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Maximilian Probst: Verbindlichkeit -
Plädoyer für eine unzeitgemäße Tugend (Teil I)

Maximilian Probst: (Verbindlichkeit, Hamburg 2017) hat mir vermittelt, dass ich in meiner Mittelmäßigkeit und Langweiligkeit möglicherweise zum Prototypen des Verbindlichkeit verkörpernden Menschen geworden bin. Seine zentrale Frage – konfrontiert mit postmoderner Beliebigkeit – lautet: Worauf kann ich mich verlassen? Verbindlichkeit – Verlässlichkeit als Ankerbegriffe in der Spätmoderne?

Ich versuche es selbst zunächst einmal mit Sprachspielen, da mir beispielsweise mit Arnold Retzer die anspruchsvolle Vorstellung dessen geläufig ist, was unter dem Begriff der Freundschaft verhandelt wird. Freundschaft wiederum – wer würde das bezweifeln – geht nicht in Freundlichkeit auf. Vielmehr schwingen in ihr Vorstellungen von Treue – auch Verbindlichkeit – mit, wie sie nur dem ehelichen Treugelöbnis vergleichbar sind. Nimmt man aber Freundlichkeit, dann gelangt man zu einer Haltung, die durchaus mit Unverbindlichkeit einhergehen kann: Sei freundlich, dann ist man freundlich zu dir! Während Freundlichkeit ein Oberflächenphänomen im Blick hat, geht es bei Freundschaft um alles. Hingegen erwächst – nimmt man Verbindlichkeit näher in den Blick - nicht wie aus der Sprachwurzel des Freundens (Retzer), die zu Freundschaft und Freundlichkeit gleichermaßen hinführen mag, eine ähnliche Differenzierung, die man mit Verbindlichkeit einerseits und "Verbundschaft" andererseits vornehmen könnte. Es gibt kein entsprechendes Substantiv auf Augenhöhe mit der Tiefendimension der Freundschaft. Aber Verbindung, Verbundenheit lassen sich ableiten. Um Verbindlichkeit den Rang einer sinn- und orientierungsstiftenden Idee oder Tugend zuzubilligen, greift Maximilian Probst zu folgender Definition. Er beschreibt Verbindlichkeit als ein Verhalten,

bei dem sich jemand einer Absichtserklärung unterwirft und sich verpflichtet fühlt, diese, so gut es geht, umzusetzen. Die Verbindlichkeit knüpft ein Band zwischen zwei Menschen, oder auch, wenn mehrere derselben Absicht folgen, einen Bund (Seite 24).“

Wir können also davon ausgehen, dass Verbindlichkeit in der Regel einhergeht mit einem Pflichtethos, mit Vorstellungen von sehr weitgehender Verlässlichkeit. In meinem nunmehr schon mehr als 71 Jahren währenden Leben bin ich letztlich (auch) zu einem Pflichtethiker mutiert, einem Menschen, auf den man sich verlassen kann. Das behauptet hier jemand, der vor 25 Jahren bereit war, seine Familie zu verlassen, jemand, der dabei fast Verstand und Leben verloren hätte, der aber schließlich in dieser harten Lebensschule gelernt hat, dass man auch wollen kann, was man soll. Aber wie Arnold Retzer schon im Lob der Vernunftehe anmerkt: Ohne Liebe geht es nicht! Kommen Liebe, Pflichtethos und Verbindlichkeit zusammen, kann daraus die kontinuitätsverbürgende Haltung jemandes entstehen, auf den man sich verlassen kann. Damit überschreitet man nuanciert die Kontur eines Nur-Pflichtethikers im Kantschen Sinn.

Dies meint eben mehr als eine nüchterne vertragsgebundene (Selbst-)Verpflichtung: Maximilian Probst schreibt:

„Sobald die Verbindlichkeit auf dem Vertrag beruht, verliert sie ihre soziale Wärme. Der Handschlag als Zeichen, dass ein Versprechen gilt, wird abgelöst durch die kalte Münze des Gelds und der formalisierten hochtechnischen Verfahren, über die sich im Zweifelsfall die Erfüllung des Versprechens einklagen lässt.“

Probst folgert daraus, dass es zwei Formen der Verbindlichkeit geben müsse – die eine, die auf einem Vertrag beruhe und die andere, die auf Vertrauen beruhe.

Um einmal meine Vorstellung von einer vertrauensbasierten, liebevollen Verlässlichkeit in Augenschein zu nehmen, greife ich hier auf die Beziehung zu meinem Schwiegervater zurück und schließe diese erste Würdigung der Anstrengung des Begriffs durch Maximilian Probst mit einem entsprechenden Beispiel für gelebte Verbindlichkeit in ihrer warmen Variante ab. Danach werde ich Maximilian Probst weiter begleiten durch seine Wanderungen im Moderne-Massiv:

Wie ich lernte zu wollen, was ich soll (Kapitel 23 aus Kurz vor Schluss II)

Ich habe gelernt, dass Sollensvorstellungen immer zusammenhängen mit Erwartungen, die jemand an uns richtet. Mir hilft es zunächst einmal ein wenig abstrakter anzunehmen, dass das Leben Erwartungen an uns alle richtet. Dass die Eltern den Kindern das Leben geben, hört sich zunächst einmal trivial an – Bert Hellinger spricht vom Geben und Nehmen des Lebens. Geht ein Leben seinen geordneten Gang, kann man sagen, dass aller Anfang sich so zuträgt, dass die Eltern geben und die Kinder nehmen. Dazu gehört wohl die Einsicht, dass die Eltern sich den Kindern so geben, wie sie sind. Und die Schlussfolgerung, die ebenso so trivial daherkommt, meint, dass die Kinder die Eltern dementsprechend nur nehmen können, wie sie sind. Sie können dem weder etwas hinzufügen noch etwas weglassen oder etwas davon zurückweisen. Vermutlich machen diese Schlussfolgerungen Bert Hellinger in den Augen emanzipierter, aufgeklärter Menschen so schwer verdaulich. Es wird sogar noch heftiger, wenn Hellinger meint, das ganze habe eine besondere Qualität, weil die Kinder die Eltern nicht nur haben,

„sie sind ihre Eltern. Die Eltern geben ihren Kindern, was sie selbst vorher von ihren Eltern genommen haben, und auch von dem, was sie vorher als Paar, der eine vom anderen, nahmen. Zusätzlich zum Geben des Lebens sorgen die Eltern noch für ihre Kinder. Dadurch entsteht zwischen Eltern und Kindern ein riesiges Gefälle von Nehmen und Geben, das die Kinder, selbst wenn sie es wollten, nicht ausgleichen können.“

In diesem Jahr (2022) habe ich meinen siebzigsten Geburtstag gefeiert. Mein Vater ist 1988, meine Mutter 2003, mein Schwiegervater 2010 und meine Schwiegermutter 2020 gestorben. Die Sorge und das Sorgen für die alten (Schwieger-)Eltern haben die letzten zwanzig Jahre nahezu vollständig geprägt. In Zweierlei Glück – in Gunthard Webers Dokumentation der Arbeit Bert Hellingers (Carl Auer-Verlag, Heidelberg 1997) – steht der Satz, dass das Kind für seine alten Eltern sorgt, wenn sie in Not und alt sind:

„Das letzte ist etwas ganz Wichtiges für den Abschied: Die Eltern können das Kind ziehen lassen, wenn das Kind ihnen versichert, dass es für die Eltern da ist, wenn sie es brauchen.“

Motiv und Motivation liegen vordergründig betrachtet auf der Hand. In der Konfrontation mit den alten Eltern liegt eine große Herausforderung. Die besteht offenkundig darin nicht als Kind zu reagieren, sondern als Erwachsener, der das macht – wie Weber und Hellinger betonen –, was richtig ist. Es erfordere einen Bewusstseinswandel. Hier gewinnt dann Maximilian Probsts Vorstellung von Verbindlichkeit mit dem handlungsleitenden Motiv der Verlässlichkeit seine Ankerfunktion. Denn dann lässt sich das, was richtig ist, auch tun; zuletzt und nach meinen Eindrücken allumfassend – hat sich dieser Bewusstseinswandel in mir mit dem Begleiten meiner Mutter in ihren letzten Lebensmonaten von Februar bis Juli 2003 vollzogen.

Da der Aufforderungscharakter des Wollens allein, d.h. das bloße Erheben eines selbstadressierten Sollens- und Veränderungsanspruchs, keineswegs automatisch zu motivationaler Wirksamkeit führt, bleibt zu überlegen, wie eine solche Wirksamkeit in erreichbare Nähe rückt und nicht nur dazu führt, dass ich auf diese Aufforderung irgendwie reagiere, indem ich ihr entweder nachkomme oder eben nicht. In meinem Fall liegen die Dinge klar – auch im intergenerativen Zusammenhang handelt es sich um Menschen, die sich jederzeit aufeinander verlassen konnten:

Alles, was mir meine Eltern gegeben haben, die Art und Weise, wie sie für mich gesorgt haben, kommen aus einem Füllhorn. Und da ist es wohl so, dass Kinder das damit entstehende Gefälle von Nehmen und Geben nicht ausgleichen können, selbst wenn sie es wollten. Wie leicht hingegen war ein Ausgleich von Nehmen und Geben meinen Schwiegereltern gegenüber. Hier erst zeigte sich in einem vollen Umfang, dass ich aus vollem Herzen wollen konnte, was ich sollen durfte. Mein über die Maßen privilegiertes Leben in materieller Hinsicht verdanke ich zu wesentlichen Anteilen meinen Schwiegereltern, die mir im Übrigen auch in allen anderen Lebenslagen – trotz meiner Abdrift 1997 – gewogen blieben.

Erzählenswert bleibt die Abschiedsreise mit meinem Schwiegervater 2003 in seine Heimat. Diese Reise in die Vergangenheit beinhaltete alle im Alter von 79 Jahren noch möglichen Köstlichkeiten, eingewoben in einen schmerzensreichen Abschied von Kindheit, Jugend und Alter – entscheidend ermöglicht durch die Verlässlichkeit, die der Schwiegersohn dem Schwiegervater gegenüber wie selbstverständlich offenbarte:

Im September 2003 – wenige Monate nach dem Tod meiner Mutter – bat mein Schwiegervater, Leo, mich darum, ihn auf einer Reise in seine alte Heimat an den Bodensee zu begleiten; rund 450 Kilometer entfernt von Koblenz. In Ittendorf – etwa 8 Kilometer nördlich von Meersburg im Hinterland gelegen – hatte er Kindheit und Jugend verbracht. Er und seine Geschwister – der ältere Bruder Ernst und die ältere Schwester Klärle – waren früh Halbwaisen geworden. Der Vater starb Ende der zwanziger Jahre und hatte mit Leonie noch eine Halbschwester hinterlassen. Nach seinen Schilderungen war Leo ein äußerst aufgewecktes, umtriebiges Kind. Seine eigenen Erzählungen erinnerten immer an die Lausbubengeschichten von Ludwig Thoma. Selbst wenn man gewaltige Abstriche vornimmt, verfestigt sich ein Eindruck, für den allein schon deshalb Vieles spricht, weil sich ganz offenkundig eine starke Kontinuitätslinie von der Kindheit bis ins hohe Erwachsenenalter offenbart. Sein Habitus als Bodenseeschwabe, gepaart mit unbändiger Lebenslust und dem, was man den Schalk im Nacken nennt – eine verschmitzte Art, die sich mit Schnelligkeit im Denken und Handeln paarte, macht ihn unter den behäbigen Rheinländern und Moselanern zu einer in jeder Hinsicht zu einem Solitär. Nimmt man nun die rosarote Brille ab, dann zeigt sich freilich auch ein bauernschlauer, knochiger Lebenskünstler, der nie (!) – bei allem was er tat, plante und ins Werk setzte – den eigenen Vorteil oder den Vorteil der ihm Nahen aus dem Blick verlor. Seine self-made-Qualitäten habe ich in Kapitel (8) bereits hervorgehoben. Diese außergewöhnlichen Eigenschaften gründen wohl in den Umständen einer Kindheit auf dem Land – ohne Vater – und dem früh ausgebildeten, unbändigen Willen, das Beste und Extremste aus sich herauszuholen. Davon zeugen so viele objektive, faktisch nachvollziehbare Mosaiksteine, deren bedeutsamster wohl darin aufscheint, eine Lehre zum Maschinenschlosser bei Maybach zu absolvieren. Kaum vorstellbar, unter welchen Umständen Leo dieses Vorhaben bis zum Gesellenbrief realisierte: Jeden einzelnen Tag seiner Ausbildung fuhr er mit dem Fahrrad von Ittendorf nach Friedrichshafen – 17 Kilometer hin und 17 Kilometer zurück. Leo hat sich 1942 freiwillig zur Wehrmacht gemeldet. Ähnlich wie Heinz Otto Fausten hat er diesen Schritt damit begründet, sich dadurch die Waffengattung aussuchen zu können und – nebenbei – habe die Annahme eine Rolle gespielt, der Krieg stehe unmittelbar vor seinem erfolgreichen Ende. Die Kalkulation ging nicht auf; mehr noch wurden viele Angehörige der Luftwaffe zuletzt – nachdem der Flugbetrieb aufgrund von Spritmangel fast zum Erliegen kam – ihren Dienst bei der Infanterie aufnehmen – so auch Leo. Er wurde von Oktober an in den erbitterten Kämpfen im Hürtgenwald schwerstverwundet. Nach seinen Schilderungen verlor er als Zugführer alle seine Leute durch kanadische Scharfschützen. Sein eigenes Überleben verdanke er lediglich – nach eigenem Bekunden – einem intuitiven, ruckartigen Herumreißen des Oberkörpers, so dass der seinem Kopf geltende Schuss seine rechte Schulter zertrümmerte. Leo gelang es, sich bis zu den eigenen Linien zurückzuschleppen; ihm drohte zunächst die standrechtliche Erschießung wegen wehrkraftzersetzender Aufgabe von Positionen – außerdem habe er keinen seiner Leute zurückgebracht. Die Intervention seines Kompaniechefs wendete das Blatt. Aufgrund der schweren Verwundung wurde Leo in das Lazarett Nordhausen/Thüringen verlegt. Diese Geschichte erwähne ich, weil ein weiterer entscheidender Mosaikstein in Leos Selbstbild damit zusammenhängt, dass seine Schwester Klärle seine Verlegung von dort nach Ravensburg erreicht hat. Er wurde von einem Spezialisten erfolgreich operiert, so dass das rechte Schultergelenk – zwar mit erheblichen motorischen Einschränkungen – erhalten werden konnte (Leos Kriegsversehrtenausweis liegt mir vor).

Mein Schwiegervater ging gar so weit anzunehmen, dass er seiner Schwester, die er als braune Schwester bezeichnete (sie hatte Karriere bei den sogenannten braunen Schwestern gemacht) sein Leben verdankte (in Thüringen wäre er unter Umständen in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten und hätte dies mit Blick auf seine Verwundung gewiss nicht überlebt).

Die Tatsache, dass Leo die geliebte Heimat verlassen musste, hängt nun wiederum mit einem anderen markanten Mosaikstein seiner Biografie zusammen. Leo bestand nach Kriegsende und Genesung die Aufnahmeprüfung am Konstanzer Technikum und beendete dort 1949 eine Ausbildung zum Maschinenbauingenieur. Zweifellos hätte er am See auch beruflich Fuß fassen können, hätten ihn private Turbulenzen nicht zur Flucht ins Rheinland gezwungen. Angeblich ging die Schwangerschaft einer Ittendorferin (mit zweifelhaftem Ruf) auf sein Konto. Da sich dies seinerseits nicht wirklich entkräften ließ, musste er vom See weg. Seine Mutter (und seine Schwester) rieten/drängten ihn zu dieser Flucht, die ihn nach Koblenz zu einem Bruder seiner Mutter führte. Hier beginnt nun das zweite oder dritte Leben Leos, das schließlich mit der Eroberung meiner Schwiegermutter einen ersten Höhepunkt erfuhr; die beiden heirateten am 21. Februar 1952, an dem Tag, an dem ich selbst das Licht der Welt erblickte. Manch einer könnte dabei an Vorsehung denken.

Dieser schnelle Parforce-Ritt durch Leos Frühgeschichte ist unentbehrlich, will man nun unsere Abschiedsreise im Jahr 2003 verstehen: Leo zeigte bereits erste Anzeichen einer beginnenden Demenz. Ein ärztlicher Kurzbericht aus dem Januar 2001 – erstellt im Krankenhaus der Stadt Bludenz vom behandelnden Arzt und Leiter der „Internen Abteilung“, Dr. Striberski – spricht von „hochgradiger V.a. li.-hirnige TIA mit passagerer Dysphasie – hypertensive Encephalopathie bei arterieller Hypertonie“! Im Klartext ging es damals – bei Leos letzter alpiner Exkursion am Arlberg schon um signifikante Durchblutungsstörungen des Gehirns mit neurologischen Ausfallerscheinungen; Hintergrund war jahrelange Vorschädigung durch Bluthochdruck. Was hier Dysphasie heißt, bedeutet eine Störung bei der Sprachverarbeitung, die mit Beeinträchtigungen der Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses oder anderer geistiger Fähigkeiten zusammenhängt. Als abschließendes Procedere steht in diesem Kurzbericht: „Dringend weitere neurologische Abklärung mit EEG und eventl. MRT. Bis zur endgültigen Abklärung Lenken eines KFZ, gefährliche Tätigkeiten etc. verboten.“ All dies wird sich auf unserer Abschiedsreise auf mehr oder weniger eindeutige und beklemmende Weise zeigen.

Gemeinsam mit Leo habe ich viele Stunden zu zweit bei Urlaubsfahrten oder auch anders motivierten Reiseaktivitäten verbracht. Die früheste diesbezügliche Erinnerung rühren aus den Jahren 1992 bis 1996. Legendär war unsere Tour nach Zürs bzw. Stuben. Claudia, seine Tochter, erwarb ihre Ski-Lehrerinnen-Lizenz. Leo musste das aus der Nähe beobachten und sorgte dafür, dass ich als relativer Ski-Anfänger meine Feuertaufe am Arlberg erfuhr – von morgens bis abends (am Abend die letzte Liftfahrt, um dann tatsächlich als allerletzte die Albona schon in der Schattenlage und schon wieder vereisend zu bewältigen). Hier stieß Leo an seine physischen Grenzen und entschloss sich noch im selben Jahr zu einer ersten Hüftgelenksprothese an der renommierten Endo-Klinik in Hamburg. Bei all diesen Touren an den Arlberg, nach Hamburg war ich Zuhörer. Ich hörte Leos Geschichten zum wiederholten Mal – immer verbunden mit leichten Variationen, aber einem festen unverbrüchlichen Kern. Ich hörte aufmerksam und sehr genau zu, so dass Leos Skript sich mit seinen Essentials und Kernbotschaften tief in meinen Erinnerungsvorrat einkerbten. Die mehr als fünf Stunden auf der Fahrt nach Ittendorf verbrachten wir mehrheitlich schweigend, Leo auch teils schlafend. Wir hatten uns im einzigen, gleichwohl alteingesessenen und gediegenen Landgasthof „Adler“ eingemietet. Der „Adler“ bildete in einem Quadrat – an der Hauptstraße gelegen – das Eckhaus. Diagonal, etwa 100 Meter Luftlinie entfernt, steht/stand Leos Elternhaus. Er entstammte einer bäuerlichen Kleinwirtschaft. Nach seinem Weggang aus Ittendorf hatte seine Schwester den Hof übernommen und nach ihrer Heirat mit Emil Lang bis zu ihrem Tod 2001/02 (?) bewirtschaftet. Mit derselben Schwester, der Leo – nach eigenem Bekunden – sein Leben verdankte, hatte er sich im Zuge von Erbauseinandersetzungen und der Frage nach dem Verbleib der Mutter im Alter heillos zerstritten. Auf seine Veranlassung und Bitte der Mutter verfügte er 1971 die Übersiedlung der Mutter in ein Altersheim in der Nähe – nach Wespach. Diese im Einvernehmen mit der Mutter, aber letztlich einseitig herbeigeführte Entscheidung führte zu einem erbitterten und letztlich unversöhnlichen Streit der beiden Geschwister. Hintergrund waren exakt dieselben Überlegungen und Vorbehalte, wie ich sie im Zusammenhang mit meinen Beobachtungen in der mir in den siebziger Jahren zuwachsenden Beinahe-Schwiegerfamilie in Kapitel 5 beschrieben habe. Eine spießbürgerliche, erzkatholisch unterfütterte Enge ließ auch gegenüber einer vollkommen zerrütteten und (für die Mutter nach eigenem Bekunden immer unerträglicher werdenden Zwangsarrangement auf dem eigenen Hof keine Alternative. Jenseits der Frage nach Wohlergehen und Wohlsein der Beteiligten beanspruchte der äußere Schein nach einer vorgeblich heilen und verantwortungsvollen Fürsorge der Mutter gegenüber – selbstverständlich in den eigenen vier Wänden – absoluten Vorrang. Leo wurde von seiner Schwester und ihrem Ehemann, der über viele Jahrzehnte als Ortsvorsteher die Geschicke der Gemeinde verantwortete, eine unerträgliche Bloßstellung der Familie vorgehalten. Erste die dritte Generation – die Kinder der Kontrahenten – versuchten innerhalb der Familie wieder einen Frieden zu finden und zu begründen.

Leo hatte 2003 noch einen besten Freund in Ittendorf, den wenige Jahre älteren Edi Widemann, einer der vielen Apfelkönige vom Bodensee. Die Reise trug durchaus noch seine planerische Handschrift. Leo überließ ungern etwas dem Zufall und hatte für den Nachmittag unseres Ankunftstages ein Treffen bei den Widemanns (Edi und Priska) vereinbart. Bevor wir zu den Wiedmanns fuhren, die einen Aussiedlerhof mitten in den Apfelplantagen auf dem Weg von Ittendorf nach Immenstad bewohnten, musste ich Leo gewissermaßen ums Eck fahren; im engeren Sinne vom Adler aus am Schloss vorbei, dann links abbiegend am Haus seines Neffen Bernd vorbei. Das Annegärtle, das Leo versprochen war, war – wie das gesamte Erbe an seine Schwester gefallen. So hatte Bernd irgendwann sein Haus auf’s Annegärtle gebaut, hatte geheiratet, drei Kinder bekommen, zeitweise am Rad gedreht, vielleicht weil die Erbgänge irgendwie doch quer saßen. Leo hatte seiner Mutter zuliebe die Salamitaktik seiner Schwester hingenommen und Scheibe für Scheibe den Erbverzicht ausgesprochen. All dies gewann noch einmal besondere Brisanz, als Leo seine Mutter in der Nähe von Salem (in Wespach) in einem Altenheim unterbrachte, wo sie immerhin von 1971 bis 1976 – ihrem Sterbejahr – gelebt hat. In all diesen Jahren hat aus der Familie Lang niemand die (Schwieger-)Mutter oder die Oma auch nur noch einmal besucht. Sie starb völlig vereinsamt – von allen verlassen - im Altenheim, und auch nach ihrem Tod fanden die Geschwister – Klärle und Leo – nicht die Kraft zur Versöhnung. Die letzte Chance blieb ungenutzt als Klärle ihren Bruder samt Familie zu einer Feier einlud. Leo hatte die Zimmer im Adler bereits reserviert, dann aber – als ihn offensichtlich der Mut verließ – wieder storniert.

All dies mag Leo möglicherweise erinnert haben. Er weigerte sich stur und konsequent aus dem Auto auszusteigen, das Elternhaus in Sichtweite – dort lebte sein Schwager Emil noch bis ins hohe Alter von 97 Jahren; er ist 2015 verstorben. Ittendorf bedeutete für Leo offensichtlich verbrannte Erde. Frei atmen konnte er erst, als wir am Kaffeetisch bei seinen ältesten Freunden, den Widemanns, auf dem Hundweilerhof saßen. Auf dem Weg dorthin musste ich auf einer Anhöhe anhalten. Wir stiegen aus. Wir sahen den See und am Horizont die Berge. Leo war für seine Art ungewohnt still. Auch beim Kaffee und schließlich bei Heinzlers in Immenstad – das waren ja alles Heimspiele – blieb den Gastgebern nicht verborgen, wie sehr sich Leo verändert hatte. Auch ich selbst hatte in den letzten 25 Jahren meinen Schwiegervater immer als Dominator erlebt; ob kleine oder große Gesellschaft – zu seiner Lebendigkeit und Präsenz gab es selten ein Pendant auf Augenhöhe. Seine Art war nicht nur dominierend, sie war in der Regel auch mitreißend und unterhaltend. Seine Frau hat immer wieder betont, dass er unter all den Vielen, die ihr den Hof gemacht haben, vom ersten Tag an nie Langeweile hat aufkommen lassen, er hat mit seinem Humor und seiner Beredsamkeit all anderen aus dem Feld geschlagen (legendär – seine Geschichte, wonach er bei der allerersten Einladung gebetet hat, Lisa möge nicht mehr als ein Glas Wein trinken, für zweie habe er kein Geld gehabt – seine Ängste waren unnötig, Lisa hat immer nur ein Glas getrunken!).

In der Nacht (im Adler) müssen Leo Albträume gequält haben, er wirkte verwirrt und orientierungslos – seine Lebenszeitalter bedrängten ihn vermutlich in einem heillosen Durcheinander. Auf dem WC unterlief ihm ein Malheur; er war schwer zu beruhigen und fand kaum in einen heilsamen und beruhigenden Schlaf. Wohl wissend, dass er sich seiner Tochter in diesem Zustand nicht hätte zumuten können, bestand er wohl auf meiner Begleitung. Anderntags kehrten wir Ittendorf den Rücken. Unweit war aber ein fester Haltepunkt vorgesehen, der mich einigermaßen verwunderte. Zwar wusste ich aus Leos Erzählungen, dass er als Chefmessdiener eine mehr als fragwürdige Karriere absolviert hatte, dass er aber darauf drängte Station an der Birnau zu machen, gehört zu den nachhaltigsten Erinnerung an unsere Bodenseetour. Die Wallfahrtskirche Birnau ist eine an der oberschwäbischen Barockstraße gelegene Barockkirche. Die beeindruckt durch ihre barocke Ausstattung – vor allem mit Fresken, Stuckaturen und Skulpturen, deren bekannteste der sogenannte Honigschlecker ist; eine Putte, die recht verschmitzt dreinschaut und ihren honigbedeckten Finger zum Mund führt. Leo führte mich zu diesem Wonneengel und zeigte auf ihn mit den Worten: „Das ist mein Schutzengel, der hat mir den Weg durchs Leben gewiesen und mich auf all meinen Wegen begleitet.“ Ich registrierte diesen Hinweis mit Humor und nahm ihn als eine typische Geste meines Schwiegervaters. Als er sich dann in eine Bank in die Nähe des Altars setzte und seinen Tränen freien Lauf ließ, wurde mir überdeutlich, wie ernst er dies wohl meinte und wie sehr ihm diese Begegnung als die Quersumme seines Lebens vorkommen musste. Heute würde man wohl von einem zentralen Skript oder einem beherrschenden Narrativ sprechen, in dem die Bilanz eines Lebens auf den Punkt kommt. Leo hatte seine Heimat verlassen müssen und hatte sich Heimat in der Fremde geschaffen. Die Rückkehr an den Ort seiner Kindheit und Jugend musste ihm final und irreversibel vorkommen; ein Abschied für alle Zeiten – und vor allem, Zeit sich auf den Heimweg zu machen.

Die sechseinhalb Jahre, die ihm noch blieben, führten in das schon beschriebene tiefe Tal des (Selbst-)Vergessens (siehe Demenztagebuch). Um noch einmal an das zentrale Ausgangsmotiv anzuknüpfen: Wie ich lernte zu wollen, was ich soll – die Willensfreiheit in den nun kommenden sechseinhalb Jahren das zu tun, was ich tun würde, basierte immer auf der Idee des Anderskönnens (siehe dazu: Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln, Frankfurt 2001, S. 430): Ich hätte auch anders handeln können. Ein zweites Moment beruhte auf der Idee, aus guten Gründen, nicht aber aus Zwängen zu handeln. Das dritte Moment ist mir heute am wichtigsten, insofern ich die Urheberschaft für mein Handeln beanspruche; selbst da noch, wo äußere Faktoren und Bedrängnisse mich unter Umständen eines Besseren hätten belehren können (siehe Kapitel 20a).

Mein Handeln vermag ich mit Hilfe der Unterscheidungen von Maximilian Probst mühelos einzuordnen in einen Begriff von Verbindlichkeit, bei dem man weiß, worauf man sich verlassen kann. Ich schließe mich seinem Plädoyer für eine unzeitgemäße Tugend an.