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Auch wer sein Pferd von hinten aufzäumt, muss nicht verkehrt herum aufsitzen - Warum ich unbedingt einem toten Gaul die Sporen geben wollte (21)

Ja, unsere Nachbarin auf dem Heyerberg. Von unserem Wintergarten sehe ich  das Wohn- und Arbeitszimmer meiner überübernächsten Nachbarn. Dort wohnt R.B.K. mit ihrem Lebensgefährten. Räumlich trennen uns nicht einmal einhundert Meter; ein Vierteljahrhundert liegt zwischen unserer aberwitzigen Romanze. Ich schreibe und arbeite ja in der Regel mit Blick auf den Heyerberg – ein neugieriges Plätzchen, von dem aus ich auf die steile Zufahrt zu den letzten Häusern schaue. Ein bis zweimal am Tag sehe ich jene Frau, wenn sie zur Arbeit fährt oder nach Hause zurückkehrt. Wir begegnen uns heute völlig unbefangen und haben zur gegebenen Zeit unseren Abschied voneinander genommen. Mir ist eine vorwärtsweisende Auseinandersetzung mit Hilfe Gunthard Webers für mich selbst schon 1998 gelungen; durch jene Intervention, die Gunthard im Rahmen einer Aufstellung mit mir erarbeitet hat; jene Intervention, die in meinen Brief an den Freund und an meine Frau auch die Perspektive für einen respektvollen Abschied voneinander hätte weisen können.

Vor fast fünfundzwanzig Jahren begegneten sich zwei erwachsene Menschen in völlig unterschiedlichen Ausgangslagen. Da war zum einen ein Mittvierziger, seit 16 Jahren verheiratet und Vater von zwei Töchtern. Drei Jahre zuvor war er vom Schuldienst in den Hochschuldienst versetzt worden und arbeitete als Akademischer Oberrat in der LehrerInnenausbildung. Im Lehramtsbereich – insbesondere für den Grundschulbereich konnte man getrost von Lehrerinnenausbildung sprechen; zwischen 80 und 90 Prozent aller Studierenden waren weiblich. Im Zuge der Versetzung häuften sich die Unkenrufe und seiner Frau wurden nahegelegt ein scharfes Auge auf ihn zu haben. Hinter verdeckter Hand war die Rede von einem Richard-Gere-für-Arme. Und auf der anderen Seite war da eine Quereinsteigerin, die allein schon durch ihr fortgeschrittenes Alter auffiel; Mutter zweier nahezu erwachsener Söhne, lebenserfahren, polyglott und auf eine durchdringende bis geheimnisvolle Weise attraktiv - solche Zuschreibungen sind das folgerichtige Ergebnis einer verblendeten Wahrnehmung, wie sie vermutlich nur Verrückte und Verliebte – wo ist der Unterschied? – in die Welt zaubern.

1996/97 hatte sich mein Privatleben zu einer stillen, ins Chaos abdriftenden Veranstaltung entwickelt. Ich verlor jede Empfindung für eigenen Schmerz. Meine inneren Nöte und meine Orientierungslosigkeit fanden weder eine Sprache noch einen Spiegel. Was ich sollte, und was ich wollte, was ich konnte und was mir an Erwartungen vor Augen stand, umgab mich wie ein zäher, diffuser Nebel. Dieser Nebel und eine abgeschattete Gefühlswelt haben über die Jahre schleichend eine kritische Masse angehäuft, die dann nach der Explosion so ziemlich alles in Trümmer gelegt hat, was bis dahin entstanden war. Weiter oben habe ich relativ hilflos darauf hingewiesen, dass mir auch 27 Jahre nach dem schmerzhaftesten Wendepunkt meines Lebens, verbunden mit dem Tod meines Bruders, die Zugänge zu dem unmittelbaren Erleben am Mittag dieses 21. Juni 1994 weitgehend versperrt bleiben. Das mag damit zusammenhängen, dass sich zunächst einmal so etwas ereignete, wie eine Implosion – das Gegenteil der mit Zeitzünder initialisierten Explosion in der ersten Hälfte des Jahres 1997. Wie hätte ich denn wissen und fühlen sollen, wer ich unter dem unmittelbaren Eindruck der Ereignisse von 1994 wirklich war oder auch sein konnte? Es gibt auch heute noch so vieles, was sich an Erinnerungen und Eindrücken überlagert. Es drängt sich einerseits die Selbstbildfacette einer gediegenen Hybris auf! Mir kommt die aufgeklebte Fassade eines omnipotenten, überheblichen Arschlochs in den Sinn, das auf der anderen Seite, nichts konnte, nichts zustande brachte, um mit seinen eigenen Bedrängnissen halbwegs angemessen und heilsam umzugehen. Es gab so Vieles, woran man seine eigene Überheblichkeit erproben konnte. Auf die Frage, ob ich mir eine Habilitation vorstellen könne, hatte ich im Vorfeld der Ereignisse um den 21. Juni 1994 selbstredend beim finalen Einstellungsgespräch mit einem klaren: „Ja, selbstverständlich!“ geantwortet.

Es verbietet sich – allemal aus meiner heutigen Perspektive mit Blick auf das Paar, dass wir darstellten – unmittelbar vor meinem Einstieg in die Achterbahn – von zwei eklatant füreinander ungeeigneten Menschen zu sprechen. Gleichwohl waren wir mit unseren jeweiligen Grundausstattungen nicht annähernd in der Lage, uns selbst und einander zu helfen. Und ich gehe bereits an dieser Stelle von der Hypothese aus, dass die überwiegende Zahl von Trennungen vollkommen unangemessen bliebe, verfügten die Trennungswilligen über die Grundausstattung, die mir erst drei Jahre Heidelberger Interventionskultur vermittelt hat.

So aber waren wir den Einflüssen und Dynamiken, die von 1994 an  unser Leben bestimmten, mehr oder weniger hilflos ausgeliefert. Meine Frau war willfährige Projektionsfläche meiner ungelösten Klemmen, gewissermaßen Opfer wider meinen Willen, allein meinen Kindern begegnete ich mit blinder Liebe und maßloser Milde. Streit stand immer in Aussicht, und für meine grundaggressive Stimmung fand ich keine andere Adresse als die meiner Frau. Man kann so etwas tragisch nennen, weil die Weichen und Ausfahrten zu einer Kurskorrektur demjenigen verborgen bleiben, dem die Welt nur noch ein Nagel ist, auf den es einzuschlagen gilt. So funktionierte ich vordergründig betrachtet mit Blick auf die mir auferlegten Pflichten. All meine Bedürftigkeit und alle meine Zuwendungsfähigkeit pulsierten über meine Kinder. Jede Differenz, die es zuhauf gab, jedes Missverständnis, das zu ignorieren ich nicht willens war, befeuerte meinen Unwillen und meine Aversion. Wenn ich heute Fotos oder Filme ansehe aus diesem Zeitfenster inmitten der 90er Jahre, überkommen mich gleichermaßen Trauer und Scham – vielleicht auch ein völliges Unverständnis demjenigen gegenüber, der begann wie ein Berserker den privaten Raum umzupflügen.

George Steiner spricht von den Verrückten, die gleichzeitig der Gnade Gottes teilhaftig werden und die gleichzeitig bereit sind ihre persönliche, öffentliche und materielle Existenz auf’s Spiel zu setzen; die aber vor allem bereit und fähig sind, sich selber und anderen unaussprechliche Schmerzen zuzufügen. Ich habe hinzugefügt, dass sich diese Schmerzen, diese Kränkungen einschreiben in das Seelenpergament der Handelnden und Betroffenen gleichermaßen. Dies allein ist der Grund, warum ich nach einem Schuldenerlass gierte. Zehn Jahre später zeichnete sich am Horizont die kleine Chance ab, meine heillos überzogenen Konten auszugleichen und aus der abgrundtiefen Schuldenfalle zu entkommen. Dass mir dies umfänglich gelungen ist, vermittelt den fatalen Eindruck, ich sei doch nichts anderes als eine erbärmliche Krämerseele. Gleichwohl glaube ich nach all den Erfahrungen zutiefst, dass man Schulden zurückzahlen muss, dass man überzogene Konten ausgleichen muss. Den Schmerz, den man anderen zugefügt hat, muss auch die eigene Seele, die eigene Haut ritzen und verletzen,  um überhaupt auch nur nachempfinden zu können, was man angerichtet hat auf dieser Welt und wofür man Verantwortung trägt. Es mag darüber hinaus mein Alter sein, das mich milde stimmt und unterdessen dem Verstand mehr Gewicht einräumt als dem Herzen – zumindest mit dem Blick auf das Paar, das wir heute noch sind. Völlig anders stellt sich das Schuldenkonto mit Blick auf die eigenen Kinder dar. Kinder lieben bedingungslos und verzeihen maßlos, meine Kinder lieben bedingungslos und verzeihen maßlos. Würde ich meinen Kindern etwas schulden, fände ich schlichte Lösungen. Die Schuld, die mir alleine gegenwärtig bleibt, liegt in dem, was Karl Otto Hondrich folgendermaßen zu bedenken gibt (Karl Otto Hondrichs „Liebe in Zeiten der Weltgesellschaft“, erschienen 2004 in der edition suhrkamp, Band 2313 gehört zu meinen absoluten Schlüssellektüren). Ich danke Gott und den Umständen, dass ich 2004 nicht auf ein Geborgenheitsdesaster zurückblicken musste, sondern mit Hilfe meiner Frau und Gunthard Webers das genaue Gegenteil bis heute erfahren darf:

Karl Otto Hondrich ist der Auffassung, dass all diejenigen, die heute in der Ehe noch dauerhafte Geborgenheit suchen, ein hohes Risiko des Enttäuschtwerdens laufen. Liberale Scheidungsgesetze besiegelten nur ein moralisches Tauschgeschäft, das wir, als Träger kollektiver Moral, längst in unseren Köpfen vollzogen hätten: „Geborgenheit geben wir für Freiheit – in der Hoffnung auf neue Geborgenheit (Hondrich 2004, 162)." Tiefer liegende systemische Bindungszusammenhänge im familialen Kontext und der Verlust von Geborgenheit lassen Hondrich auf schier unlösbare Beziehungsgeflechte verweisen, die vor allem dann zu einer belastenden, vielfach ausweglosen Unübersichtlichkeit führen, wenn aus einer Verbindung auch Kinder hervorgegangen sind:

Zwei Menschen, die ihre Bindung auflösen, bringen sich selbst um Geborgenheit. Sie wissen das und setzen deshalb alles daran, wenigstens die Bindung zu ihren Kindern zu erhalten. Den Partner darf man verlassen, die eigenen Kinder nicht. Scheidungskinder, das ist heute Konsens auch unter zerstrittenen Eltern, sollen die Bindung zu beiden, zu Mutter und Vater behalten. Das ist die Leitidee aller gerichtlich und außergerichtlich ausgeklügelten Besuchsregelungen. Hinter dem Bemühen, diese so gerecht, verständnisvoll, Interessen ausgleichend wie möglich zu gestalten, steht, unerkannt, ein gewaltiger soziologischer Kraftakt: die Geborgenheit, die mit dem Scheitern der Gattenbindung verloren ist, in der Bindung zwischen Eltern und Kindern zu retten (Hondrich 2004, 162)."

Die fundamentale Bedeutung dieser Zusammenhänge, ihre unabsehbare Wirkung wird deutlich, wenn Karl Otto Hondrich eine feinsinnige Unterscheidung vornimmt, die uns vor der Hand zunächst irritiert, wenn nicht gar provoziert. Kaum jemand mag ihm widersprechen, wenn er davon ausgeht, dass der frühe Tod von Eltern für die betroffenen Kinder einen unwiederbringlichen Verlust an Geborgenheit bedeutet: „Ein größeres Unglück läßt sich kaum denken. Aber es bleibt ein Unglück.“ (Hondrich 2004, 164) Es sei aber gerade diese existentielle Dimension des Unglücks, die es zulasse, dass sich die Überlebenden mit dem Verstorbenen bruchlos in eins setzten, ihn in die Identität der Familie, diese sogar bestärkend, mit einbezögen. Bei einer Scheidung sei genau dies aber kaum möglich:

"Nicht durch ein Unglück, Naturkräfte, höhere Mächte oder Gottes Willen wird den Kindern Geborgenheit genommen, sondern durch den Willensakt von Menschen, und zwar von denjenigen, die sie am meisten lieben  (Hondrich 2004, 164)."

Was steckt denn eigentlich dahinter, wenn „zwei Menschen ihre Bindung auflösen“? Die Folgen können wir sehen. Viele bringen sich selbst um Geborgenheit! Ist es der freie Wille – eine freie Willensentscheidung – eine bestehende Bindung aufzulösen? Die einen sagen so, die anderen so. Unbedingte Willensfreiheit vermag selbst als Idee nicht  zu überzeugen. Geht man von bedingter Willensfreiheit aus, gewinnt man zumindest eine Vorstellung davon, dass jemand seinen Willen nach persönlichen Motiven und Neigungen ausrichtet und dann möglicherweise das tun kann, was er will. Eine darauf gründende Idee von Handlungsfreiheit muss dann aber immer noch konzedieren, dass sich Willensentscheidungen erst in der Abwägung konkurrierender Wünsche und Sehnsüchte herausbilden. Und wir geraten in eine kaum noch auflösbare Verstrickung, wenn wir weiterhin konzedieren, dass Willensentscheidungen eingebunden sind und abhängen sowohl von Persönlichkeitsattributen (Habitus – Haltung – Charakter - Wertorientierung) als auch zeitgeistbezogenen – eben auch sozial und kulturell geschuldeten äußeren Einflüssen.

Der Berserker, der da Anfang 1997 auf die Bühne tritt, vertrat tatsächlich um Ostern herum die Auffassung, er benötige einen Neustart und sein – und das Leben – aller könne eine Neuausrichtung finden, indem man ganz einfach die Reset-Taste betätige. Im Rückblick kann von einer freien Willensentscheidung noch nicht einmal im Entferntesten gesprochen werden. Und es ist hier nicht nur fair, sondern auch ein Gebot der selbstkritischen Besinnung einzugestehen, dass zuvorderst die als Ehesanierungsinstitut Erwählte diesen Zusammenhang sehr schnell begriffen hatte -  lange bevor der gefühlstaube und realitätsblinde Berserker dessen gewahr wurde! Wie es dennoch zu dieser unsäglichen Affäre kommen konnte? Alle Zutaten zu einer Soap ersten Ranges waren angerichtet:

In der Mixtur perfider Verführungsszenarien ausreichend vorgebildet, spielte mir der Zufall eine Karte in die Hände, die ich bereit war tatsächlich bedenkenlos zu spielen. Was ich in den folgenden Zeilen berichte, widerspricht jeglicher Professionalität und hätte mich seinerzeit –schon zu Beginn meiner akademischen Laufbahn – bereits nachhaltig disqualifiziert. Nebenbei bemerkt bietet vermutlich kein zweiter Ort in so vorzüglicher Weise die Bühne für theatralische Inszenierungen und Selbsthysterisierungen wie die Universität. Dietrich Schwanitz hat entsprechende Zutaten in seinem Schlüsselroman Campus in Szene gesetzt .

Profession und Professionalität sind nicht das gleiche. Den ersten Akt der nun folgenden Tragikomödie inszenierte ich mit Hilfe eines guten Freundes. Eine eher beiläufige Bemerkung, mir sei da eine studentische Quereinsteigerin aufgefallen, die lange im Ausland gelebt habe, Mutter zweier Söhne sei und in Scheidung lebe, führte bei ihm zu der unverzüglichen Namensnennung der so spärlich attribuierten Person. Er kenne die sehr gut. Bei nächster Gelegenheit brachte er mir ein Kinderfoto mit, auf dem er einem etwa gleichaltrigen Mädchen einen Kuss auf die Wange gab. Einigermaßen verblüfft bat ich ihn um Verwendung des Fotos in noch unklarer Form. Das Wintersemester 1996/97 neigte sich dem Ende zu. In einem Abschlussseminar ließ ich gegen Ende das Foto umlaufen mit dem Hinweis, wer sich auf dem Foto wiedererkenne, sei zu einem Kaffee in die Vorhölle (der Name der Studentenkneipe auf dem Campus Oberwerth) eingeladen. Die Höllenfahrt, die damit für das nächste halbe Jahr eingeleitet wurde, begann sanft und unter dem überstrapazierten Motto: Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.

In den folgenden spärlichen Schilderungen verenge ich die Perspektive extrem auf meinen eigenen beschränkten Blickwinkel. Und man kann vorab behaupten, dass die unvermeidbare Frage Würdest du dein Leben noch einmal genau so leben? nur folgendermaßen beantwortet werden kann: So wie sich ein lebensbedrohlich Erkrankter einer lebensbedrohlichen Rosskur unterzieht, um zu gesunden, war der Höllenritt 1997 absolut alternativlos. Wer die Welt wieder klar wahrnehmen möchte, muss den dichten Schleier einer wahnhaft verstellten Weltsicht lichten und letztlich auflösen. Dazu ein kleiner Ausflug in eine mir fremde, aber zunehmend vertrauter werdende Weltsicht:

Die ersten fünf Bücher, die in meiner Verantwortung veröffentlich worden sind, hat ein Freund lay-outet, der mir – vor allem auch nach Kopfschmerzen und Herzflimmern sowie der Mohnfrau – die Frage gestellt hat, wie man denn so leben  und denken könne. Auf die Gegenfrage, wie es denn anders ginge, hat er geantwortet: Herzensfragen, wenn sie erotisch aufgeladen sind, entscheidet man ausschließlich mit dem Kopf! Das hat mich seinerzeit verblüfft. Heute habe ich mir mit der partiellen Umkehrung der Pascalschen Devise, dass das Herz seine Gründe hat, welche der Verstand nicht kennt, eine weitaus pragmatischere und lebenstauglichere Haltung zu eigen gemacht.

Was sich jedenfalls vom Februar bis in den Juni 1997 in mir und um mich herum zugetragen hat, das ist gewiss kein Heldenstück, und es taugt auch nicht zur Romanze, sondern es reicht schlicht an die Grenze des Erträglichen. Das Ergebnis spiegelt sich in den Monaten Juni, Juli, August und September wider, die ich meinen ganz persönlichen Knast nenne. Dem voraus ging im Februar bis hinein in den Mai der Höhenflug, der zu einem Blindflug mutierte. Als ich der Sonne zu nahe kam, erfolgte der Absturz in einer Weise, wie sie nur griechische Tragödienstoffe aufzubereiten vermögen.

Nur so ist im Übrigen auch Ich danke Euch für diese Nacht zu verstehen – zehn Jahre später entstanden, als ich in der Rolle des mörderischen Beobachters mich all der süßen und bitteren Erfahrungen entsinnen konnte, die ich ja selbst am eigenen Leib erfahren hatte.

All die Verrücktheiten und Zumutungen, die mit meinem zuerst berserkerhaften und zuletzt in Agonie versiegenden Agieren verbunden waren – so bin ich heute noch der Überzeugung – müsste sich ein versierter Schriftsteller ausdenken; er müsste sie erfinden, denn ich sehe mich außerstande, sie hier aufzuschreiben. Für mich ist es  im Nachhinein keine Frage, dass mir die Fremdbeobachtung ungleich leichter fällt als die schonungslose Selbstbeobachtung. Darin liegt die große Schwäche meiner Aufzeichnungen, die ich erst dort wieder konkretisiere, wo sich die Wende andeutet und schließlich auch ereignet:

Der Zufall wollte es, dass jene Wohnung in der Teichstraße, in der wir 1979 unseren Hausstand begründet hatten, 1997 im Sommer einen Leerstand aufwies. Ostern bin ich aus dem gemeinsamen Haus ausgezogen, weil Claudia (zu Recht) darauf bestand. Wie ein Dieb habe ich mich schon da aus dem Haus geschlichen – durch ein Seitenfenster im Souterrain. Jedes Buch, selbst jeder Bleistift hatte plötzlich das zehnfache an Gewicht. Zum Schluss standen in der Teichstraße ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, ein Warmwasserbereiter, ein Kühlschrank, eine Spüle und ein Telefon. Gegessen habe ich in der Mensa.

Hier erfolgten nach griechischen Maßstäben Peripetie und Katharsis – man kann von einem Wendepunkt im Wendepunktgeschehen sprechen. Dafür gibt es im Übrigen eine Zeugin – weit entfernt in Kempten, eine enge Freundin meines verstorbenen Bruders aus seiner Ausbildungszeit am Brüderkrankenhaus in Koblenz Mitte der siebziger Jahre. Jene Claudia aus Kempten hat mir in mehreren langen nächtlichen Telefongesprächen den Kopf und die Seele gewaschen. Über meine suizidalen Phantasien seinerzeit - im Knast -  habe ich bis heute mit niemandem gesprochen (Gunthard Weber gegenüber und dem Teilnehmerkreis bei der IGST - im Frühjahr 1998 - habe ich mich geöffnet). In meinen Träumen begegnete mir mein Bruder. Die letzten Treffen im Frühjahr 1994 standen im Zeichen meiner Bemühungen, ihn zur Besinnung zu bringen, ihn davon zu überzeugen, dass sein Platz in seiner Familie war. Er hatte mir durchaus nachvollziehbar seine Nöte geschildert, die Erfahrung als Mann endlich wieder wahrgenommen zu werden. Als er sich auf den Weg nach Österreich machte, soll die letzte Bitte an seine Frau gewesen sein, sie solle ihm gewogen bleiben. So mahnte er mich – er – in dessen Fußstapfen ich getreten war und mich nun selbst nicht schützen konnte. Er mahnte mich, die Lektionen zu lernen, die er – als der Jüngere – wohl kurz vor seinem Tod dabei war zu lernen. Die Ahnung wurde zur Gewissheit, dass mit der nächsten Frau nichts besser würde – im Gegenteil. Allein das Leben der geschiedenen Mutter, der ich da begegnete, führte mir vor Augen, worum es eigentlich ging. George Steiners Botschaft/Mahnung, dass es nicht Gründe sind, die das Herz bevölkern, gewann Einfluss, lange bevor sie mich in den letzten Monaten erreichte: „Es sind Notwendigkeiten gänzlich anderen Ursprungs. Jenseits der Vernunft, jenseits von Gut und Böse, jenseits der Sexualität, die selbst auf dem Höhepunkt der Ekstase ein so unbedeutender und flüchtiger Akt sind.“

Ich habe mehrfach auf den Zeithaufen von nahezu 380.000 Stunden hingewiesen, der sich hinter 42 Jahren auftürmt (gemeint sind die 42 Jahre unseres gemeinsamen Weges). Ein Leben muss gelebt werden, Sekunde für Sekunde, Minute für Minute und Stunde für Stunde. Wenn Assimilation an Grenzen stößt, dann müssen wir neu lernen; und lernen funktioniert nicht mit der Reset-Taste. Alles nur schlicht auf Anfang zu setzen, reicht nicht hin.

Claudia agierte souverän und besonnen. Sie fixierte schriftlich den Minimalkatalog an Pflichten, die sich aus unserer gemeinsamen Verantwortung vor allem für die Kinder ergaben. So riss der Kontakt nie wirklich ab. Ich erinnere mich noch, wie wir im Pühlchen abends Inliner gefahren sind. Die trüben Schleier, die eine neue Liebe über die alte Liebe deckt, verzogen sich nach und nach. Wir aßen wieder häufiger gemeinsam zu Abend, bevor ich mich in die Teichstraße zurückzog. Über Wochen und Monate näherten wir uns zaghaft wieder an. Meine einsamen Nächte vermittelten mir auf untrügliche Weise, dass ich der Hilfe bedurfte. Dies registrierte auch mein Umfeld. Meine Freundschaft mit Reinhard Voß geht in das Jahr 1996 zurück. Unmittelbar nach Antritt seiner Professur auf dem Uni-Campus Koblenz fanden wir zueinander – eine Freundschaft, die bis heute Bestand hat. Er vermittelte den Kontakt nach Heidelberg zur IGST. Gemeinsam mit Rudi Krawitz – seinerzeit Leiter des Instituts, an dem ich arbeitete – legte er den Grundstein für meine dreijährige Weiterbildung zum Familientherapeuten. Als ich die ersten Schritte auf dem Weg dorthin beschritt – zuerst durch einen Vorbereitungskurs bei Gunthard Weber im Frühjahr 1998 – hatte sich das Desaster meiner Affäre verlagert. Mir war unmittelbar klar, dass es hier nicht um Ausbildung, sondern, schlicht um meine ganz persönliche Therapie ging. Und natürlich hatte ich meinen maßgelbichen Anteil an dieser aberwitzigen AffäreAffären in der Lebensmitte drängen zumeist irgendwann auf Entscheidung. Erst mit der Vorstellung, aus dieser Affäre tatsächlich eine neue Lebensperspektive abzuleiten, baute sich vor mir die Betonmauer auf, gegen die ich seit Wochen anrannte. Ich war dabei mir das Hirn aus dem Schädel zu rammen. Und die Schmerzen drangen nach und nach in jene Regionen vor, in denen Herz und Seele beheimatet sind. Zum Schluss war es eine Form von Panik und Angstattacken, und ich kam den Erkenntnisschüben nicht mehr hinterher.

Auch im Rückblick überwiegt die Melange aus Schuld und Scham; Schuldgefühle einerseits Claudia gegenüber, Schuldgefühle aber auch R. gegenüber, deren Rolle im klassischen Dreieck mir mehr und mehr deutlich wurde. Scham verspürte ich meinen Kindern gegenüber – genauso, wie sie von Karl Otto Hondrich weiter oben so eindrücklich begründet wird.

Aber erst der Weg nach Heidelberg zur IGST führte zu einer nachhaltigen Durchdringung des angerichteten Chaos, dass nur noch Verlierer zu produzieren schien. Im März 1998 besuchte ich den einwöchigen Vorbereitungskurs bei Gunthard Weber. Gunthard Weber hatte fünf Jahre zuvor Zweierlei Glück publiziert und damit die systemische Psychotherapie Bert Hellingers einem breiteren Publikum zugänglich gemacht. Ich werde mich auch hier zunächst einmal beschränken – auf’s Wesentliche:

In der Einleitung zu Zweierlei Glück schreibt Gunthard: „Die drei Seminare bei Bert Hellinger sind mir jedoch in unauslöschlicher Erinnerung geblieben. In jedem der Seminare erfuhr ich etwas, was mich noch Jahre später bewegte, was weiterwirkte und etwas in mir ins Lot brachte oder an den richtigen Platz rückte.“

Nach dem Einführungskurs – eine intensive Aufstellungswoche in Wiesloch – absolvierte ich auch das erste Jahr bei Gunthard Weber, bevor ich dann das zweite Jahr bei Uli Clement und das dritte Ausbildungsjahr bei Andrea Ebecke-Nohlen besuchte. Bereits der Vorbereitungskurs veränderte alles! Der Blick auf Familiensysteme und die wertschätzende Herangehensweise an die unterschiedlichsten Familiendynamiken begann die mächtigen Blockaden aufzulösen, die schlicht aus einem nicht vorhandenen Abstand zu den eigenen Bedrängnissen und Nöten herrührten. Gunthard schreibt über Bert Hellingers Art:

„Man wird aber auch deshalb so nachhaltig bewegt und erfaßt, weil er bei jedem einzelnen Grundthemen seines Menschseins in den Vordergrund rückt wie Zugehörigkeit, Bindungsliebe, das Gelingen und Scheitern von Beziehungen und Gegenseitigkeit, das Annehmen des Schicksals und der Vergänglichkeit und weil er mit sparsamsten Mitteln oft etwas sagt, was den Kern der Seele bewegt.“

Dies ist eine treffliche Selbstcharakterisierung mit Blick auf Gunthard Weber. So und nicht ein Jota anders habe ich ihn in seiner Aufstellungsarbeit erlebt. Man lernt in einer intensiven Woche zuvorderst Geduld, Selbstdisziplin, gewiss auch eine Ahnung von der Luhmannschen Haltung der sogenannten Selbstdesinteressierung. Als Stellvertreter in Aufstellungen zu agieren, heißt von sich selbst abzusehen und dennoch den Impulsen zu folgen, die sich aus der Ausgangslage und der Dynamik einer Aufstellung ergeben. Jeder der Teilnehmer hatte im Laufe der Woche Gelegenheit seine Herkunfts- und seine Gegenwartsfamilie zu stellen. Die Teilnahme an über dreißig Aufstellungen stellte eine außerordentliche Herausforderung dar. Die emotionale Beanspruchung war enorm. Die Wochen nach diesem Auftakt waren gleichermaßen geprägt von einer radikalen Konfrontation mit der eigenen Geschichte wie von nachhaltiger Durchlüftung eines moralinsauren Klimas.

Es gab zwei entscheidende Schlüsselerfahrungen in meinen Aufstellungen. Wenn Hellinger/Weber zum einen die Unausweichlichkeit im Annehmen des Schicksals und der Vergänglichkeit betonen und zum anderen Fragen der Zugehörigkeit, der Bindungsliebe und des Gelingens und Scheiterns von Beziehungen in den Vordergrund stellen, lässt sich leicht erahnen, welche Schlüsselmomente in meinen Aufstellungen zum Tragen kamen:

Gunthard Weber bot – ähnlich wie Bert Hellinger – als Lösung für Verstrickte in ausweglosen Dreiecksbeziehungen eine Intervention an, die mich der Geliebten gegenüber in eine neue, lösende Position brachte. Sie legt nahe, dass man sich der Trauer überlässt, dem ganz tiefen Schmerz, der Trauer darüber, dass es vorbei ist. Diese Trauer dauert nicht sehr lange, geht aber sehr tief und tut sehr weh. Dann sind sie auf einmal voneinander gelöst, und dann können sie nachher gut miteinander reden, und alles was noch zu regeln ist, vernünftig und mit gegenseitigem Respekt lösen. Bei Trennungen ist die Wut sehr häufig Ersatz für den Schmerz der Trauer. Oft fehlt, wenn zwei nicht voneinander lassen können, das Nehmen. Dann muss der eine dem anderen sagen:

„Ich nehme, was du mir geschenkt hast. Es war eine Menge, und ich werde es in Ehren halten und mitnehmen. Was ich dir gegeben habe, hab ich dir gern gegeben, und du darfst es behalten. Für das, was zwischen uns schief gelaufen ist, übernehme ich meinen Teil der Verantwortung und lasse dir deinen, und jetzt lasse ich dich in Frieden. Dann können beide auseinandergehen.“

Sowohl Gunthard Weber als auch Bert Hellinger betonen, dass man Aufzeichnungen zu Aufstellungen nicht dazu hernehmen kann, sich sozusagen Wissen anzueignen. Die Arbeit und die Aussicht auf Lösungen ergeben sich aus der konkreten Aufstellungsarbeit. Mit Blick auf Verallgemeinerbarkeit oder gar Rezepturen hat Hellinger wohl einmal geäußert: „Das Beste kann man nicht sagen, und das Zweitbeste wird missverstanden.“ Im Rückblick auf mein destruktives Driften seit 1994 kann ich eine weitere Metapher Hellingers heranziehen, insofern sie meine Situation bis zur Aufstellungswoche recht präzise beschreibt:

„Man tappt im Dunkeln, tastet die Wände entlang, bis man eine Tür findet. Kommt eine ‚Lichtung‘, sucht man das, wovon man erleuchtet wird, in einem vollen Wort zu sagen… Wenn das eine Form gefunden hat, wird der, der es hört, auf einer Ebene jenseits des Denkens erfasst. Es wirkt etwas Gemeinsames und bewegt, ohne dass er weiß wieso.“

Wer so sehr geprägt war und ist von einer traumatisierenden Trennung in frühen Jahren, und wer – dennoch – mitten im Leben, aus der Familie heraus alles tut, diese Familie in Schutt und Asche zu legen, der geht im besten Fall geläutert aus diesen Irrungen und Wirrungen hervor. Unter den vollkommen veränderten Vorzeichen suchte ich behutsam den Kontakt zu R., die sich früh – so erfahren sie war – und in nachvollziehbarer Wut und Enttäuschung zu verwahren suchte als Ehesanierungshilfe missbraucht zu werden. Es hat eine Reihe von Treffen gegeben, über die es tatsächlich gelungen ist, sowohl die Hitze als auch die Wut zu besänftigen. Man mag zweifeln an der Richtigkeit und Angemessenheit meiner Vorgehensweise. Tatsache war hingegen, dass die überschaubare Bühne unserer kleinen Universität keine andere Wahl ließ, als meine Rolle in dieser maßgeblich auch von mir zu verantwortenden Affäre zu klären. Dass es gelungen ist, lag an der in Heidelberg gewonnen Grundhaltung auf das Geschehene sowohl mit Dankbarkeit als auch mit Demut zurückzublicken. So wie wir beide jeweils unseren Anteil daran hatten, so ist es uns auch gelungen die Tür zu finden, durch die wir gemeinsam gehen konnten, um danach unserer Wege zu gehen.

Am Ende des vorausgegangenen Kapitels sowie zu Beginn dieses Kapitels habe ich erwähnt, dass R. heute unsere Nachbarin ist. Geblieben ist gegenseitige Wertschätzung und Achtung. Ich sage das heute mit einem gewissen Stolz und einer satten Genugtuung. Zweifellos hängt diese Bewertung auch damit zusammen, dass es mir 2001 gelungen ist, mit meiner ersten langjährigen Lebensgefährtin endlich jenen Frieden zu finden, den wir uns über zwanzig Jahre nicht gestattet haben.