären Charakter der ersten Liebe ausmachen. Die Trennung der beiden lag bereits mehr als sechs Jahre zurück, als uns der Anruf erreichte, dass Andreas bei einem Autounfall gestorben sei – im Alter von 29 Jahren. Die bedrängenden Bilder aus 1994 im Nachgang zum plötzlichen Unfalltod meines Bruders glichen sich ab mit einer Tragik, die sich aus einem einzigen Grund noch düsterer und schockierender ausnahm. Fast genau vor 20 Jahren hatte der Vater Andreas' seinen Sohn aus erster Ehe durch Suizid verloren. Mit Andreas' Vater verbindet mich eine lange Freundschaft, die der gemeinsamen Zugehörigkeit zu einem Institut an der Uni und der Tatsache, dass er lange die Leitung dieses Instituts innhatte, entwachsen war. Die Umstände, die Andreas‘ Tod begleiteten, ließen auch hier böse Ahnungen zu. Dass sich diese Annahme eher als Trugschluss herausstellte, hatte wenig Tröstliches.

Mein Freund hatte die Leitung des Instituts, an dem ich offiziell zum 1. Juli 1994 meinen Dienst aufnahm, erst wenige Monate zuvor übernommen. Die erste Amtshandlung mir gegenüber bestand im Kondolenzschreiben, mit dem er mir sein Beileid zum Unfalltod meines Bruders bezeugte; 1997 schrieb ich dem Freund einen langen Brief zum Tod seines Sohnes Björn, der noch im ausgehenden 20. Jahrhundert auf bedrückende Weise die Nöte und die Einsamkeit eines jungen – eben auch erst 29jährigen Mannes offenbarte, der (auch) an der Tatsache seiner schwulen Identität zerbrochen war.

Dieses brutale dejà vu konnte nur wie eine Heimsuchung erscheinen. Ich halte meine Eindrücke hier fest, weil es eine doppelte tiefe Verwobenheit der Geschichte meines Freundes und seines Sohnes mit meinem Leben gibt. Dies schließt die tiefe Betroffenheit und den nachhaltigen Schock ein, der meine ganze Familie und mein Umfeld – selbstredend Anne in besonderer Weise – erfasste. Der Freund, der in diesem großen Unglück das kleine Glück hatte, inzwischen eine Frau an seiner Seite zu haben, die ihn stützte, die ihm Kraft und Besonnenheit vermittelte, suchte den Kontakt zu einem im Leiden und Mitleiden Erprobten. In dessen Erinnerungsflut mischten sich die Eindrücke auf surreale Weise:

Die Tatsache, dass mein Freund eine Frau an seiner Seite hatte, die ihm Rückhalt und Kraft vermittelte, die aber nicht Andreas‘ Mutter war, bedeutete eine der Gegebenheiten auf der schiefen Ebene, auf der sich der Freund bewegte. Die Metapher Dirk Beackers (siehe Kapitel…) beschreibt vielleicht unser aller Lebensrahmen auf mehr oder weniger eindrückliche Weise. Das nunmehr grell aufscheinende Blitzlicht, beleuchtete das Spielfeld, auf dem sich der Freund als Mitspieler bewegte und auf dem mehrere Tote verteilt waren. Hier zeigte sich – vielleicht ausgeprägter als üblich –, dass die Leute das runde Spielfeld betraten und verließen, wie sie wollten. Immer war unklar, wer gerade den Ball hat und wer welches Tor zu seinem erklärt. Auf der abfallenden Fläche schien das Bemühen um Kontrolle aussichtslos.

Das Zeitfenster für ein ritualisiertes Trauergeschehen ist begrenzt. Die Trauerfeier und die Beisetzung zwingen dem Geschehen eine enge Taktung auf. Die Trauerfeier für Andreas offenbarte zur Gänze das verworrene Chaos, das Andreas selbst noch in den Tod begleitete. Die Trauerfeier selbst habe ich unter den unmittelbaren Eindrücken des Geschehens für mich erinnert. Heute – mit einem Abstand von fast fünf Jahren – mischen sich die Zutaten noch einmal neu. Mir erscheint im Rückblick der Schmerz als diffuser und ausgefranster Nebel, in dem die Trauernden nicht zueinander finden konnten. Die Mutter Andreas‘ saß isoliert für sich, der Freund saß für sich und seine Tochter bildete ein drittes Schwerkraftfeld, in dem sich Abstoßung und Anziehung neutralisierten.

Der Freund hat zuweilen resigniert registriert, dass seine Kinder Abstand zu ihm suchten. Peter Sloterdijk hat die beobachtete Einkrümmung der Subjekte in sich selbst – jene incurvatio in se ipsum – primär in Zusammenhang gebracht mit einer Operation des Sündigens, die man heute als „Kommunikationsabbruch in bezug auf ein gesprächsuchendes oder bittendes Gegenüber charakterisieren würde“. Bitterer noch, dass Sloterdijk sich bemüßigt sieht zu ergänzen: Sie – diese Einkrümmung – beziehe sich auch auf das „habitualisierte Resultat einer solchen Abwendung, eine hartnäckige Fehlstellung des moralischen Sinns, die sich sogar bei gutem Willen vom Subjekt nicht mehr kompensieren ließe“.

Mehrfach habe ich Karl Otto Hondrich erwähnt, der uns Erwachsene darauf aufmerksam macht, dass Kinder ihren eigenen intuitiven Umgang mit den wechselseitig ausgelebten Konflikten und Idiosynkrasien ihrer Eltern pflegen. Die Abschiedsworte des Freundes an seinen Sohn offenbaren im Rückblick für mich den verzweifelten Versuch, den nun eingetretenen finalen Kommunikationsabbruch nicht nur zu ertragen, sondern ihn ein Stück weit auch abzuwehren. Die Anknüpfung an eine frühe Geste seines kleinen Sohnes Andreas, der seinem Vater ein Schäfchen zudachte mit den Worten: „Ein langes Leben, lieber Papa, dein Andy“ stellt den Lebensfluss auf den Kopf und bezeugte nun zum zweiten Mal, dass ein Vater seine Söhne ziehen lassen muss.

Ich verdanke dem Freund mehr als nur die Intervention, mit der er 1997 – in der Zeit meines Wütens in dieser Welt – versucht hat, Claudia zu besänftigen und ihr zu einer Haltung der Geduld riet. „Bewahre die Ruhe, der Jupp wird sich eines Besseren besinnen – mit der nächsten Frau wird nichts besser.“ Den weiten Weg dieser Besinnung bin ich (auch mit Hilfe von guten Freunden – siehe Kapitel…) gegangen. Dass es insbesondere für ihn - den Freund aus so vielen freudvollen wie leidvollen Tagen - anders kommen musste, erscheint mir bitter und versöhnlich zugleich mit Blick auf die Tatsache, dass ihm die letzte Liebe wohl doch noch ein fürsorgliches Finale vergönnt.

Man kann sich nun fragen, was mich wohl dazu legitimiert fremde Familiendynamiken zu thematisieren und nicht nur welche zu erfinden. Was hier zu lesen ist, ist meine Erfindung im Sinne eines Nachspürens. Die Tatsache, dass Andreas nicht nur der Sohn meines besten Freundes war, sondern um ein Haar unser Schwiegersohn geworden wäre, mag ein hinreichender Grund sein zu erinnern – auch über unserer gemeinsame Zeit hinaus.