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Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit I (hier Teil II)

Ich entnehme Achim Landwehr: Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit (S. Fischer – Frankfurt am Main 2016) lediglich einige wenige Sequenzen, um der anwesenden Abwesenheit jene Realitätsmacht zu verleihen, die sich gleichzeitig wieder auflöst in eine feinstofflich nicht greifbare und relational nicht auflösbare Komplexität. Was läge mir näher als dies zu verdeutlichen am Beispiel des 21. Juni 1994? Allein die Tatsache, dass ein mir nicht verwandtschaftlich oder wahlverwandtschaftlich verbundener Zeitgenosse männlicher, weiblicher oder weißgottwelcher Provinienz partout nicht in der Lage sein wird, den 21. Juni 1994 mit meinem Leben in Verbindung zu bringen (weil er ja nichts über mich weiß), zeigt gleichermaßen die Willkürlichkeit und die – im gegebenen Fall – ungeheure Mächtigkeit von Ereignissen, weiß man sie nur angemessen zu verknüpfen. Oder wie Landwehr meint, „wir sind ebenso das Produkt früherer Verhältnisse wie die Beschreibung früherer Verhältnisse unser Produkt ist (S. 159).“ Achim Landwehr zitiert Heinrich Heine:

„Es ist ein doppelt nützliches Geschäft, da, indem man die Gegenwart durch die Vergangenheit zu erklären sucht, zu gleicher Zeit offenbar wird, wie diese, die Vergangenheit, erst durch jene, die Gegenwart, ihr eigentlichstes Verständnis findet, und jeder neue Tag ein neues Licht auf sie wirft, wovon unsere bisherigen Handlungsschreiber keine Ahnung hatten.“ (ebd.)

Im Sinne der Heisenbergschen Unschärferelation oder der nach konstruktivistischen Annahmen unmöglichen Subjekt-Objekt-Trennung übersetzt Achim Landwehr dieses Geschäft als nicht nur reziprokes Phänomen, sondern er geht davon aus, „dass sich das Objekt der Beschreibung und die Beschreibung des Objekts nicht voneinander trennen lassen“. Dieter Lenzen hat es in Anlehnung an Niklas Luhmann einmal so formuliert, dass jede Repräsentation der Außenwelt immer nur und unaufhebbarer Weise eine bestimmte Form der Selbstrepräsentation sein könne.

Begriffliche Erläuterung: Achim Landwehr führt den Begriff der Chronoferenz ein: „Als Kernstück meiner Argumentation hebe ich daher die Chronoferenz als diejenige Relationierung hervor, mit der anwesende und abwesende Zeiten gekoppelt, Vergangenheiten und Zukünfte mit Gegenwarten verknüpft werden können (S. 28).“

Achim Landwehr deklariert seine Überlegungen als Essay zur Geschichtstheorie. Bei seinen Bemühungen uns den Begriff der Chronoferenz nahezubringen, greift er zu einem Analogieschluss, der in der Geschichtswissenschaft eher unüblich erscheint. Er fragt, warum in die Ferne historischer Ereignisse schweifen, „wenn die Chronoferenzen doch so nahe liegen, ja, in uns allen vorzufinden sind“:

„Der Lebenslauf jeder und jedes Einzelnen zeigt bereits, was mit diesen Chronoferenzen auf sich hat. Denn dass sich Lebensläufe und Biographien in das hübsch geordnete Korsett der Uhren- und Kalenderzeit einordnen lassen, ist nur eine mögliche Erzählweise entsprechender Geschichten (S. 164).“

Ein lineares Zeit- und Geschichtsmodell erscheine uns überaus plausibel, weil wir es wortwörtlich und tagtäglich am eigenen Leibe erführen. Wir alle altern und wir werden sterben. Dies sei der Grund, dass wir dieses biologisch lineare Leben eben auch im Nachhinein – im Rückblick – linear erzählen. Andererseits steht für Landwehr außer Frage, dass der Mensch nicht

„streng chronologisch nur von einem Jetzt zum nächsten Jetzt existiert […] Ich mache mir im jetzigen Jetzt vielmehr Gedanken über die kommenden Stunden und Tage, versuche ein Leben gar auf Jahre hinaus zu organisieren, mache mir Gedanken über die Zukunft meiner Kinder, blicke gleichzeitig auf meine eigene Kindheit zurück und ertappe mich dabei, Geschichten aus meinem früheren Leben zum wiederholten Mal (wenn auch in immer leicht variierter Fassung) zum Besten zu geben S. 164f.).“

Das erscheine schon allein deshalb nicht trivial, weil dadurch erheblich weiter reichende Formen der Relationierung von anwesenden auf abwesende Zeiten in Erscheinung träten:

„Wenn ich über einen Friedhof spaziere und dort meinen eigenen Grabstein imaginiere, wenn ich ein Foto meines verstorbenen Vaters ansehe, zu einer Zeit, als ich noch überhaupt nicht geboren war, dann ist das nicht viel mehr als eine leise Andeutung der chronoferentiellen Ketten, mit denen diverse Zeiten in einem Hier und Jetzt zusammengezogen werden können. Der Tod erweist sich nicht nur als Ende des Lebens und der Zeit, sondern auch als möglicher Dreh- und Angelpunkt von Chronoferenzen (S. 165).“

 

Der 21. Juni 1994 als Dreh- und Angelpunkt; oder – um es mit Niklas Luhmann zu sagen – als Wendepunkt, an dem etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen.

Anders als der 16. Juni 1904, an dem James Joyce mit seinem Ulysses eine Orgie der Alltäglichkeit inszeniert, die bis heute in der Welt der Literatur nachhallt, bedeutet der 21. Juni 1994 (Chronos geschuldet 90 Jahre und 5 Tage später) für wenige, handverlesene Menschen eine Orgie des Schreckens, die aber – chronoferentiell betrachtet – zu unterschiedlichsten zeitlichen Referenzpunkten Unterschiedlichstes bedeutet. Es lässt sich zeigen, dass sich Lebensläufe und Biographien nicht in ein hübsch geordnetes Korsett der Uhren- und Kalenderzeit einordnen lassen. Ähnlich wie James Joyce handelt es sich um eine schimärenhafte Anwesenheit der Abwesenheit, deren Realitätsmacht changiert, übermächtig wird und sich gleichzeitig auflöst in eine nicht wirklich greifbare, relational diffuse Komplexität. In seiner Folge entstehen programmatische Sätze wie: Der Tag, an dem (m)ein Leben aufhörte, der Tag an dem mein Leben begann - Ende und Anfang – ‚Du bist tot, ich lebe noch ein bisschen, dann komm ich auch‘. Oder beiläufig geäußerte Statments einer nun erwachsenen Tochter mit Blick auf den toten Vater wie: Warum sollte ich auf den Friedhof gehen – ich kannte diesen Mann doch gar nicht!

Es ist nun gerade eben diese Tochter, die Achim Landwehrs Idee der Chronoferenzen zumindest in mein Erleben und in mein Bewusstsein katapultiert mit all den von ihm angedeuteten Konsequenzen: Eine bei mir zu beobachtende Neigung, Geschichten aus meinem früheren Leben zum wiederholten und wiederholten Mal zu erzählen, offenbart nicht nur leicht variierende Fassungen, sondern einen Wandel in fundamentaler Hinsicht: Der Blick verändert sich, und die Auseinandersetzung mit den Geschehnissen am 21. Juni 1994 gebiert die unterschiedlichsten Facetten von Realitätskonstruktionen. Und das angestoßene Projekt einer der beiden Töchter meines verstorbenen Bruders konterkariert die chronoferentiell isolierte Einschätzung, diesen Mann doch gar nicht gekannt zu haben, auf eine ungeahnte Weise zur Initialzündung einer Begegnung, in der die Idee der Landwehrschen Chronoferenzen Gestalt annehmen kann:

„Aber über diese engeren lebensgeschichtlichen Verweise gibt es deutlich weiter reichende Formen der Relationierung von anwesenden auf abwesende Zeiten […] Chronoferenzen sind nicht nur mit der Potenz (als Macht) ausgestattet, bestimmte temporale Verbindungen als quasi natürliche zu institutionalisieren, sondern auch immer mit der Potenz (als Möglichkeit) versehen, dass diese zeitlichen Verbindungen auf neue und gänzlich unvorhersehbare Weise geknüpft werden (S. 163f.).“

Wie sich in der Folge zeigen wird, gerät der 21. Juni 1994 zu einer natürlich institutionalisierten temporalen Verbindung, die im verwandtschaftlichen und wahlverwandtschaftlichen Kontext den Tod meines Brudes einkerbt in die Chronologie eines überschaubaren Umfeldes (für Milliarden von Menschen auf dieser Erde versinkt der 21. Juni 1994 als amorpher Wimpernschlag im Ozean des Zeitflusses, während er für wenige Menschen – zu denen auch ich gehöre – eine Zeitenwende markiert). Natürlich wird mit dem Unternehmen meiner Nichte Kathrin – Zeitzeugen zu befragen zu ihrem Vater – diese Zeitenwende als chronreferentielles Ereignis wiederbelebt bzw. in neue komplexe Relationierungen überführt. Da kann man nur gespannt sein, ohne die Absicht zu hegen, hier einen ungesunden Druck zu erzeugen. Mich hat – wie bereits angedeutet – dieser Anstoß dazu angeregt, der eigenen Verstrickung in chronoferentielle Dynamiken nachzuspüren. Dies illustriere ich zunächst einmal anhand nachvollziehbarer Dokumente, die mein eigenes Driften im Zeitfluss aufzeigen; ein Driften, das in der Tat zeitliche und vermeintliche kausale Verbindungen in gänzlich unterschiedliche Kontexte einspielt. Beginnen wir mit jenen impressionistischen Assoziationen, die gleichermaßen die Hilflosigkeit wie auch die Distanz schaffenden Strategien aufzeigt im Umgang mit einem existentiellen Wendepunktgeschehen:

 

1

Der Tag, an dem (m)ein Leben aufhörte, der Tag an dem mein Leben begann
- Ende und Anfang - „Du bist tot, ich lebe noch ein bisschen, dann komm ich auch“

Abschied von Willi

Es gibt Tage, an denen man schon früh spürt, dass sie sich schon im Beginnen erschöpfen, Tage, an denen die Nacht nicht die Frische bringt, aus der man die Kraft und die Zuversicht für den neuen Tag schöpfen kann. Und es gibt Tage, an denen einem die Umstände in die Hände spielen, um früh schon der Erschöpfung nachzugehen, sie umzudeuten zu einer Entdeckung der Langsamkeit. Es gibt Tage, an denen man sich anpasst an die träge, schwüle Stimmung; und wenn einem die Umstände in die Hände spielen, lässt man sich vielleicht umfangen vom Unabwendbaren, man ergibt sich schon früh und wehrt nichts ab. Man lässt sich treiben.

Der 21. Juni 1994 war so ein Tag, ein Tag, an dem die Sonne frühmorgens für kurze Zeit dem beginnenden Tag noch verheißt, eine Perle in der Kette jener Sommertage zu werden, die mit einer trockenen Hitze den Sommer erträglich machen und zu einer stillen Sehnsucht werden, wenn er vorüber ist. Dieser Morgen aber war keine Zäsur. Fast übergangslos war der Abend mit seiner lastenden Schwüle in die Nacht übergegangen und übergab das Staffelholz atemlos dem folgenden Tag. Aber mit Vorsorge und Fürsorglichkeit sollte dies sicher ein schöner Tag werden, für mich. Mit meinen Kindern verheißt mir der Nachmittag Entspannung im kühlen Nass des nahen Schwimmbads. Für meine Schulkinder wird dieser Vormittag schon einige Qualen bedeuten; auf der Laufbahn, bei den Wettkämpfen im Stadion Oberwerth. Diese weihe- und ruhmvolle Stätte zeigt sich am Morgen des 21. Juni von ihrer feinen Seite, eingebettet in den zarten Hauch der mittlerweile voll ergrünten Akazien und in die satteren Grüns an den Ufern des Rheins. Die aufgeregten Kinder mit ihren T-Shirts erscheinen während der Riegen-Einteilung wie ein bunter, tanzender Flohzirkus auf dem fetten Grün des Fußballrasens.

Die Umstände meinen es gut mit mir. Die Riegenführer rekrutieren sich ebenso wie die Wettkampfrichter aus dem Kollegenkreis; hier versehen meist die berufeneren Kolleginnen und Kollegen mit Vereinshintergrund oder Fakultas in Sport die Ämter. Bis zur Siegerehrung bin ich also freigestellt, kann schauen, unterstützen, ermuntern; ich kann mir aber auch eine kleine Zeitnische gönnen und meinen Fantasien nachhängen, ein wenig ruhen, dösen bis uns der Bus mittags wieder zur Schule zurückbringt.

Ich finde ein diskretes Plätzchen abseits der Wettkampfstätten im Schatten einer mächtigen Baumkrone. Inmitten einer grünen Hölle überlasse ich mich dem Farbenspiel eines prächtigen Frühsommertags. Selbst die geschlossenen Augenlider bilden nur eine zarte Membrane, die jene Sonnenstrahlen, die mich durch das Blattwerk erreichen, nur abschwächen. Reibt man sich die geschlossenen Augen, regen die Eindrücke der frischen und kräftigen Sommerfarben, alle Schattierungen von Grün und das intensive Azurblau des Himmels, durchflutet von der grellen Strahlung der Sonne, die verrücktesten Farbkonvulsionen an. Mit geschlossenen Augen tauche ich ein in die lebendige Welt der Farben. Von Ferne nehme ich das sonore Geräusch von Flugmotoren wahr. Es erscheint mir - unter dem Eindruck des Kaiserwetters - unfassbar, dass ich im Alter von 42 Jahren noch niemals geflogen bin. Ich verspüre einen Hauch von Neugier; das wäre ein Tag, um die Welt aus der Vogelperspektive zu genießen. Der Schwüle tief im Rheintal entgehen, schweben wie ein Vogel und ein sattes und fettes Land unter sich:

Aufsteigen vielleicht in der Frühe des Morgens in der Nähe von Koblenz, auf einem kleinen Flugplatz; langsam an Höhe gewinnen, die Landskrone voraus, Ort früher Kindheitserinnerungen, unkalkulierbarer Kletterwagnisse; an diesem beeindruckenden Kegelberg, hinter dem sich das Ahrtal hin zum Rhein öffnet. Jetzt lassen wir ihn mühelos hinter uns und ein einzigartiges Panorama öffnet sich vor unseren Augen. Die Sonne steht noch tief im Osten. Bereits auf einer Höhe von drei- bis vierhundert Metern zieht die Maschine in einer weiten Schleife nach rechts. Der Rhein und jenseits die dicht bewaldeten Höhen des Westerwaldes kommen in den Blick. In die Höhenzüge des rheinischen Schiefergebirges hat der Rhein sein Bett gegraben. Das schon gleißende Silberband wird uns die ersten 150 km Orientierung geben. Jetzt im Juni wirkt dieser Graben irgendwie unwirklich. Das kräftige Grün der Plateaus zu beiden Seiten, hoch über dem Rhein geht auf der rechten Rheinseite in ein zartes Grün über, mit dem die gerade den Knospen entwachsenen Weinblätter das Rheinufer malen. Die „Höhenzüge“ von Eifel und Westerwald erscheinen uns von hier oben wie ein lebendiges Legoland. Vertrautes Terrain aus einer fremden, für drei der „Flieger“ ebenso angsteinflößenden wie faszinierenden Perspektive. Gen Süden geht es, zuerst Andernach - zur Rechten - dann Neuwied - zur Linken - ziehen vorbei. Jetzt öffnet sich das Neuwieder Becken und Koblenz, der Knotenpunkt, an dem der Rhein, Mosel und Lahn in sich aufnimmt, lässt sich erahnen. Monoton und sonor brummt der Motor und in Vertrauen erweckender Weise zeichnet der Propeller einen präzisen Kreis in die klare Morgenluft. Die Anspannung ist gewichen und langsam gewinnt eine gleichermaßen angeregte wie euphorische Gemütsverfassung die Oberhand; Vorfreude auf vier schöne Tage in Österreich. Voraus, im enger werdenden Rheintal, regt das hochaufragende Brauhaus der Königsbacher Brauerei zu mancherlei Sehnsüchten und Scherzen an. Vorgelagert das über die Region hinweg bekannte Stadion Oberwerth, Kampfstätte der legendären TUS-Mannschaft der frühen 50er Jahre. Die Sonne steht jetzt schon höher. Im Westen bleibt der Sendeturm auf dem Kühkopf zurück, Hunsrück zur Rechten und Taunus zur Linken. Der Pilot weist auf den Loreley-Felsen hin und verströmt gleichermaßen gute Laune wie unbegrenzte Vertrauenswürdigkeit. 30 Jahre Erfahrung als Pilot, Fluglehrer und zuletzt Bordoffizier auf der Maschine der Bundesluftwaffe, die alle wichtigen Auslandsflüge des Auswärtigen Amts realisiert. Wer Genscher und Kinkel über die Ozeane trägt, dem muss der Flug nach Zell am See in Österreich vorkommen, wie der Ausflug eines Grashüpfers von einer Wiesenscholle zur nächsten. So wirkt die Stimmung gleichermaßen gelassen wie ausgelassen; vier Urlaubstage bei Kaiserwetter, optimale Flugbedingungen, Mainz und Wiesbaden voraus.

Der Pilot erklärt eine Kursänderung, Süd-Südost. Im Norden lassen sich die Bankentürme von Frankfurt erahnen, während jetzt der Main ein Stück weit die Richtung weist. Zwischen Odenwald und Spessart hindurch schlüpft die einmotorige Jodel DR-400 und nimmt Kurs auf Würzburg, das man nordöstlich liegen lässt, immer noch Kurs Süd-Südost. Im gleißenden Sonnenlicht verändert sich die Landschaft; nein nicht so sehr die Landschaft, sondern das, was die Menschen hinzugefügt haben. Die Dörfer haben jetzt rote Mützen und es überwiegen weite, ausgedehnte Getreidefelder. Erst südwestlich von Nürnberg werden die Felder wieder von ausgedehnten Wäldern unterbrochen. Hier wird Hopfen angebaut und weite Kartoffelfelder reichen bis zum Altmühltal. Schon kündigt sich das Donaumoos an. Jetzt sind es vielleicht noch ein bis 1 1/2 Stunden Flug. Dieser Morgen mit einer vielversprechenden Großwetterlage löst ungeahnte Glücksgefühle aus.

Vom Rheinischen Schiefergebirge bis zur Fränkischen Alb eine Tour d’Horizon über deutsche Landschaften. Deutschland ist schön, Bayern ist schön. Es ist, als entdecke man die Welt neu, als bringe man Sonne übers Land. Alle Sorgen und Nöte verblassen. Dies ist ein unglaublich kraftvolles Motiv. Mit den sphärischen Klängen von V’Angelis’ „1492" entschwebt man in eine andere Welt. Im Dahingleiten des leichten Viersitzers verliert sich das monotone Geräusch des Motors zu einem elementaren Daseinsmoment, nur entfernt, eher körperlich in leichten Vibrationen wahrnehmbar. Der Schwebezustand der Jodel (ver)führt bei den Sphärenklängen der Musik fast zu einem Verschmelzen von Körper, Geist und Maschine. Die Landschaft des Voralpenlandes wirkt wie eine riesige Puppenstube. Dies scheint nahezu das Erhabenste, zu dem sich Menschen mit Maschinenkraft aufschwingen können; einem Vogel gleich - und doch so verschieden - als Wesen, das seine Erlebnisfähigkeit zu orgiastischen Gefühls-Konvulsionen zu steigern vermag, in denen sich Fühlen und Denken undifferenziert zu endlosen Implosionen verströmen. Die Ruhe des Schwebens im hellen, unbegrenzten Raum, das Zittern und Beben in einem anderen Daseinszustand geben eine Ahnung davon, wie leicht und unbeschwert, wie losgelöst das Leben sein könnte; die Ungebundenheit bald hier, bald dort zu sein, über sich und die Umstände machtvoll und spielerisch verfügen zu können, hebt einen hinaus aus der Routine und den Beschwernissen des Alltags.

Was ich zuerst erinnere war eine Ungläubigkeit, bei aller Realitätsmacht; die deutliche Haltung, dies alles sei ein Irrtum, die Tatbestände, das Geschehen, die darin verwickelten Personen unklar - alles klärt sich auf im Sinne eines tragischen Irrtums. Es sind die Umstände der ersten Berührung mit einer Tatsache, die man nicht zulassen kann, die Traumata bestätigen und mobilisieren, atavistische, ahnungsvolle Motive, die sich im neuzeitlichen Lebensalltag erhalten: Dies kann das nächtliche Telefonklingeln sein, zu einer Zeit, wo nur „Ungewöhnliches“ und Tragisches, Schlimmes mitteilungswürdig sind. Alles andere kann warten. Es waren der weiße Passat und Claudias Gegenwart an einem ungewohnten Ort zu einer ungewohnten Zeit: „Was willst du hier und jetzt, was kannst du mir mitteilen wollen, was nicht per Telefon mitteilungsfähig wäre? Ich habe mein eigenes Auto hier, hier an meinem Arbeitsplatz, und ich wäre eine halbe Stunde später zu Hause gewesen, an einem normalen, nein, an einem ungewöhnlich schönen, heißen Frühsommertag, an einem 21. Juni des Jahres 1994. Also sag, was willst du? Ich bin noch nicht dem Bus entstiegen, ich muss noch meine Kinder abliefern, 200 Meter weiter, in der Willi-Graf-Schule!“

Auch schon hier, wo mit mir noch nichts geschieht, was Irritation schon bestätigen würde, zeigt sich, wie Vorstellungskosmen sich impulsiv ergießen, auch Drüsentätigkeit in Gang setzen, Adrenalin ausschütten, schon aversive, abwehrende körpersprachliche Signale mobilisieren, Gedankenströme in einer synchronen Vielfalt freisetzen: „Ist etwas geschehen? Mit unseren Kindern, mit meiner Mutter, mit anderen mir nahestehenden Menschen?“

Deine Sensoren, deine Schemata deuten Haltung, Mimik, Gestik - und dann ---- stilles Entsetzen, kontrollierte Hilflosigkeit, ängstliches Bemühen, zweihundert Meter Zeit gewinnen - andere Menschen, Kolleginnen einbeziehen in diese Abartigkeit, in dieses sich auftuende Höllental menschlicher Nöte. Wenigstens für eine halbe Stunde in der Gegenwart schockierter, betroffener, vielleicht auch peinlich berührter, überforderter Menschen Haltung und „contenence“ bewahren können. Langsames Eintrimmen der Denk- und Fühl-Welt auf etwas Unfassbares, suchende, unsichere, panische, flackernde Augenkontakte, geschäftiges Regeln von Belanglosem, vorbereiten auf den Gang nach Nirwana, Luftholen für einen langen, endlosen Tauchgang. Seit dem 21.6.1994 lief der Zeitzünder einer Bombe; der Säurezünder ungeklärter Beziehungen frisst sich in den Schutzmantel. Die Karten werden neu gemischt.

Ich sitze im Passat, werde die B9 entlang gefahren und höre im Radio die Meldung über den Absturz einer viersitzigen Sportmaschine in der Nähe von Landshut. Alle vier Insassen sind tot, tot, tot... Was nun geschieht ist die Zuspitzung und Beschleunigung, aber auch die neu konditionierte Atomisierung eines Familienkomplexes: Elementarteilchen - drohendes, sich erfüllendes Menetekel und Aufbruch zur Menschwerdung zugleich. Im Familienkeller stehen viele Fässer: Guter, alter Wein, in Gärung befindlicher Federweißer, Essig, Verdorbenes. Die Erschütterung lässt viele Fässer zerbersten, manche bekommen Risse, laufen langsam aus - alles vermischt sich zu einer undefinierbaren Brühe. Ein mühsamer, aber auch klärender Prozess kündigt sich an, dies auseinander zu destillieren und den eigenen, unverwechselbaren Charakter zu (re)konstruieren: Und immer auch ein Prozess der Dekonstruktion: Viele Mythen werden von nun an in ihrer Brüchigkeit deutlich, die alten Erzählungen tragen nicht mehr.


Im Gedenken an meinen Bruder Willi
(12.11.1955-21.6.1994)

Als mir einmal in einem Gedicht Jakob van Hoddis begegnete

(übrigens geboren 1887 als Hans Davidsohn, früh sich schizophren zeigend, und am 30. April 1942 aus der Heilanstalt Bendorf-Sayn, abtransportiert, um, man weiß nicht wo, wann und wie, vernichtet zu werden – biographische Angaben aus der „menschheitsdämmerung“, ein dokument es expressionismus, berlin 1920, von kurt pinthus 1959 neu herausgegeben – an Jakob van Hoddis ist just an diesem Ort, der ehemaligen Heilanstalt Bendorf-Sayn, auf der Koblenz-Olper-Straße – unweit des Ortes, an dem unserer Wohngemeinschaft in den siebziger Jahren gelebt hat - im September 2001 mit einer beeindruckenden Ausstellung erinnert worden)

 

Ich bin träge -
Schatten-Schwüle.
Und ich wäge
Die Gedanken-Mühle.

Welt verglimmt -
ein endlos Flimmern,
Blut gerinnt -
Konturen schimmern.

Welten-Rauschen
Kinderstimmen -
hilflos lauschen,
Sinne trimmen.

Sinne schwinden -
schwerer Schlaf.
Ruhe finden –
Schlafes-Schlaf.

Fernes Dröhnen -
Flug-Motoren,
Sinne stöhnen,
Seins-Verloren.

Bin ich wach -
in welchem Raum?
Ist das Krach
in meinem Traum?

Kommt Wirklichkeit
mir wirklich nah?
Vergangenheit,
was auch geschah?

Am Amazonas
fällt ein Baum!
Ach was!? Und was
ist Deutungsraum?!

Dem Bürger fliegt
Vom spitzen Kopf der Hut.
In allen Lüften hallt es
wie Geschrei.
Ein Flug-Gerät stürzt ab
und geht entzwei.
Und in den Köpfen
- spürt man -
steigt die Flut.

Und die Gezeiten wechseln
Wut-Mut-Wut.
Der Sturm ist da -
die wilden Meere hupfen.
Und die Seele schwillt,
um Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen weinen,
wie bei Schnupfen
und stehn am Abgrund;
suchen Brücken.

Brücken wachsen zaghaft
aus der Unterwelt.
Chronos fließt
und treibt die Welt.
Doch mit der Zeit
entstehen neue Blicke,
changieren die Geschicke.

Die Impressionen, die aber das nun kommende schon erahnen lassen, wechseln zu einem Blick, der in Schuldfixierung verhaart – nicht ganz: Es war mir – dem Reisemuffel – wohl wichtig darauf hinzuweisen, dass auch mein Bruder eine Wahl hatte im Vorfeld des 21. Juni 1994:

 

2 

Wahl - auch mein Bruder hatte im Vorfeld des 21.6.1994 eine Wahl oder:
Der Lebenslauf besteht aus Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen
Eine Auskopplung aus:Im w.w.w. unterwegs - was ein ganz und gar unpassender Titel ist,
weil es auch hier in aller erster Linie um  F A M I L I E  geht! 

 

Wahl

Im Kosmos
der Möglichkeiten
bekommt
die Welt ihr Gesicht
durch das,
was sie sein könnte.
Beschreiben wir die Welt
als einen Raum
von Möglichkeiten,
hat unsere Wahl
hohes Gewicht.


Diese Phantasie wird eine tragende Rolle einnehmen, in dem, was ich in der Folge gerne vermitteln möchte. Ganz nebenbei bemerkt halte ich den Entwurf Niklas Luhmanns zu einer Lebenslauftheorie für den vielleicht bedeutsamsten und nachhaltigsten Mosaikstein, den ich Studierenden der Lehrämter in meinen Seminaren anbieten konnte. Wie kein anderer lehrt er früh schon die Einsicht in die Begrenztheit von Planung und damit sicherlich auch die Demut und Zurückhaltung gegenüber (All-)Machbarkeitsphantasien.

Reinhard Voß hat mir zu meinem 68sten Geburtstag Henri J.M. Nouwens Ich hörte auf die Stille – Sieben Monate im Kloster geschenkt. Auf Seite 116 stellt Nouwen sich die Frage: „Habe ich mein Leben wirklich gelebt, oder wurde es für mich gelebt? War wirklich ich es, der die Entscheidungen getroffen hat, die mich schließlich hierher geführt haben, oder wurde ich einfach vom Strom dahingetragen, von traurigen ebenso wie von glücklichen Ereignissen.“ 1998 haben mir Reinhart und Rudi einen Zugang ermöglicht zur Internationalen Gesellschaft für Systemische Therapie (IGST) in Heidelberg. Innerhalb von drei Jahren habe ich dort die Ausbildung zum Systemischen Familientherapeuten absolviert, bei Gunthard Weber, Ulrich Clement und Andrea Ebbecke- Nohlen. Nach der massivsten Krise in meinem bis dahin 46 Jahre währenden Leben habe ich dort meine eigene Therapie erfahren und meine Metamorphose erlebt, vielleicht zu der Gestalt und zu der inneren Haltung, die mir (heute) möglich sind. In den Jahren und Jahrzehnten nach Heidelberg habe ich zum Wort gefunden und den mir gegebenen Möglichkeitsraum erkundet. Meine persönliche, tiefgreifende Krise hat ihren äußeren Marker verbunden mit dem 21. Juni 1994. Abgesehen von Zeugung und Geburt erfüllt kein anderes als das mit diesem Tag verbundene Geschehen die Luhmannsche Vorstellung davon, dass ein Lebenslauf aus Wendepunkten besteht, an denen etwas geschieht, was nicht hätte geschehen müssen. Der Tatbestand, dass Willi, mein Bruder, am frühen Morgen des 21. Juni 1994 in Bad Neuenahr in eine einmotorige Sportmaschine einsteigt und mit drei Reisegefährten den Weg nach Zell am See in Österreich antritt, ist so absurd wie er Faktum ist. Er hatte die Wahl! Willi war nicht vorgesehen, ist eingesprungen für jemanden, der unpässlich war. Es ist die Verkettung so vieler unglaublicher Glieder, dass es einem schier den Atem nimmt;

  • dass ein alter Hase im Fluggeschäft nicht checkt, dass die Maschine abends zuvor noch einmal bewegt worden ist,
  • dass damit seine angemessene Kalkulation für eine Zwischenlandung und das Auftanken den Flugplatz in Landshut vorzusehen, hinfällig ist,
  • dass er, der – aus dem aktiven Dienst bei der Bundeswehr ausgeschieden – eine Lizenz als Fluglehrer beantragt hat, um jeden Preis versucht, regulär den Flugplatz auch zu erreichen;
  • er, der bemerkt, dass seiner Maschine wenige Kilometer vor dem rettenden Flugplatz der Sprit ausgeht,
  • er, der am sonnendurchfluteten einundzwanzigsten Junitag die abgeernteten Felder unter sich sieht,
  • er, der viele Jahre in der Flugbereitschaft die Großkopferten der Politik um die Welt geflogen hat - er muss innerhalb von Sekunden entscheiden, ob er eine problemlose Notlandung auf den flachen, abgeernteten Feldern einleitet, oder ob er es schaffen kann hin zu einer regulären Landung in Landshut.
  • Dann nämlich würde niemals jemand dahinterkommen, dass er das Logbuch frühmorgens nicht gecheckt hat, dass er versäumt hat das Fluggerät aufzutanken,
  • dann, ja nur dann, würde er seine Lizenz als Fluglehrer erhalten und seinem weiteren Leben die gewünschte Perspektive offenhalten.
  • Entschlösse er sich hingegen zur problemlosen Notlandung auf abgeernteten Getreidefeldern, würde ihm das Bundesluftfahrtamt, das jede irreguläre (Not-)Landung untersucht, jene Fahrlässigkeit nachweisen, die ihn seine Lizenz kosten würde.
  • Der Pilot hat zu hoch gepokert: Um 10.04 Uhr am 21. Juni 1994 sind alle vier Männer – unter ihnen mein Bruder Wilfried – tot; die Maschine hat nach ihrem Absturz nicht gebrannt. In ihrem Tank war kein Tropfen Sprit mehr.

Wir kennen alle Rosamunde-Pilcher- oder Katie-Fforde-Filme, schöne und tragische Bilderfolgen, meist mit versöhnlichem Ende. Ich habe schon angedeutet, dass von da an die Uhr tickte, die meine ganz persönliche Krisenbombe 1997 zur Explosion brachte, und dass ich drei weitere Jahre für meine ganz persönliche Metamorphose benötigt habe; die übergroße Zahl von Euch wird je eigene Erinnerungen an diese Zeit und mein Driften in dieser Zeit haben. Die Heidelberger Horizonterweiterung hat dafür gesorgt, dass ich alle meine Leichen aus dem Keller ans Tageslicht holen und eine Auseinandersetzung einleiten konnte, die wiederum mich ganz persönlich vom Kopf auf die Füße und auf höchst geerdetes Terrain befördert hat. Seither schreibe ich und habe mein eigenes Leben Schritt für Schritt in andere Bahnen gelenkt:

Ja, auch wir haben immer eine Wahl - zumindest mit Blick auf so triviale Entscheidungen, wie wir's zum Beispiel mit dem Reisen halten!

 

Von Zeit zu Zeit wird die Auseinandersetzung mit den Geschehnissen am 21. Juni 1994 angereichert durch neue Blicke, Perspektiven, Erinnerungen:

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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