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Alex Schulman - VERBRENN ALL MEINE BRIEFE (Teil III)

Siehe hier: Teil I, Teil II

Wenden wir uns - bezogen auf die drei Zeitebenen - dem zu, was den irrationalen, verrückten, gleichermaßen dramatischen wie frappierenden Anteil dieser merkwürdigen Familiendynamik ausmacht; einer Liebesgeschichte, die vielleicht normale Menschen für vollkommen absurd bis unfassbar betrachten könn(t)en, die gleichwohl hineinreicht bis in das Leben der Enkelgeneration. Ich nehme daher zunächst einmal Bezug auf einen jeglicher Romantizismen unverdächtigen Kronzeugen, der sich zur Liebe auf gleichermaßen ernüchternde wie erschreckende Weise äußert (selbst habe ich das Themenfeld in: Kopfschmerzen und Herzflimmern tiefschürfend umgepflügt):

George Steiner (in: Errata – Bilanz eine Lebens, Hanser Verlag -München 1999, S. 220-221):

Liebe ist die dialektische Entsprechung zu Haß, ihrem spiegelbildlichen Gegensatz. Liebe ist in wechselnder Intensität das gebieterische Wunder es Irrationalen. Wie über die (verdammte) Suche nach Gott unter seinen Gebrechlichen läßt sich darüber nicht verhandeln. Beim Anblick, beim Klang der Stimme, bei der geringsten Berührung des geliebten Menschen in seinem innersten Geist, Nerv und Knochen erzittern; Mittel und Wege finden, sich abmühen, ohne Ende lügen, um den geliebten Mann oder die geliebteFrau zu erreichen, in seiner/ihrer Nähe zu sein; die eigene Existenz – persönlich, öffentlich, psychologisch, materiell – in einem unvorhergesehenen Augenblick verwandeln, aufgrund und infolge von Liebe; unaussprechliche Schmerzen und Leere bei der Abwesenheit des/der Geliebten, beim Welken von Liebe durchzumachen (das Vorstehende liest sich wie die Regieanweisung zu Kapitel 1 von Kurz vor Schluss, Teil II, Anm. Verf.); das Göttliche mit der Emanation von Liebe gleichsetzen, wie es aller Platonismus, und das heißt das abendländische Modell der Transzendenz, tut – das bedeutet, daß man an dem alltäglichsten und unerklärlichsten Sakrament im menschlichen Leben teilhat. Es bedeutet, nach seinen persönlichen Möglichkeiten, die Reife des Geistes zu berühren. Dieses Universum der Erfahrung mit dem Libidinösen gleichzusetzen, wie es Freud tut, es mit biogenetischen, fortpflanzungsbezogenen Vorteilen zu erklären, das sind fast verächtliche Reduktionen. Liebe kann das ungewählte Band, bis hin zur Selbstzerstörung, zwischen Individuen sein, die füreinander eklatant ungeeignet sind. Die Sexualität kann nebensächlich, vorübergehend sein oder völlig fehlen. Die Häßlichen, die Elenden, die Bösesten unter uns können das Objekt von interesselosem, leidenschaftlichem Eros sein. Der Wunsch, für die Geliebte oder die Freundin – l’amie, wie es im Französischen so exakt und klar heißt – zu sterben, und die klar blickenden Verrücktheiten der Eifersucht sind aus jeder denkbaren biologischen (Darwinschen) oder sozialen Sicht kontraproduktiv. Die gefeierte Pascalsche Maxime, wonach das Herz seine Gründe hat, welche der Verstand nicht kennt, spielt defensiv mit der Rationalität. Es sind nicht ‚Gründe‘, die das Herz bevölkern. Es sind Notwendigkeiten ganz anderen Ursprungs. Jenseits der Vernunft, jenseits von Gut und Böse, jenseits von Sexualität, die selbst auf dem Höhepunkt der Ekstase ein so unbedeutender und flüchtiger Akt ist. Ich habe eine ganze regendurchweichte Nacht hindurch dagestanden, um einen Blick von der Geliebten, wie sie um die Ecke kam, zu erhaschen. Vielleicht war sie es noch nicht einmal. Gott erbarme sich derer, die nie die Halluzinationen eines Lichtes gekannt haben, das während solchen Wachens die Dunkelheit erfüllt.“

Man kann weidlich darüber spekulieren, ob Karin Stolpe und Olof Lagercrantz wirklich nachhaltig darauf beharren würden, genau dieser Halluzination, dieses Lichtes in der Form teilhaftig zu werden, wie es aus dem Erleben im Juni 1932 heraus seinen Anfang nimmt und nicht enden will - nicht enden will hinein in eine vielgestaltige Katastrophe, vor der man als Leser sicher nur kopfschüttelnd stehen mag. Aber es ist so, wie George Steiner schreibt: Niemand wird dessen teilhaftig bzw. vermag auch nur ansatzweise nachzuvollziehen, was AS uns schildert, der nicht selbst die Liebe in wechselnder Intensität als das gebieterische Wunder es Irrationalen erlebt hat. Denn es mutet vollkommen irrational an, was uns als Dreiecksbeziehung und der daraus über mehr als 60 Jahre resultierenden Paar- und Familiendynamik nahegebracht wird:

Hier geht es weiter: Teil IV