Drucken

(M)Ein Adventskalender (2022) - heute öffnen wir das dreizehnte Türchen (13)

Heute unterhalte ich mich einmal mit Jean-Remy von Matt (ZEIT 51/22, S. 76). Er ist der Erfinder einer von ihm entwickelten Lebenszeituhr (siehe auch hier). Von Matt und ich gehören dem gleichen Jahrgang an, sind also im Jahr 1952 geboren. Unsere Lebenserwartung wurde seinerzeit auf der Grundlage einschlägiger Parameter auf 75 Jahre berechnet. Von Matt dazu:

„Von heute aus gesehen, sollte ich aber theoretisch 84 Jahre alt werden, da ich schon viele Risiken des Lebens überlebt habe: den plötzlichen Kindstod zum Beispiel oder auch die Gefahr eines Verkehrsunfalls, die sich bei männlichen Jugendlichen häuft. Und viele weitere Bedrohungen des jungen Lebens.“

Die Redakteurinnen bemerken am Rande: „Unsere Lebenserwartung, als 30-jährige Frauen, liegt bei 98 Jahren. Einem 70jährigen Mann bleiben 14 Jahre.“

Sie wollen im Übrigen wissen, wie der Sekundenwert der Uhr(en) zustande kommt, und ob er denn auf die Sekunde genau wüsste, wann er geboren worden sei? Bei dieser Gelegenheit erfahren wir, was von Matt denn bei seiner Lebensuhr-Idee umgetrieben hat. Er antwortet:

„Auf die Sekunde nicht. Denn es geht mir nicht um letzte Exaktheit, sondern  um die Symbolik der Vergänglichkeit, dass man sich bewusst machen sollte, dass das persönliche Zeitbudget endlich ist. Meine Uhr will nicht Mathematik, sondern Philosophie sein.“

Warum wählt er die Sekunde als Zeiteinheit?

„Die Botschaft der Uhr wird nur sichtbar, wenn sie lebt, also ständig in Bewegung ist. Bei Minuten tut sich nichts. Deshalb ist ganz entscheidend, dass es Sekunden sind.“

Mit Blick auf die philosophische Dimension meint er, das Faszinierende und Erschreckende an der Uhr sei nicht die Zahl, die sie anzeigt; das seien ja auch bei ihm noch über 100 Millionen Sekunden. Aber sie mache etwas sichtbar, was man normalerweise nicht sehen kann, nämlich Zeit. Genau dies komme ihm nicht negativ vor. Er zitiert Antoine de Saint-Exupéry:

„Es ist gut, wenn uns die verrinnende Zeit nicht als etwas erscheint, was uns verbraucht oder zerstört, sondern als etwas, das uns vollendet.“

Ist man aus der Zeit gefallen vor der Zeit, schmerzt vielleicht dieser Stachel des Unvollendeten am meisten. Bei der Aufstellung meiner Herkunftsfamilie, bei der ich zum ersten Mal meinem Bruder in die Augen schaute – ja, selbstredend demjenigen, der für ihn stellvertretend gestanden hat – und ihm sagen durfte/musste: „Du bist tot, ich lebe noch ein bisschen, dann komm ich auch“ stand mir gleichermaßen die Unabwendbarkeit und Endgültigkeit des Schicksals meines Bruders vor Augen. Gleichzeitig erfuhr ich eine andere Wahrnehmung der auf mich selbst bezogenen – und der von von Matt betonten – Endlichkeit meines eigenen Lebens. Seither sind 28 Jahre vergangen. Ich lebe immer noch. Und es hat vieler Jahre und einer existentiellen Fundamentalkrise bedurft, um heute den Auffassungen von Matts folgen zu können:

„Die Uhr soll eine ständige Erinnerung daran sein, das Beste aus seinem Leben zu machen. Das heißt natürlich auch, dass man mit unwürdigen Zeitfressern Schluss machen sollte wie zum Beispiel langweiligen Jobs oder toxischen Beziehungen. Andererseits soll die Uhr auch dazu motivieren, die eigene Lebenserwartung durch einen gesunden und umsichtigen Lebensstil zu übertreffen. Dafür habe ich extra ein Überraschungsei eingebaut. Nach dem Erreichen der null zählt die Uhr wieder hoch, und alle zehn Sekunden erscheint die dann berechtigte Frage: ‚Still alive?‘ Und dann als Antwort: ‚It’s a gift!‘“

Von Matt scheut sich auch nicht Allerweltsbeispiele anzuführen:

„Wenn einem Zeit verloren geht, dann ist sie für immer weg. Konkretes Beispiel: Man lernt mit 30 jemanden kennen und stellt nach zehn Jahren fest, dass der- oder diejenige einen nur betrogen hat. Das ist ein Diebstahl von zehn Jahren, der unwiederbringlich ist. Zeit ist eine viel härtere Währung als Geld.“

Es gibt ebenso triviale Fragen wie Beispiele. Ronja von Rönne und Amonte Schröder-Jürss fragen den 70jährigen von Matt, wie er mit seiner Zeit umgeht? Die Antwort scheint ebenso trivial – gleichwohl bedenkenswert:

„Mit Sicherheit etwas bewusster, seit ich die Uhr bei uns im Wohnzimmer stehen habe. Zum Beispiel habe ich mir vorgenommen, ein Prozent meiner Lebenszeit in meinen Körper zu investieren, also in meine Fitness. Das sind knapp 15 Minuten am Tag. Und das mache ich dann auch konsequent.“

Für mich – im Sinne vergleichender Erfahrungen – dann die wirklich platteste aller Fragen, deren Beantwortung mir allerdings recht vertraut erscheint: „Sie sind inzwischen 70 Jahre alt und im Ruhestand. Verging die Zeit als junger Mensch anders? Man muss bedenken, dass hier zwei 30-jährige Frauen fragen!

„Die Zeit kam mir früher viel länger vor. Als Kind habe ich oft bei meiner Mutter über Langeweile geklagt. Sie antwortete immer: Dann ziehe Schuhe und Socken aus, und spiel mit dem dicken Zeh. Heute kenne ich keine Langeweile mehr. Interessant ist auch, dass man, je älter man ist, umso langfristiger plant, was ja eigentlich absurd ist, weil man die Zeit gar nicht mehr hat. Als Kind musste immer alles sofort passieren, vor allem Geburtstage und Weihnachten. Und natürlich Schulferien.“

Bleibt abschließend die Einsicht, dass sich erstens längerfristig schon verbunden mit meinem Berufsausstieg und einem diesbezüglichen recht unerquicklichen Vorlauf und dann zweitens vor allem im Zusammenhang mit der Flutkatastrophe im Ahrtal, wo ich herkomme, eintretender Irritationen und schließlich drittens infolge der mit dem 24.2.2022 einhergehenden Zeitenwende Beziehungen - auch Freundschaften - als brüchig erwiesen haben. Den Begriff der toxischen Beziehungen geht mir zu weit. Ich möchte ihn allenfalls auf das berufliche Umfeld begrenzt wissen. Gleichwohl schmerzt die Einsicht, dass lebenslange Freundschaften einer kostbaren Rarität gleichkommen. Jean Remy von Matt bestärkt mich gewiss darin, mich mit Blick auf die mir verbleibende Zeit zu begrenzen und auf die wesentlichen - Bindung, Zugehörigkeit und Geborgenheit verbürgenden - Beziehungen zu beschränken.

Ein kleiner Nachtrag, da mir beim Schreiben des Beitrags schlicht die Zeit fehlte, um der folgenden Ergänzung die angemessene Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Die Interviewerinnen fragen von Matt, wie er sterben möchte? Daran schließt sich folgende Passage an:

Von Matt: Grundsätzlich lieber auf einem Tennisplatz als unter einer Straßenbahn. Und auf keinen Fall zu spät.
ZEIT: In der Sekunde des Todes, was würden Sie da gerne denken?
Von Matt: Mein Vorbild für einen würdigen Tod ist meine Mutter. Sie hat etwas geschafft, was fast unmöglich klingt: Sie ist gut gelaunt gestorben. Sie hatte leider sehr früh schon Leukämie, was ja praktisch ein Todesurteil ist. Und ihre Meinung war: "Wenn der Herrgott mich ruft, dann gehe ich." Wenn ich sie im Krankenhaus besucht habe, ging ich bedrückt rein und heiter raus. Es gelang ihr, ihren eigenen Tod als verdienten Feierabend zu betrachten - und auch so zu kommunizieren. ich selber bin nicht religiös. Ich glaube nicht, dass ich nach meinem Tod weiterlebe. Aber ich glaube, dass sie es tut."

Auch da haben von Matt und ich etwas gemeinsam: Auch ich halte mich nicht für religiös im traditionellen Sinne. Hingegen bewahrte sich meine Mutter - trotz eines sicherlich extrem schwierigen Lebens (in gewissen prägenden Phasen) - eine tiefe Religiosität. Und ich kann verstehen, dass von Matt zu der kryptischen Idee gelangt, dass seine Mutter nach ihrem Tod weiterlebt; und dies nicht nur in der idealisierten - gleichwohl greifbaren - Auffassung, dass dies ja doch selbstverständlich der Fall sei: Denn unsere Eltern leben doch auf so unmittelbare Weise in uns weiter - Vater und Mutter! (:-)

Hier geht es zum vierzehnten Türchen (14)