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Eltern beeinflussen das Lebensglück ihres Nachwuchses weniger, als sie denken

Mit dieser These nähert sich Tillmann Prüfer in der aktuellen Ausgabe des ZEIT-Magazins (25/23) einer zentralen Frage, die Eltern und Kinder – und Kinder, die dann irgendwann selbst Eltern sind – seit Jahrzehnten umtreibt. Prüfer setzt eine Klammer, indem er Sigmund Freud zitiert. Der schrieb wohl nachweisbar den Satz:

„Wenn man der unbestrittene Liebling der Mutter gewesen ist, so behält man fürs Leben jenes Eroberergefühl, jene Zuversicht des Erfolges, welche nicht selten wirklich den Erfolg nach sich zieht.“

Die Jahre zwischen Geburt und Erwachsensein (nach deutschem Recht ist Kind, wer das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet hat) – so Prüfer – führten für die einen zu einem mystischen Meer, in dem sie nach Erklärungen für das eigenen Leben fischten. Für andere türmten sie sich zu einem Gebirge auf, bei dessen Ersteigen man sich ständig die Frage stellte: „Machen wir es richtig? Sind wir empathisch, fördernd, führend, liebend genug? Und was richten wir an, wenn wir es falsch machen?“

Tillman Prüfer bezieht sich auf den französischen Philosophen Bernard-Henry Lévy, der auf die Frage nach Kindheitserinnerungen meinte:

„Ich glaube nicht an die Kontinuität zwischen dem, der man als Kind war, und dem, der man als Erwachsener geworden ist.“

Mit Blick auf die Ernsthaftigkeit und den Anspruch, mit denen Tillmann Prüfer für diesen langen Beitrag recherchiert hat, muss ich zunächst einmal einräumen, dass ich ihm mit diesem knappen Beitrag in meinem Blog nicht gerecht werde. Mir geht es um die Prüfung seiner Eingangsthese und eine Zuspitzung, die mir im engeren Kontext meiner Beziehungswelt zu schaffen macht. Dort gibt es – nachweisbar – einen Fall, der, weil sich die Lebensläufe räumlich und zeitlich in einem äußerst engen Feld (Hausbacke an Hausbacke mit gemeinsamem Garten) in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren und auch darüber hinaus entfalteten. Alle Fragen, die Tillmann Prüfer auf wissenschaftlich erforschtem Terrain stellt, lassen sich hier mit Blick auf Lebensläufe, die sich – bis auf wenige Stunden – im gleichen historischen, kulturellen, sozialen Umfeld ereigneten, auch hier stellen. Hinzu kommt, dass die beiden Protagonisten sich über ihre Mütter auch blutsverwandtschaftlich verbunden sind (diese Bindung hat bis heute auch ihre verlässliche emotionale Fundierung).

Die Frage, die Tillmann Prüfer in den Mittelpunkt stellt, lautet schlicht: „Was weiß man darüber, wie Kindheit und Erwachsenenalter wirklich zusammenhängen?“ Ich verkürze nun enorm und vielleicht unbotmäßig; halte dem aber entgegen, dass man sich das aktuelle ZEIT-Magazin problemlos beschaffen kann, um sich ein eigenes Bild zu machen.

Prüfer fragt nach eingehender Recherche: „Was können wir aus diesen Befunden lernen?“ Die verkürzte drastische Antwort: „Eine schwere Kindheit allein verurteilt nicht zum Unglücklichsein.“ Etwas seriöser: Viele Psychologinnen und Psychologen forderten heute Ähnliches wie der Philosoph Bernard-Henri Lévy – nämlich die Kindheit nicht als determinierend anzusehen, sondern ihre Bedeutung zu relativieren.

Tillmann Prüfer wendet sich der Berliner Psychologie-Professorin Jule Specht zu. Sie hat die Daten groß angelegter Panels ausgewertet, bei denen dieselben Menschen zu verschiedenen Zeitpunkten ihres Lebens befragt werden. Die Persönlichkeit wird demnach vor allem durch verschiedene Faktoren bestimmt, die in der Psychologie die Big Five genannt würden: „Extravertiertheit, Neurotizismus, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit und Offenheit.“ In Kontext dieser Forschungsbemühungen relativiert sich die Vorstellung von einer einseitigen, determinierenden Prägekraft der Kindheit. Zum anderen schwinde der Einfluss der Kindheit, je weiter man sie hinter sich lasse: „Die Ereignisse und Umstände, die einen direkt umgeben, haben den stärksten Einfluss auf unsere Persönlichkeit.“

Die Sozialforschung der letzten Jahrzehnte findet in einem gewichtigen Befund Bestätigung bei der Beantwortung der Frage, wovon es abhängt, ob man mit seinem Leben als Erwachsener zufrieden ist: Nämlich von der Tatsache, ob man einen Arbeitsplatz hat, von wertschätzenden Menschen umgeben ist – und ob man körperlich gesund ist:

„Dabei haben Ereignisse wie der Eintritt ins Arbeitsleben einen stärkeren Einfluss als Kindheitsfaktoren. Das erklärt Specht damit, dass die Arbeitswelt mit ihren rücksichtslosen Anforderungen und Feedback-Prozessen von uns unmittelbar fordert, dass wir uns an sie anpassen.“

Arbeiten wir uns zu der zentralen Frage vor, welchen Einfluss denn Eltern überhaupt auf die Persönlichkeit haben? Tillmann Prüfer hat sich – um dies herauszufinden – immerhin durch die Studierzimmer der renommiertesten Kinderpsychologinnen und Kinderpsychiater telefoniert, um deren Einschätzungen zu erfragen. Beginnen wir mit dem radikalsten Resümee, dass Stephan Doering, Leiter der Psychoanalyse und Psychotherapie an der Universitätsklinik Wien, anzubieten hat:

Die Neigung von Menschen, für Probleme im Leben das erzieherische Versagen der Eltern anzuführen, nennt er >Parent-Blaming<. Döring erklärt mir, dass die starke Fokussierung auf Kindheitserfahrungen eher geschichtlich als psychologisch zu erklären ist […] Es komme vor, dass Patienten hartnäckig auf ihrer unglücklichen Kindheit bestehen, ohne dass sie besonders traumatische Erfahrungen gemacht hätten. >Wir erleben immer wieder Patientinnen und Patienten, die die vermeintliche Schuld ihrer Eltern als eine Art Abwehrbollwerk vor sich herschieben, um nicht selbst Verantwortung für sich übernehmen zu müssen.< Natürlich gebe es mitunter sehr schlimme Erfahrungen mit den eigenen Eltern. >Aber in den meisten Fällen ist trotzdem eine positive Entwicklung in Richtung einer Genesung möglich.< Durch Psychotherapie sei den meisten Menschen gut zu helfen. Ein Ergebnis solcher Therapien ist auch, dass man die eigene Persönlichkeit zu schätzen lernt und sich vom Glauben frei macht, man müsse irgendwie anders sein, um ein zufriedenes Leben zu führen.“

Zuletzt: Auch in der Entwicklungspsychologie hat sich offenkundig ein Begriff durchgesetzt, der einem eher konstruktivistisch akzentuierten Weltbild entspricht. Auch im Eltern-Kind-Verhältnis gehe es immer um Passung – in der Passung von Erwartungen und Möglichkeiten liege ein entscheidender Schlüssel für angemessene Entwicklungsbedingungen. Das folgende, von Oskar Jenni (Professor für Entwicklungspädiatrie in der Universität Zürich) geschilderte Fallbeispiel dürfte vielen Eltern vertraut sein:

„Ein Kind sei kognitiv durchschnittlich bis vielleicht etwas unterdurchschnittlich begabt. Die Eltern haben aber Erwartungen, dass es in der Schule gute Noten erziele, damit es später mehr Möglichkeiten im Leben habe. Das Kind sei aber nicht in der Lage, diese kognitive Leistung zu erbringen. >Und da komme es zu einer falschen Passung, weil das Kind unseren Erwartungen nicht gerecht werden kann.< Das führe dazu, dass das Kind ein eingeschränktes Wohlbefinden entwickle, dass es ihm auf lange Sicht nicht gut gehe – obwohl die Eltern das Beste für es wollen. Eltern sollen die Interessen der Kinder unterstützend aufnehmen und Impulse geben, die Stärken ihrer Kinder fördern und die Schwächen akzeptieren, sagt Jenni – und versuchen, mit ihnen so umzugehen, dass es zu ihrem jeweiligen Entwicklungsstand passt.“ Am Ende sagt Jenni, laufe es in der Kindheit auf die >Vier V< hinaus: Sei vertraut, verlässlich, verfügbar, liebevoll. >Das sind vier Bedingungen, die wichtig sind, die Bezugspersonen den Kindern gegenüber erfüllen sollen. Und das ist auch für eine gute Entwicklung förderlich. Mehr braucht es nicht.“

 

Eine gute Überleitung zu Benedikt Bösel, der sein Buch „Rebellen der Erde – Wie wir den Boden retten – und damit uns selbst (München 2023) seinen Eltern mit dem Vermerk widmet:

„Für meine Eltern, die mir täglich zeigen, was die Grundlagen des Lebens sind – Familie, harte Arbeit und Großzügigkeit“

Er schreibt übrigens im einleitenden Kapitel: „Ich war ein lausiger Schüler, der den Unterricht hasste und die Natur liebte: „Ich wuchs in München auf, dann im Rheinland in der Nähe von Leverkusen, schließlich in Bad Godesberg bei Bonn. Egal wo ich hinkam, gab es Probleme […] Ich weiß gar nicht mehr, wie oft mein Vater in der Schule auftauchen musste. Er hatte ein zweites Handy, das nur für die Probleme der Kinder bestimmt war. Selbst wenn es mitten in der Sitzung vibrierte, verließ er umgehend den Raum und nahm die nächst Schreckensmeldung entgegen […] Meinen Eltern Cornelie und Hans-Detlef verdanke ich alles. Zuerst mussten sie mich als anstrengendes Kind ertragen, dann als Hüter ihres Lebenswerks akzeptieren.“

Das weckt doch Neugier😊

Ganz zum Schluss noch ein Hinweis, der sich auf die oben vorgenommene Einlassung zu meinem engeren Umfeld bezieht: Ähnlich wie Benedikt Bösel neige ich zu dem Bekenntnis, meinen Eltern alles zu verdanken. Da haben Eltern offenkundig (fast) alles richtig gemacht. Ich meine dies im Übrigen nicht nur, weil der Mensch sich verdankt. Von meiner Cousine, die allen Anlass hätte, ihren Eltern Gram zu sein, habe ich Zeit ihres Lebens - wir leben immerhin seit 71 Jahren im allerengsten Zeittakt (geboren am 20. bzw. am 21. Februar 1952) kein böses Wort über ihre Eltern gehört. Wir sind beide unseren Weg gegangen - lange gemeinsam und dann gewiss auf sehr unterschiedlichen Wegen.