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Hannah Arendt - eine besonders kluge Frau!

Bleibt man wach und zapft den guten, alten Wein an, der sich in einer üppigen Bildungsbiografie in den besonderen Jahrgängen offenbart, dann gelangt man zwangsläufig irgendwann auch wieder einmal zu Hannah Arendt (HA). Vor zwanzig Jahren – kurz nach ihrem Erscheinen – hat Claudia mir das Denktagebuch Hannah Arendts geschenkt: Hannah Arendt, Denktagebuch bei Piper München und Zürich, 2002, 2 Bände. Es ist aus gegebenen Anlässen an der Zeit, sich einen gute Flasche der Arendtschen Spätlese  zu gestatten. In den Anmerkungen zu Heft XIII (im zweiten Band, Seite 998) kommentieren die Herausgeberinnen, Ursula Ludz und Ingborg Nordmann:

„Wie dem auch sei, die Eintragung (auf die hier unter anderen Bezug genommen wird, FJWR) reiht sich ein in H.A.s Bemühen um eine Neubestimmung des Politischen, wie es im Denktagebuch erstmals in der Eintragung >Was ist Politik?< (Heft I,21, S. 15ff.) sichtbar wird (vgl. auch Heft II, 30).“

Beginnen wir genau damit und lesen (Erster Band, S. 53):

Der Mensch – die Menschen:
In den totalitären Regimen erscheint deutlich, dass die Allmacht des Menschen der Überflüssigkeit der Menschen entspricht. Darum entspringt aus dem Glauben, dass alles möglich sei, unmittelbar die Praxis, die Menschen überflüssig zu machen, teils durch Dezimierung und generell durch die Liquidierung der Menschen qua Menschen.“ (Hervorhebung, FJWR)

Diese Eintragung hat HA im Januar 1951 in ihrem Denktagebuch vorgenommen – sechs Jahre nach den von den Nazis ins Werk gesetzten Menschheitsverbrechen (im Übrigen ein Jahr vor meiner Geburt). Alle folgenden Hervorhebungen - FJWR)

Miniexkurs: Wer vermerkt 1932 in seiner Schrift: Der Begriff des Politischen folgendes zum Wesen des Krieges? „Ist der Wille, den Krieg zu verhindern, so stark, daß er den Krieg selbst nicht mehr scheut, so ist er eben ein politisches Motiv geworden, d.h. er bejaht, wenn auch nur als extreme Eventualität, den Krieg und sogar den Sinn des Krieges. Gegenwärtig scheint das eine besonders aussichtsreiche Art der Rechtfertigung von Kriegen zu sein. Der Krieg spielt sich dann in der Form des jeweils >endgültig letzten Krieges der Menschheit< ab (siehe die Sprachregelungen zum Überfall auf die Sowjetunion am 22.6.1941, FJWR). Solche Kriege sind notwendigerweise besonders intensive und unmenschliche Kriege, weil sie, über das Politische hinausgehend, den Feind gleichzeitig in moralischen und anderen Kategorien herabsetzen und zum unmenschlichen Scheusal machen müssen, das nicht nur abgewehrt, sondern definitiv vernichtet werden muß, also nicht mehr nur ein in seine Grenzen zurückzuweisender Feind ist. An der Möglichkeit solcher Kriege zeigt sich aber besonders deutlich, daß der Krieg als reale Möglichkeit heute noch vorhanden ist, worauf es für die Unterscheidung von Freund und Feind und für die Erkenntnis des Politischen allein ankommt.“ (S. 37)

Ja, Carl Schmitt schreibt 1932 die Blaupause – insbesondere für den Vernichtungskrieg, den die Nazis am 22. Juni mit dem Überfall auf die Sowjetunion beginnen. Dass Carl Schmitt nicht an einer fein ziselierten deskriptiven Erörterung begrifflicher Unterschiede interessiert ist, zeigt sich unmittelbar in folgender Passage, in der seine normative Grundhaltung transparent wird, denn von für den Liberlismus typischen Dilemmata grenzt sich Carl Schmitt radikal ab! Und die binäre Codierung Freund - Feind erfährt eine Generalisierung, weit über militärische, kriegsspezifische Eingrenzungen hinaus:

Die Begriffe Freund und Feind sind in ihrem konkreten, existenziellen Sinn zu nehmen, nicht als Metaphern oder Symbole, nicht vermischt und abgeschwächt durch ökonomische, moralische und andere Vorstellungen, am wenigsten in einem privat-individualistischen Sinne psychologisch als Ausdruck privater Gefühle und Tendenzen […] Der Liberalismus hat in einem für ihn typischen […] Dilemma von Geist und Ökonomik den Feind von der Geschäftsseite her in einen Konkurrenten, von der Geistseite her in einen Diskussionsgegner aufzulösen versucht […] Ob man es aber für verwerflich hält oder nicht und vielleicht einen atavistischen Rest barbarischer Zeiten darin findet, daß die Völker sich immer noch wirklich nach Freund und Feind gruppieren, oder hofft, die Unterscheidung werde eines Tages von der Erde verschwinden, ob es vielleicht gut und richtig ist, aus erzieherischen Gründen zu fingieren, daß es überhaupt keine Feinde mehr gibt, alles das kommt hier nicht in Betracht. Hier handelt es sich nicht um Fiktionen und Normativitäten, sondern um die seinsmäßige Wirklichkeit und die reale Möglichkeit dieser Unterscheidung.“ (S. 28f.)

Wer sich zu der totalitären Wahnidee versteigt: Der Führer schützt das Recht“ (bitte anklicken), der meint in der Tat, was er sagt, denn:

Der politische Feind […] ist eben der andere, der Fremde, und es genügt zu seinem Wesen, daß er in einem besonders intensiven Sinne existenziell etwas anderes und Fremdes ist, so daß im extremen Fall Konflikte mit ihm möglich sind, die weder durch eine im voraus getroffene generelle Normierung, noch durch den Spruch eines >unbeteiligten< und daher >unparteiischen< Dritten entschieden werden können.

Der andere, der Fremde war mit dem Inkrafttreten der Nürnberger Gesetze der Jude, der erklärte Feind – neben anderen Feinden – das mit Worten Carl Schmitts „unmenschliche Scheusal, das nicht nur abgewehrt, sondern definitiv vernichtet werden muß“. Ein zivilisatorisches Minimum hatte innerhalb dieser Gedankenspiele keinen Platz mehr.

Hannah Arendt fragt – ähnlich wie Carl Schmitt – was wohl der Kernbegriff des Politischen sei? und kommt zu jener Überzeugung, für die wir heute als überzeugte Republikaner und Demokraten einstehen:

Politik beruht auf der Tatsache der Pluralität der Menschen […] Politik handelt von dem Zusammen- und Miteinander-sein der Verschiedenen [...] Der Mensch wird realisiert in der Politik nur in den gleichen Rechten, die die Verschiedensten sich garantieren. In dieser freiwilligen Garantie und Zubilligung eines juristisch gleichen Anspruchs wird anerkannt, dass die Pluralität der Menschen, die ihre Pluralität sich selber danken, ihre Existenz der Schöpfung des Menschen verdankt.“ (Erster Band, S. 15ff.)

Und dann ist es folgerichtig „primär die Pluralität, welche die Macht der Menschen und des Menschen eingrenzt.“ (Ebd., S. 54)

Es bleibt hier nicht ein Jota, kein My für die Diktatur des Proletariats (oder welch selbsternannter Elite auch immer) Hannah Arendt argumentiert entsprechend radikal, dass die Politikwissenschaft eine Philosophie verlange, „für die es Menschen nur im Plural gibt. Ihre Gebiet ist die menschliche Pluralität“. (Vgl. ebd., S. 297)

Hannah Arendt, die die „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft – Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus“ (2023 in einer Neuedition bei Piper erschienen) zu einem ihrer zentralen Forschungs- und Publikationsschwerpunkte gemacht hat, erweist sich als eine wahre Theoretikerin und Verfechterin des Pluralismus; von ihrer Weitsicht und Klugheit können wir alle heute noch außerordentlichen Gewinn haben – nicht zuletzt, um zu sehen, wohin uns Theoretiker wie Carl Schmitt geführt haben und wozu er heute noch manch einen offenkundig verführt: Keine Stimme der AfD!