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(M)Ein Adventskalender (2022) - Heute öffnen wir das elfte Türchen (11)

Machen wir heute ein kleines Experiment. Ich stelle einmal empirisch erhärtete Daten und Hypothesen aus einem Titelbeitrag einer renommierten Wochenzeitung zusammen. Erst am Ende des Beitrags werde ich Fundort und Datum der schockierenden Botschaften enthüllen (natürlich kann man auch hier schon nach unten scrollen und sich informieren – auch nicht schlimm!) Ich vermute, wenn man es nicht tut, hat man zwar jetzt schon eine Ahnung, aber man wird dennoch verblüfft sein über Zeitbezug und Aktualität der hier zusammengestellten Befunde und Bewertungen:

Die Autorin des hier zugrunde liegenden Beitrags zitiert durchaus Schwergewichte – z. B. aus der soziologischen Forschung, so z.B. Ulrich Beck, der meint, aktuelle Familienpolitik sei, „wenn man es schaffe, Frauen vom Arbeitsmarkt fernzuhalten und auch noch die Hemden gebügelt bekäme“. Im Umkehrschluss all dieser prekären Blitzlichter erscheint der Autorin die Vorstellung rührend, die Familie solle Geborgenheit, Liebe und Solidarität vermitteln.

Klar, dass die abschließende Forderung, Familienpolitik müsse doch wenigstens Bedingungen schaffen, unter denen die Wahl für ein Leben mit Kindern nicht bestraft werde, so etwa die Minimalerwartung künftiger Familienpolitik umschreibt. Wir können heute fragen, ob diese Erwartung eigentlich erfüllt worden ist? Unsere Autorin jedenfalls stellt aus ihrer seinerzeitigen Perspektive und Beobachtung unmissverständlich klar, dass auch ein Jahr der Familie nichts geändert habe: „Eine Neuordnung der Rentensystems wurde nicht einmal in Aussicht gestellt. Der zuständige Minister, der vor zehn Jahren forderte, die Erziehung von Kindern müsse bei der Rente so viel zählen, wie die Lohnarbeit.“ Heute erklärt er, warum das nicht geht. Wie mag wohl der zuständige Minister geheißen haben? Ja klar: Die Renten sind sicher - Norbert Blüm!

Unsere Autorin stellt ziemlich zum Schluss fest:

„An den Kindern werden solche politischen Zeichen nicht unbemerkt vorbeigehen. Ihren Eltern werden sie nicht selten zur finanziellen Last. Dabei ist Erziehen heute schwieriger als früher. Vor der Haustür tost der Verkehr, im Fernsehen lauern die Gewaltclips der internationalen Konzerne.“

Zuvor hatte Susanne Mayer – altes Schlachtross der ZEIT-Redaktion – sozusagen vor der Haustüre ein anschauliches Beispiel für Prioritätensetzungen ausgegraben. Sie referiert:

„Die Familienpolitik des Jahres 1974 sah so aus, als verfolge sie als Ziel die Einkind- oder Keinkind-‚Familie‘. In Hamburg zeigte sie sich in Gestalt eines dreifingerbreiten Marmorstreifens. Der zieht sich durch die Trottoirs der Innenstadt. Kosten: vierzig Millionen. Der Schuletat wurde um zwölf Millionen Mark zusammengestrichen. Deutlicher kann man Prioritäten nicht setzen.“

Na bitte, die Referenzdaten machen deutlich, wo dieser Beitrag in etwa anzusiedeln ist. DM (Deutsche Mark – Referenzjahr „1974“) Susanne Mayers Beitrag ist als Aufmacher der ZEIT am 23. Dezember 1994 erschienen (ZEIT 52/94 – Titelseite: Der kalte Abschied von der Familie – Dies sollte ein Jahr der Eltern und Kinder werden – doch die Politik straft ihre eigenen Worte Lügen).

Fügen wir noch ein paar Schmankerl an und fragen uns – bei allen unbestrittenen, durchaus gewaltigen Veränderungen: Wie ist das mit der Prioritätensetzung und mit unserem Steuersystem?

Susanne Mayer schreibt 1994:

„Da wurde Kasse gemacht. Die Familienfrage ist uns zur Frage der Finanzen geronnen. Vierzig Milliarden Mark nehme sich der Staat durch die Besteuerung des Kindesunterhalts, hielt die Deutsche Liga für das Kind jenem Finanzminister vor, der in diesen Tagen stöhnt, wie viel es ihn ‚kostet‘, das zu unterlassen. Acht Milliarden Mark an Familienförderung, mußte die damalige Jugendministerin Angela Merkel zugeben, flössen als Prämie für Kinderlosigkeit an Herren mit Haushälterin-Gattin. Kinderlose Rentner ließen sich durch Familien mit 160 Milliarden Mark im Jahr subventionieren, dozierte der Soziologe Wolfgang Borchert, die Förderung der Familien würde im übrigen von diesen über die Steuer selbst aufgebracht. Vom Ausbluten der Familien war die Rede – und davon, daß über zwei Millionen Kinder unter der Armutsgrenze leben. Wirklich erschreckend war die Reaktion auf diese Zahlen: offene Häme. ‚Wer Kinder hat, ist selber blöd!‘ Auf diese Pointe brachte es beispielsweise eine Dame in einer der verbissenen Diskussionen des Jahres – eine Ärztin, die sich für einen pflegeleichten Anhang der Marke Porsche entschieden hatte.“

Wir schreiben das Jahr 2022. Der Abdruck dieses Leitartikels liegt also 28 Jahre zurück. Damals waren unsere Kinder fünf und sieben Jahre alt; meine Nichten waren fünf und acht Jahre alt – vier heute erwachsen Frauen. Drei haben sich für Kinder entschieden bzw. würden gerne Kinder haben. Unsere vierte im Bunde, leidenschaftliche Tante, aber entschieden kinderlos, wird heute Abend bei Markus Lanz – als inzwischen profilierte Journalistin – unter anderem das Erbe von Susanne Mayer verwalten.

Hier geht es zum zwölften Türchen (12)