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Sexuelle Allesfresser?

Ein kleines Beispiel aus dem Menü „Liebe, Sex und solche Sachen“ bzw. „Familie und Partnerschaft“ (ein Entwurf)

Frauen als „sexuelle Allesfresser“ – oder: Was hat die aktuelle Sexualforschung an neuen Erkenntnissen zu bieten?

„Warum Frauen mindestens so schnell erregt sind wie Männer – aber in unserer Gesellschaft dazu erzogen werden, ihre Lust zu verleugnen.“ Ein Interview mit dem Autor Daniel Bergner, erschienen in der Süddeutschen Zeitung am 13. März 2014 (Nr. 60/2014)

Tagebucheintrag – 18.3.2014: Das Wertvolle an den seit dem Jahr 2000 geführten Tagebüchern war die Melange zwischen ereignishafter Buchführung – wer, was, wann, wo, wie, mit wem, weshalb – und den sich davon abhebenden, darüber erhebenden Reflexionen bis hin zur Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen, philosophischen, literarischen oder journa-listischen „Ereignissen“ bzw. Anregungen. Eigentlich sollte ich genau da anknüpfen – allein mir fehlt die Frische und auch die Perspektive (das Vorhaben/Projekt eines Blogs könnte das vielleicht verändern?!). Ich erinnere mich an Susanne Gaschkes (inzwischen eine traurig-tragische Figur) mit Ironie und Weitsicht geschriebenes Essay zur „Wiederentdeckung der Doppelmoral“ (ZEIT, 1/99 vom 30.12.1998). Ich habe mich sehr anregen lassen und ihr Respekt gezollt, indem ich sie neben Luhmann, Fuchs, Barthes und vielen anderen im „Café-Hahn-Buch“ hab zu Wort kommen lassen.

 

Auf der Rückfahrt von Berlin nach Koblenz (am 13.3.14) habe ich mich interessiert bis amüsiert mit einem Autor namens Daniel Bergner („Die versteckte Lust der Frauen“ – Knaus Verlag) auseinandergesetzt (Das Interview in der Süddeutschen Zeitung führte Christina Berndt, also eine Frau – siehe oben):

Der Wissenschaftsjournalist geht nach Gesprächen mit vielen Wissenschaftlern davon aus, dass „von unseren Annahmen über die Sexualität von Männern und Frauen nichts übrig bleibt“, so z.B. im Hinblick auf „Promiskuität“. Bergner bezieht sich auf Meridith Chivers, eine seiner Auffassung nach „großartige Sexualwissenschaftlerin“. Sie zeige auf beeindruckende Weise, „dass der Unterschied zwischen dem, was Frauen fühlen, und dem, was sie sich erlauben zu fühlen, immens ist“. Auf die Frage, ob man das nachweisen könne, antwortet er folgendermaßen: „Ja, man kann. Meridith hat ihren Versuchspersonen einen Sensor in die Vagina eingeführt und gemessen, wie viel Feuchtigkeit dort produziert wird. Dann hat sie ihnen ganz verschiedene Arten von Sexvideos gezeigt: Filme, in denen Männer Sex mit Frauen haben, aber auch solche, in denen Männer Sex mit Männern haben, Frauen mit Frauen, Frauen und Männer mit sich allein und sogar Affen mit Affen. Manche Clips zeigten Gruppensex, andere Gewaltszenen. Anders als heterosexuelle Männer, die fast nur durch heterosexuelle Pornos angetörnt wurden, erregte die Frauen alles. Sie scheinen sexuelle Allesfresser zu sein. Aber bewusst sind sie sich dessen nicht.“

Der Verstand – so Bergner im Anschluss an Chivers – verleugne offenbar die Vagina.

Zur Evolutionsbiologie, wonach Männer promisk seien, weil sie endlos viel Nachwuchs zeugen können – und Frauen eben nicht, meint Bergner: „Alles Quatsch!“ – es gebe keinerlei Belege dafür, dass Männer von Natur aus auf ein promiskes Leben programmiert seien und Frauen auf ein monogames. Er verweist auf eine deutsche Studie von Dietrich Klusmann. Danach leide das Verlangen der Männer nach ihrer Partnerin auf Dauer nur wenig, die Lust der Frauen auf ihren Partner nehme nach zwei bis vier Jahren abrupt ab. Es seien die Männer, die mit der Monogamie ganz gut klar kämen.

Christina Berndt fragt Bergner, was er denn Männern rate?

„Stellt Fragen und wiederholt sie fünfmal! Ihr werdet wahrscheinlich zunächst keine ehrliche Antwort bekommen. Und lasst euren Frauen ihre Phantasien: Je mehr man phantasiert, desto mehr sexuelle Energie bringt man in die Beziehung.“

Christina Berndt fragt weiter: „Also sollten Frauen vor allem ihren Gedanken freien Lauf lassen, um sich ihre Lust zu bewahren?“

Bergner: „Ich glaube, dass das helfen würde. Ich denke da an ein bestimmtes Pärchen. Sie haben drei kleine Kinder und anstrengende Jobs – also alles, was das Sexleben massiv stört. Aber sie haben ein sehr aktives Sexleben. Diese beiden sprechen sehr offen über ihre Phantasien. Sie hat mir erzählt, dass sie den Ersatzkeeper der New-York-Yankees so attraktiv findet. Ich fragte sie, ob ich das wirklich schreiben soll. Ihren Ehemann könnte das verletzen. Und sie sagte: Er weiß es sowieso. Tatsächlich hat er verstanden, dass es sich um Phantasie handelt. Dass solche Phantasien Teil der Energie sind, von der du möchtest, dass dein Partner sie in die Beziehung einbringt.“

Christina Berndt versucht Bergner mit der Frage ein wenig aus der Reserve zu locken, ob er denn langjährig liierten Paaren rate, die unvermeidbaren Lücken mit Phantasie zu füllen, dabei aber monogam zu bleiben?

Bergner weigert sich allerdings eine Antwort auf die Frage nach der Monogamie zu geben: „Wir sind menschliche Wesen, kompliziert und wunderbar paradox. Und eines dieser Paradoxa ist, dass wir Monogamie propagieren und eigentlich Lust auf mehr haben.“

 (Hallo, guten Morgen Susanne Gaschke – war Politik als Beruf die Lösung? Aber mal im Ernst, was machen wir denn nun mit den netten Hinweisen von Daniel Bergner?)

Ich versuche es zunächst einmal mit einer seriösen Auseinandersetzung, die ihre Anknüpfung an eine ernsthafte Sexualforschung und –therapie sucht. Davon gibt es in Deutschland nicht so viel:

In den Ausbildungskursen der IGST in Heidelberg hatte ich 1998/99 das große Glück und Privileg, jeweils ein Jahr bei zwei der renommiertesten und erfahrensten Lehrtherapeuten lernen zu dürfen. Das war zum einen Gunthard Weber, der soeben „Zweierlei Glück“ veröffentlicht hatte, und auf seine Weise die Aufstellungsarbeit Bert Hellingers weiter entwickelte. Zum anderen war es Ulrich Clement, Paar- und Sexualtherapeut und ehemaliger Präsident der International Academy of Sex Research (IASR). Ulrich Clement hat 2004 ein Standardwerk zur „systemischen Sexualtherapie“ vorgelegt und publiziert regelmäßig in einschlägigen Fachzeitschriften. Zuletzt ist von ihm der Beitrag „Ambivalenzen des sexuellen Begehrens“ in der Familiendynamik (2/2014) erschienen. Auf diesen Beitrag beziehe ich mich hier im Wesentlichen, was zu einer interessanten Ausdifferenzierung der Bergnerschen Positionen führt. Dabei gehe ich nicht systematisch vor, sondern werde fallbezogen anregende Thesen und Ideen aufgreifen:

„Begehrt zu werden kann für Frauen auch dann erregend sein, wenn dem keine sexuelle Aktivität folgt.“

In langjährigen Paarbeziehungen, die zwei, drei oder mehr Dekaden umfassen, könnten entsprechende Hinweise möglicherweise eine besondere Qualität annehmen, insbesondere wenn „sexuelle Inappetenz“ im Raume steht, die Uli Clement als häufiges Merkmal langjähriger Paarbeziehungen beschreibt (2004). Unter Bezugnahme auf aktuelle Forschungsbefunde zur weiblichen Sexualität greift auch Uli Clement auf die Forschungsbefunde von Meredith Chivers (2005 und 2010) zurück und erwähnt darüber hinaus Ellen Laan (2008) sowie Marta Meana (2010). Er fasst interessante Ergebnisse zusammen und ordnet sie in ein systemtheoretisch begründetes Interpretationsschema ein:

Er unterscheidet dabei ein „Wertesystem“, das sich als psychisches System beschreiben lässt, „dessen Leitunterscheidung die Differenz zwischen erwünscht und unerwünscht ist“. Clement betont, dass es über Selbstbeobachtung und Reflexion zugänglich ist und damit auch intentional verändert werden kann. Natürlich kann es dabei zu (Werte-)Konflikten kommen, die systemintern reguliert werden (müssen).

Das „Lustsystem“ hingegen funktioniere als „biologisches System“ unwillkürlich und damit weitgehend unbewusst. Es sei insofern auch nicht ohne weiteres intentional veränderbar. „Seine Leitunterscheidung ist die Differenz zwischen Lust erregend und nicht erregend“.

Lustsystem und Wertesystem lassen sich nach Clement als „zwei autonome, also operativ geschlossene System interpretieren, die aber strukturell gekoppelt sind“. Er folgert, dass diese strukturelle Kopplung gegenseitig belebend wirke: „Das Wertesystem erhält durch das Lustsystem erst seine Energie, Lebendigkeit… Das Lustsystem bezieht erst durch das Wertesystem Bedeutung und kommunikative Relevanz.“ Bei Tieren – z.B. Bonobos – gibt es diese Differenz nicht, sondern das Lustsystem reguliert alleine (sexuelles)Verhalten.

So könne es sein, dass eine Frau sich einen ihrem Wertesystem entsprechenden Wunsch zulegen möchte (z.B. ihren Partner mehr zu begehren, weil Sex in der Ehe dazu gehöre), der aber in ihrem Lustsystem keine Relevanz finde („ich spüre aber kein Begehren“). Das Lustsystem verstehe den Wunsch in seinem internen Operationsmodus nicht. In einer anderen Situation könne dieselbe Frau von ihrem Lustsystem Impulse bekommen, die sie scharf machen, zugleich aber auch ängstigen (z.B. Sex mit einem anderen Mann machen) oder durch Gefühle von Scham blockiert würden (weil sie ihrem Wertesystem widersprechen).

„Wenn sich die beiden Systeme gegenseitig blockieren oder nicht anschlussfähig kommunizieren, führt das auf der Verhaltensebene dazu, dass ‚nichts passiert’, also weder sexuelle Initiative ergriffen wird noch eine sexuelle Initiative des Partners positiv angenommen wird, selbst wenn der Leidensdruck ausgeprägt ist und Änderungswünsche deutlich sind.“

 Nach Marta Meana entscheiden sich die meisten Frauen im Konfliktfall für die Imperative des Wertesystems (alle anderen Frauen sind Schlampen oder Bitches). Das mache verständlich, warum Frauen zufrieden sein können mit Sex, der sie nicht antörnt und warum sie in Beziehungen blieben, die sie sexuell nicht antörnten. Nach diesen Erkenntnissen „opferten“ diese Frauen ihr Begehren den Beziehungswünschen.