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Andreas Kruse: Wann bin ich alt?

Andreas Kruse wird in der ZEIT (15/23) als einer der bedeutendsten Altersforscher Deutschlands vorgestellt. Unter dem Titel Wann bin ich alt, Herr Kruse? befragen ihn Anant Agarwala und Jeanette Otto.

Seine erste Antwort darauf lautet: „Sie werden dann von sich sagen, Sie sind alt, wenn sie körperlich, seelisch und geistig große Verluste erleben.“

V E R L U S T - Erfahrung als Maßstab für subjektives Gewahrwerden von Alter. Das gibt Sinn. Wie antwortet der erfahrene 67jährige Wissenschaftler auf die Frage, wie alt er sich fühlt?

„Ich fühle mich so alt, wie ich bin. Aber man muss aufpassen: Wir haben ein körperliches, ein geistiges, ein seelisches und vielleicht so etwas wie ein existentielles Alter. Mein Körper ist noch leistungsfähig. Auch mein Geist. Und bei meinen Emotionen erkenne ich, dass sie sich differenzieren und irgendwie tiefer werden, ich verstehe sie besser.“

Anant Agarwala (33) und Jeanette Otto (Mitte 50?) agieren vorsichtig in ihrer Fragehaltung – sie können ja noch nicht mitreden: „Wir haben gelesen, das Menschen ab etwa 63 Jahren von sich sagen, langsam alt zu werden, aber erst mit 85 das Gefühl haben, richtig alt zu sein.“

Andreas Kruse verweist auf den engen Zusammenhang von Psyche und Gesundheit. Dabei geht er seriöser Weise nicht so weit zu behaupten, allein das Gefühl entscheide, nicht die Biologie. Entscheidend wirken psychosomatische Wechselwirkungen – Kruse spricht von Psychosomatik pur – häufig dann, wenn Menschen zu der Erkenntnis gelangen, nicht mehr gebraucht zu werden. Er zitiert die amerikanische Psychologin Becca Levy, die herausgefunden habe will, wie bedeutsam die  E I N S T E L L U N G  zum eigenen Alter ist: „Wenn du von dir glaubst, nichts Positives mehr bewirken zu können, geht es körperlich bergab.“

Schlüsselerfahrungen und wichtige Erkenntnisse – berichtet Kruse – habe er aus der intensiven Beschäftigung mit an Demenz Erkrankten gewonnen. Da erfahre man viel über psychologische Konstrukte wie Geist oder Emotion – so zum Beispiel:

„Dieses Selbst, das uns treibt und leitet, ist bei Demenzkranken nicht mehr so vorhanden. Aber wenn man viel Zeit mit ihnen verbringt, ihnen Musik vorspielt oder Filmausschnitte zeigt (Fotos reichen auch, FJWR), dann entdeckt man, dass dieses Selbst inselförmig doch noch da ist. Und es wird klar: Der Geist ist doch ein bisschen mehr als nur das Denken.“

Gleichwohl räumt Andreas Kruse ein, dass sich in der Auseinandersetzung mit Demenz etwas herauskristallisiere, das in unserer Gesellschaft als Zumutung empfunden werde:

„Kontrollverlust. Demenzkranke stehen in der öffentlichen Wahrnehmung für den Gegensatz dessen, was wir wertschätzen: Autonomie, Effektivität, Leistungsfähigkeit.“

Für uns älter Werdende mag es vielleicht ein wenig tröstlich klingen, wenn Kruse darauf hinweist, dass im neunten Lebensjahrzehnt etwa 15% der Menschen betroffen seien – und: „Der Schweregrad ihrer Demenz ist sehr unterschiedlich.“ Der Hinweis, dass sie ganz anders ausgehalten werden könne, wenn nur die entsprechenden Bedingungen in der Pflege geschaffen würden, klingt angesichts des zunehmenden Pflegenotstands allerdings nicht sehr realitätsbewusst.

Vielleicht resultiert aus folgenden Empfehlungen nicht nur Trost, sondern möglicherweise wirken sie allein durch ihren schlichten Aufforderungscharakter (auch wenn sie nun wirklich nichts Neues präsentieren):

„Körperliche Bewegung ist bedeutsam, das ideale Aktivitätsniveau zu finden, mit dem der alternde Mensch mobil und selbstständig bleiben kann. Diese Art der Aktivierung ist auch für die Hirnfunktion wichtig. Wir haben eben nicht nur Nervenzellen, sondern auch Gefäße, denen körperliche Aktivität besonders guttut. Das Zweite wäre das Kognitive – und das dritte ist die Kernvariable für mich: die open-mindedness, geistig, emotional und spirituell offen zu sein. Neue Erfahrungen machen, sich Herausforderungen stellen. Halte deine Seele immer jung, das hat schon der Theologe Meister Eckhart im 13. Jahrhundert gesagt.“

Andreas Kruse lässt keinen Zweifel daran, dass die allenthalben beobachtbare einseitige Betonung körperlicher Fitness in die Irre geht, zumindest dann – wie er meint –, wenn darüber die sozialen, seelischen, vielleicht auch spirituellen Bedürfnisse vergessen würden:

„Wer nicht erkennt, wie wichtig es ist, in soziale Beziehungen zu investieren, hat es schwer. Es ist ungemein gefährlich, im Alter auf sich selbst zurückgeworfen zu sein und zu vereinsamen.“

Kurz vor Schluss rückt das Lebensende in den Blick. Anant Agarwala und Jeanette Otto möchten gerne wissen, ob sich ganz am Lebensende auch noch Dinge bewältigen lassen, die das Leben stark gezeichnet haben. Kruse meint, dazu brauche es ein Gegenüber – der Mensch braucht ein Gegenüber:

„Alleine schafft man das nicht …] Es braucht eine viel konkretere Auseinandersetzung. Denn die schweren Themen können im Alter durchaus noch mal wirkmächtig werden. Gerade traumatische Erinnerungen werden vom Gehirn oft abgespalten, das hilft beim Weiterleben. Aber irgendwann dringen sie wieder ins Bewusstsein, in Träumen, Tagträumen, kreisenden Gedanken. Wir sprechen in der Altersforschung von ‚Storys‘, die noch nicht fertig sind.“

Deshalb müssen sie immer wieder erzählt werden? Kruse bejaht das – allein schon aus alltäglicher Beobachtung und Erfahrung. Ob es dabei auch darum gehe, Mit-sich-ins-Reine-zu-Kommen – möchten Anant Agarwala und Jeanette Otto Kurz vor Schluss gerne wissen? Andreas Kruse antwortet kurz und knapp, aber eindeutig:

„Ich werde skeptisch, wenn jemand sagt, ich bin ganz im Reinen mit mir. Es kann am Ende auch noch mal stark darum gehen, sich als Menschen zu begreifen, der Fehler begangen hat.“

Die allerletzte Frage – sozusagen Ganz zum Schluss – zeugt ein wenig von unser aller Hilflosigkeit im Umgang mit dem Unausweichlichen – ob das Altsein helfe, besser mit dem Tod klarzukommen? Kruse meint, es helfe dabei, wenn man das Altwerden als Biomorphose begreife:

„Also wenn man sich darauf einstellt, dass es einhergeht mit dem Abschied von einer bisher vertrauten Körperlichkeit, eine Vorstufe, die anzeigt, dass man langsam aus dem Leben geht.“ Das Mehr an Jahren gebe einem ein Mehr an Möglichkeiten, sich auf den Tod vorzubereiten. Dazu müsse man diese Konfrontation aber auch zulassen.

Ausführlicher und weit umfassender haben sich mit diesen Fragen Fulbert Steffensky oder auch Friedmann Schulz von Thun auseinandergesetzt. Kann es so etwas geben, wie ein Erfülltes Leben, bei dem letztlich auch der Tod nicht alles mit dem Verdikt des Sinnlosen hinweg wischt?