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(M)Ein Adventskalender (2022) - Heute öffnen wir das zwölfte Türchen (12)

Vorgestern erreichte mich  - wie seit zwanzig Jahren - der Adventsbrief eines lieben Kollegen. Darin zwei Texte, die mich irritieren - das Gebet des älter werdenden Menschen (Teresa von Avila zugeschrieben). Es besteht aus einem differenzierten, vielschichtigen Appell an den "Herrn" mich vor so mancher Unart zu bewahren bzw. mich mit hilfreichen Gaben auszustatten (z.B. bei jeder Gelegenheit etwas sagen zu müssen, die Angelegenheiten anderer zu ordnen, hingegen nachdenklich und hilfreich zu sein und über meine Krankheiten und Beschwerden zu schweigen...). Der zweite Text belehrt uns darüber, wozu wir auf der Erde sind - schon der Auftakt lässt aufhorchen: "Lieber Mensch, Du hast alles falsch verstanden! Du bist nicht hier, damit Dir bedingungslose Liebe gelingt. Die ist dort, woher Du kamst und wohin Du gehen wirst. Du bist hier, um menschliche Liebe zu lernen..." (C.A. Walsh zugeschrieben).

Nun sind wir siebzig und älter, und ich erinnere mich, dass mir im letzten Jahr Friedemann Schulz von Thun noch einmal begegnete mit einem "kleinen Modell für eine große Idee" (Erfülltes Leben, Hanser Verlag, München 2021). Ihm entlehne ich ein paar Anregungen und wünsche meinem lieben Kollegen, dem ich viel verdanke, für alle noch vor ihm liegenden medizinischen Eingriffe Glück und darüber hinaus einen weiterhin so erfüllten Ruhestand. Von Thun bietet fünf Felder an - angeordnet als vier Felder in einem Quadrat und einem kreisrunden Feld in der Mitte. Es geht um WUNSCHERFÜLLUNG, SINNERFÜLLUNG, BIOGRAFISCHE ERFÜLLUNGDASEINSERFÜLLUNGSELBSTERFÜLLUNG (wer tiefere Einblicke gewinnen will, wir hier fündig). Für uns alle von höchstem Interesse ist sicherlich die Frage, wie wir am Ende durchs Leben gekommen sind mit allen Aufs und Abs, wie Friedeman von Thun schreibt: "Was macht die Einzigartigkeit deiner Lebensgeschichte aus?" Und weiter:

"Was wir das für ein Roman sein, den du über dein Leben schreibst, schreiben wirst - oder (wahrscheinlich ja nur) als unverlierbaren Schatz in deinem Kopf und deinem Herzen trägst? Ein einziges Drama? Oder ein besinnlich fließendes Geschehen? Vielleicht wird die Liebe als Himmelsmacht darin ein große Rolle spielen? Überhaupt die wichtigsten Menschen in deinem Leben? Die aufregenden, eigentümlichen, eindrücklichen Beziehungsgeschichten mit ihnen? Oder das Abenteuer, ein Kind in die Welt zu setzen, einen Menschen, den es vorher nicht gab? Oder mehrere Kinder - und sie groß werden zu lassen? Dankbarkeit und Trauer beim Abschied von den wichtigsten Lebensgefährtinnen? Vielleicht (auch) Feindschaften? Große Kämpfe, Siege und Niederlagen im Beruf [...] Welche Sternstunden (oder Sterntage, Sternwochen, Sternjahre) gaben deinem Leben Richtung und Sinn? Oder war es bis jetzt ein einziger Kampf ums Überleben? - Wenn du deine Lebenskurven bis heute zeichnest, eine für Gesundheit, eine für Geld, eine für Glückseligkeit und eine für beruflichen Erfolg - wie verlaufen sie in ihrem Auf und Ab? Gibt es eine weitere Kurve, die dir wesentlich ist? Handelt dein Roman vielleicht von geistigen Abenteuern - auf der Suche nach Erkenntnis?" ((a.a.O., Seite 106f.)

Fragen über Fragen, die uns vielleicht längst dazu angeregt haben, so etwas wie ein Resümee zu ziehen - ich meine alle, die sich in meinem Alter oder darüber hinaus bewegen. Eine weitere kleine Kostprobe der Anregungen von Thuns gebe ich aus seinem sechsten Kapitel, das er DASEINSERFÜLLUNG nennt und mit dem Einleitungssatz überschreibt: "Meines Lebens Hauptgewinn: dass ich atme, dass ich bin!"

Ich halte freilich die Grundhaltung/-einstellung, die diesem Einleitungssatz zugrunde liegt, für eine uabdingbare Voraussetzung, will man den folgenden Ausführungen von Thuns (von denen ich mir zweifellos vorstellen kann, sie in einer vierten Grundschulklasse zu Gehör zu bringen) selbst Sinn abgewinnen/zugestehen. Also Vorsicht bzw. Nachsicht beim Weiterlesen!

"Das Mysterium unseres Gewordenseins

Und wie kommen die Augen in deinen Kopf? Wer hat sie da hineingetan? Niemand, sie sind als ein Teil von dir in deinem Bauplan vorgesehen gewesen und entsprechend gewachsen. Gewachsen? Ja, im Bauch deiner Mutter ist das geschehen, dann du warst (beachte, dass von dir die Rede ist!) zunächst nur eine einzige Zelle. Die war zwar mikroskopisch klein, aber der Bauplan war schon in dir drin - er wurde dann in den nächten Monaten wirksam - und zwei Augen mit ganz bestimmten Eigenschaften waren darin vorgesehen und prägten sich dann aus. Und wer war der Baumeister? Die Mutter? Nein, die Mutter konnte nichts machen. Sie konnte nur abwarten und darauf vertrauen, dass es von selbst geschah. Von selbst?? Ja, in dieser Zelle, die du warst, war ein Bauplan enthalten, der sich in einen Prozeß der Selbstverwirklichung ohne Eingriff von außen begeben hat. Das ist alles zu phantastisch, als dass man es glauben könnte! Eben! Und es kommt noch wundersamer! Wie bin ich denn, also diese eine Zelle, in den Bauch der Mutter hineingeraten? Von nichts kommt nichts! Also, wer hat sie da reingetan, und wer hat  diesen mysteriösen Bauplan in die Zell hineingeschmuggelt? Hab ich nicht ein Recht darauf, über meine Herkunft Bescheid zu wissen? Ja, unbedingt! Der Reihe nach: Wer hat dich, die Zelle, da hineingetan? Wie du richtig vermutest, bist du nicht aus dem Nichts entstanden. Du Zelle bist ein Gemeinschaftswerk von Mutter und Vater. Jeder von beiden hat eine (einzige) Zelle von sicht selbst (denn der ganze Mensch besteht aus Milliarden solcher Zellen) dazugegeben. Die Zelle der Mutter lag bereit, und der Vater hat seine Zelle zu ihr auf den Weg geschickt - ein erneutes Wunder. Die Mutterzelle enthielt den Mutter-Bauplan, die Vaterzelle den Vater-Bauplan. Und jetzt geschah es, dass diese beiden Zellen einander getroffen haben und sich sodann - halte dich fest! vereinigt haben. Und diese Vereinigungszelle, das warst du! Jedenfalls steckte da drin, was du werden solltest. Aber von wem hab ich den Bauplan, wer hat den bestimmt? Ja, das ist abermals wundersam, ist von einer unfassbaren Genialität: Die beiden Baupläne haben sich so gemischt, halb von der Mutter, halb vom Vater, dass daraus etwas Neues entstanden ist, was es vorher auf der ganzen Welt nicht gegeben hat. Du bist einmalig im ganzen Universum! Ein Mutter-Vater-Gemisch in einer zufälligen Kombi, ausgewürfelt vom - wir wissen nicht von wem, darum sagen wir: vom Zufall. Das alles wusste ich ja. Du erzählst mir ja nichts Neues, aber es ist doch eindrücklich, sich dies alles zu vergegenwärtigen! Genau genommen bin ich einmalig - aber andererseits auch ganz genauso gebaut wie Milliarden anderer Menschen, oder? [...] Noch einmal: Wer war der Baumeister, der an alles gedacht hat und es so gemacht hat, wie er oder sie es im Sinn hatte? Das ist die Frage nach der Schöpfungsgeschichte! Es gibt über sie verschiedene Annahmen. Sie sind alle ziemlich aufregend. Die eine Version findest du in der Bibel, im Tagebuch der Menschheit. Danach war Gott der Konstrukteur und hat den Menschen so geschaffen, wie er jetzt ist - und ihn so geformt, dass er ihm ähnlich sei. Der aufgeklärte Wissenschaftler ins uns glaubt das nicht - es sei denn, es wäre als Metapher gemeint, als ein Denkbild, um uns das Unbegreifliche vorstsellen zu können [...] Die Astronomen sagen, es habe einen Urknall gegeben - und dadurch und danach habe sich Materie gebildet und sich ausgebreitet. Und wieso gab es einen Urknall, wer oder was hat diesen Urknall ausgelöst, wieso hatte das die Folgen, die es hatte? Dass es Sternenstaub gab und gibt, aus dem ich letztlich entstanden bin? - Spätestens hier endtet unser Wissen, und alles erweist sich als großes Mysterium. Ich habe dir auf den letzten Seiten gewiss nichts Neues erzählt, und doch habe ich dir und mir diesen Hintergrund unseres Daseins vergegenwärtigen wollen. Denn diese wissenschaftlich fundierte Schöpfungsgeschichte nötigt mir doch mehr staunende Ehrfurcht ab als die Schöpfungsgeschichte der Bibel. Und wenn du dich als Teil dieses Mysteriums begreifst, wenn du das mal so richtig an dich heranlässt, dann wirst du jeden Augenblick deines Daseins, auch gerade den hier, jetzt in diesem Moment, als eine unfassbar gigantische Sensation erkennen und empfinden. Das Innewerden dieses Mysteriums - das ist Erfüllung vom Typus Delta (Daseinserfüllung). (a.a.O., Seite 112-118)

Das heutige Türchen passt gewiss in die Adventszeit. Es setzt aber voraus - und dies wird mir angesichts des Zustands unserer Welt mehr als bewusst -, dass wir entweder einen unerschütterlichen Glauben bzw. eine Faszination in das Mysterium dieser Welt in uns tragen oder dass - wie Maslow sagen würde -, die Grundbedürfnisse in seiner Bedürfnispyramide auf gediegene Weise Befriedigung finden, so dass wir uns mit Fragen des Daseins und der Daseinserfüllung auseinandersetzen können, ohne an Leib und Leben bedroht zu werden.

Hier geht es zum dreizehnten Türchen (13)