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(M)Ein Adventskalender (2022) - Heute öffnen wir das sechste Türchen (6)

Therapeutische Interventionen - Chancen für eine Neuverrechnung

„Eine ‚normale‘ Paartherapie hält Klaus Kranitz (Jan Georg Schütte) nur für teure Trennungsbegleitung. Sein Selfmade-Ansatz verspricht den schnellen Erfolg. In welcher Form auch immer, sonst gibt's das Geld zurück. Er bringt stockende Zweisamkeit wieder zum Laufen – in wenigen Sitzungen und mit Geld-zurück-Garantie! Um die Beziehungen seiner Kundschaft zu reparieren, ist dem unkonventionellen Paartherapeuten keine Wahrheit zu direkt und kein Mittel zu abwegig. Eine u.a. mit Jan Georg Schütte, Bjarne Mädel und Anna Schudt exzellent besetzte Impro-Comedy.“

Ja, ich habe mir eben die erste Folge angesehen und kann der Kurzbeschreibung zustimmen. Paradoxe Interventionen und unvorhergesehene (Re-)Aktionen lösen situative Effekte aus und sorgen für unverhoffte Wendepunkte in der Paardynamik. Mit einem gewissen Schmunzeln gelangt man auch mit Blick auf eigene Macken und festgefahrene Wahrnehmungsgewohnheiten zu unerwarteten Aha-Erlebnissen. Gewiss neigt man eher zu der Vorstellung, ein – nicht nur unkonventioneller –, sondern auch mit deutlichen Professionalitätsdefiziten ausgestatteter Therapeut könne nicht für solide und nachhaltige Therapieangebote stehen. Gleichwohl kann man davon ausgehen, dass die Drehbuch-Autoren über den notwendigen professionellen Back-Round verfügen, um auf unterhaltsame Weise therapeutische Grenzgänge zu inszenieren.

Der 2021 verstorbene Helm Stierlin hätte vermutlich auch geschmunzelt. Auf Klaus Kranitz bin ich zufällig gestoßen. Bereits gestern – bei der Suche nach einem geeigneten Anlass für das sechste Türchen meines Adventskalenders – nahm ich nochmals Helm Stierlins seinerzeit akribisch aufgenommene Schrift Gerechtigkeit in nahen Beziehungen – Systemisch-therapeutische Perspektiven (Heidelberg 2005) in die Hand und stieß auf eine Intervention, die er unter der Überschrift Die Überraschungsaufgabe – Ein Experiment (S. 119ff.) folgendermaßen einleitet:

„Diese Aufgabe ist als ein Experiment zu verstehen, das die betroffenen Klienten nicht nur selbst durchführen, sondern auch selbst bewerten.“ Es folgt dann der Versuch, dieses Experiment vorzubereiten und zu begründen: „Es soll (nämlich) darüber Aufschluss geben, wie motiviert sie sind, in ihrer Beziehung etwas zu verändern oder nun auch: wie motiviert sie sind, darin mehr bezogene Individuation zur Wirkung kommen zu lassen. Und solche Motivation hängt eben – so zeigt es sich zumindest in meiner systemisch-therapeutischen Erfahrung – weitgehend davon ab, ob und wie weit jeweils eine Altlast von schlimmen, einander zugefügten Verletzungen ins Spiel kommt, von Verletzungen, die Resignation, hassvolle Verbitterung und Wünsche nach Vergeltung […] schwelen ließen und noch schwelen lassen. In anderen Worten: Das sich mit der Überraschungsaufgabe verbindende Experiment soll allen Beteiligten – den eine Beratung suchenden Klienten wie auch dem Therapeuten oder Berater – Auskunft geben, wie schwer diese Altlast (noch) wiegt und wie weit sich dementsprechend Chancen zeigen, dass sich durch Hinlenkung der Aufmerksamkeit auf gute Erinnerungen und Gefühle von Wertschätzung, Dankbarkeit und Zuneigung aktivieren lassen, die für eine fällige Neuverrechnung die notwendige Basis zu schaffen vermögen. Kurzum, das Experiment soll allen Beteiligten mit möglichst wenig Zeitaufwand vermitteln, wie die Chancen für eine Neuverrechnung stehen, die allen zugute kommt.“

Das könnte man so für sich stehen lassen; auch könnte man LeserInnen dazu ermuntern, sich das Setting des von Stierlin entworfenen Experiments bei ausreichendem Interesse selbst verfügbar zu machen. Bliebe lediglich der Hinweis, dass sich für all diejenigen jegliche Mühe erübrigt, die grundsätzlich der Idee folgen, dass Leiden leichter ist als Handeln; ein Handeln selbstredend, das dazu geeignet ist, Veränderungen zuzulassen. Auch dieser Hinweis ist lediglich an der Stelle zu relativieren, wo sich (latent) Angesprochene immerhin dazu bewegen lassen, dass folgende Einsicht Peter Sloterdijks gilt (siehe auch erstes und zweites Türchen dieses Kalenders); gilt - insbesondere mit Blick auf die intergenerativen Wirkungen von Handlungen und Unterlassungen (brutal zuweilen in den Konsequenzen für alle, die selbst Kinder und Kindeskinder in diese Welt gebracht haben - also ich meine brutal in den Wirkungen immer für die Kinder und Kindeskinder):

"Keine menschliche Handlung, die nicht in unüberschaubare Folgenreihen ausläuft, keine Unterlassung, die nicht die Welt durch fehlende Effektfolgen mitgestaltet. Kein Mitmensch, der nicht in das Zwielicht seiner Situation eingetaucht ist, umgeben von den wenigen nahen und den unzähligen fernen anderen in ihren eigenwüchsigen Zwielichtfeldern."

 Hier geht es zum siebten Türchen (7)