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(M)Ein Adventskalender 2022 - Heute öffnen wir das zweite Türchen (2)

Kleine Ergänzung zum gestrigen ersten Türchen:

Auf Seite 221 Vierte Degression: Was es mit Cézannes Grau auf sich hat beginnt Sloterdijk (Wer noch kein Grau gedacht hat, Berlin 2022) sogleich mit konkreten Inkarnationen seiner Grau-Assoziationen:

„Nachdem weiter oben von dem panikinduzierten Grau der Eklipse im Sommer 1842, von dem erhabenen Theatergrau eines Sturms an der atlantischen Küste, von dem immersiven Grautönen der Schneestürme in Bayern, Davos und Rußland, vom lyrischen Grau der norddeutschen Küste und vom evokativen Grau der durch Zarathustras Augen erblickten Hochalpenzone des Engadin die Rede war, um eine exemplarische Reihe berührender Grautöne abzuschreiten, ist der Moment erreicht, auf Paul Cézannes Diktum zurückzukommen, wonach kein Maler sei, wer noch kein Grau gemalt habe.“

Peter Sloterdijk hebt ja dann an – manche würden vielleicht sagen, er versteigt sich – zu der These, wonach kein Philosoph sei, wer noch kein Grau gedacht habe. Die Feststellung scheint trivial, dass dort, wo das Licht nicht hinkommt, nicht Nichts ist, sondern immerhin Schatten. Wir führen alle (auch) ein Schatten-Dasein, wir schatten ab, was wir nicht sehen können/wollen und auch niemand anderer sehen kann/soll. Die Schattenwelt als die lichtabgewandte Seite (in uns selbst) erscheint als reiche, differenzierte, nuancenreiche dunkle Seite unserer Existenz.

Mich hat außerordentlich verblüfft, wie konkret und wie mahnend Sloterdijk seine Grau-Reflexionen unterlegt: „Du musst Dein Leben ändern“ – da gibt es bei Sloterdijk auf Seite 21f. den Hinweis auf Rilke mit der Relativierung:

„Rilke freilich, wurde auch von einem Denker wie Heidegger respektvoll zitiert, war (aber) weniger Philosoph als ein Sänger unaussprechlicher Schwingungen.“

Sloterdijk – das wird auch in der (maßlosen) Würdigung Michael Maars überdeutlich – gibt diesen Schwingungen eine Sprache; eine Sprache, die in ihrer Mächtigkeit u.a. eine lange etablierte christliche Profanität radikal konterkariert: Sloterdijks Rekapitulation und Neufassung des Jüngsten Gerichts hat bei mir einen schockartigen Gedankentsunami ausgelöst, der im Licht der von ihm (im Interview mit Michael Maar) vorgelesenen Schlussgedanken wiederum durch seine Konkretion verblüfft. Aus Sloterdijks Mund:

Keine menschliche Handlung, die nicht in unüberschaubare Folgenreihen ausläuft, keine Unterlassung, die nicht die Welt durch fehlende Effektfolgen mitgestaltet. Kein Mitmensch, der nicht in das Zwielicht seiner Situation eingetaucht ist, umgeben von den wenigen nahen und den unzähligen fernen anderen in ihren eigenwüchsigen Zwielichtfeldern.“

Möglicherweise erscheint es angemessener mit ästhetischen und gestalterischen Mitteln auf der Höhe der Bildenden Künste zu antworten. Und es bleibt die Frage, ob Sloterdijks begriffliche Anstrengungen im Sinne einer Grauzonenverschiebung tatsächlich für den/die ein oder andere(n) den Aufforderungscharakter besitzen, im Sinne eines Purgatoriums (das für uns ja im Sinne des Fegefeuers nach der römisch-katholischen Lehre einen Prozess der Läuterung auslösen soll) tatsächlich darüber nachzudenken, sein Leben zu ändern???

Ich finde mich selbst so sehr wieder in seiner Überlegung, dass das Farb- oder Unfarbwort Grau, einmal aus der Latenz geweckt, jene Reflexionsschübe auslöst, die ich mir lyrisch schon vor mehr als zwanzig Jahren gestattet habe (siehe meine Gedanken zum Totensonntag). Ernüchternd andererseits sich wiederzufinden in einem Selbstbild, das vor der Wahl steht, „sich in der Drift der Verhältnisse aufzulösen – grau durch Demission – oder ins tätige Mittlere gewendet – grau durch Unscheinbarkeit im Dienst am größeren Geschehen.“ Peter Sloterdijk mag man das nicht abnehmen, und die von Michael Maar angedeutete Triebkraft der Ironie mag auch hier federführend gewesen sein.

Was für mich bleibt, liegt vor allem im Begriff der Unscheinbarkeit begründet. In diesem Lichte würde ich denn auch der Diskussion um die Legitimität des Handelns der Letzten Generation einen neuen Impuls vermitteln wollen. Hat das Unscheinbare eine Chance auf Weltverbesserung – oder liegt nur in Bloßstellung und Entblößung die Kraft der Weltveränderung? Darüber hat sich Sloterdijk vor mehr als dreißig Jahren in den Frankfurter Poetik-Vorlesungen schon weidlich ausgelassen.

Zuletzt: „Wer noch kein Grau gedacht hat, dem ist die Frage unde bonum, Woher das Gute?, die das Herz der Seinsfrage bildet, noch nicht begegnet.“ Ich habe Peter Sloterdijk – vor allem in seiner monumentalen Totenrede auf Niklas Luhmann – vor allem wahrgenommen als jemand, der sich immer auf der Hut zeigt denjenigen gegenüber, die für sich „die Kompetenz zum Entwerfen, Einrichten und Verallgemeinern moralisch befriedigender Weltverhältnisse“ beanspruchen. Auch im fünften Kapitel Die grauen Ekstasen bemerkt er: „Als nicht-gleichgültige Stellvertreter Gottes waren die geschichtsgläubigen  Aktivisten willens, für die Richtigstellung der weltlichen Zustände zu sorgen, auch um den Preis der Vernichtung von Hindernissen auf dem Weg zum richtigen Leben aller.“

Was bleibt uns also, uns als „Mitmensch, der in das Zwielicht seiner Situation eingetaucht ist,  umgeben von den wenigen nahen und den unzähligen fernen anderen in ihren eigenwüchsigen Zwielichtfeldern“?

Hier geht es zum dritten Türchen (3)