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Eine Erinnerung - traumgeschuldet

Alle mir vertrauten Sinnrelikte, alle Sinnrelikte, auf die ich vertraue, gerinnen zu der dünnen Erkenntnis, dass der Mensch ist, weil er sich verdankt (Fulbert Steffensky). Man kann auch fragen: Was bleibt? In Kurz vor Schluss II bin ich zunächst umgekehrt vorgegangen und habe gefragt, wie wir in diese Welt kommen? Und dabei fällt auf, dass ein Menschenleben - und dauert es auch lang - im kosmischen Zeithorizont nicht einmal den sichtbaren Bruchteil einer Nanosenkunde ausmacht. Und dennoch machen wir uns Gedanken darüber, wie Menschen in dieses Leben hineinfinden, um irgendeines ungewissen Tages daraus wieder zu verschwinden. In Todesanzeigen findet sich häufig der Michelangelo zugeschriebene Aphorismus:

"Ich bin nicht tot - Ich tausche nur die Räume - Ich bin bei Euch - Ich geh durch Eure Träume."

Mir erscheint zuweilen im Traum ein Modellathlet - ein Triathlet, der es noch im Alter von nahezu 60 Jahren fertig brachte, in Koblenz-Metternich auf der Höhe des Weinhauses Schwaab auf sein Rennrad zu steigen, bis nach Cochem zu radeln, sich dort ein Eis zu genehmigen, vergnügt zurückzuradeln, sein Rad in's Auto zu packen, um dann auf die andere Rheinseite zu fahren, 5 Kilometer zu laufen und zum krönenden Abschluss noch locker zweieinhalbtausend Meter zu schwimmen! Dies geschah zweifellos im Vollbesitz seiner körperlichen Kräfte. Sieht man dann, wie jemanden von Jahr zu Jahr - von Krankheit gezeichnet - diese körperlichen Kräfte verlassen; verlassen bin zur Unverzichtbarkeit einer Gehhilfe, bis zum Rollstuhl hin, dann sorgt man sich. Man sorgt sich als Freund und fragt sich, wie wechselwirksam wohl körperlicher Zerfall und geistige Frische miteinander interagieren. Und man wundert sich, wie das gelebte Leben - das, was uns als Bios - vertraut ist in seinem Niedergang dem Geist nichts anzuhaben vermag. Über viele Jahre sind wir uns begegnet und haben uns unser Leben erzählt. Das erzählte Leben - die Kommunikation zwischen uns - hat sich auch dem Bios zugewandt, fühlbar und quälend, wenn wir im Café Richard am Kölner Dom in Ermangelung eines Aufzuges die geschwungene Treppe gemeinsam hinabgestiegen sind zur Verrichtung der Notdurft. Was er dabei erlebt hat - und was er in dieser schrecklich ernüchtertenden und progressiv voranschreitenden Differenzerfahrung von körperlichem Verfall und geistiger Haltung empfunden hat, beschränkte sich in der Kommunikation auf humorvolle und Distanz erzeugende Selbstironie. Man kann mit Sloterdijk glauben, dass hier eine "Verkehrsform unter Schauspielern-Bürgern" Gestalt annahm, "die sich auf der Basis von gut verteilter Selbstdistanz begegneten". Dies trifft weit mehr auf mein Gegenüber als auf mich zu: Meine Anregung zu einer autobiografischen Selbstreflexion wies er zurück mit dem Hinweis, da gäbe es nichts zu erzählen - bis vielleicht auf den Umstand, dass er sich als vitalen Menschen nur auf der Bühne erlebt habe. Und vielleicht erklärt sich so - nachdem auf der Bühne der letzte Vorhang gefallen war - sein Schreibzwang in einer ganz bestimmten Ausprägung: Da geht es um "Spiegelverkehrte Bildungswelten", in denen er Adalbert Stifters "Nachsommer" und Thomas Manns "Zauberberg nachspürt; er steigert sich in Reflexionen und Impressionen zu "Schuberts Klangbildern"; er kreiert eine Sammlung von Aphorismen und Miniaturen, die sich dem "Bühnenspiel der Menschen - dem Weltenspiel der Götter zuwenden; er spürt "Stimmen und Klängen des Lebens" nach, den "Partituren des Menschlichen"; er gibt Einblicke in "Charakterbilder" über "Figuren, Präludien und Geschichten"; er wendet sich den "Innenräumen des Ich" zu, indem er "Kammerspiele zur Interieurmalerei" inszeniert; den "Ernst des Lebens" sieht er im "Zugzwang" und abstrahiert ihn - ganz typisch - auf die 64 Felder des Schachspiels; am ehesten gibt er Einblicke in seine intimsten Bilderwelten in "Lebensmächte - Lebensszenen". Es ist der Prolog ("Der Karussellfahrer 1") und der Epilog ("Der Karussellfahrer 2), in dem der große Kreis sich schließt (siehe dazu: Im Gedenken an Winfried Rösler).

"Das ewige Weibliche zieht uns hinan." Wer sich als Mephisto sieht und davon kommt - dem Teufel letztlich seine Seele nicht verkaufen muss - findet sich hier wieder. Kann man in der Moderne am Unterschied männlicher und weiblicher Weltsicht - vielleicht trivialer und generell gesagt: Des In-der-Welt-Seins von Mann und Frau noch so sehr zweifeln; der unwiderlegbare, eindrückliche, galaktische Beweis für diesen Unterschied mag man in der Errettung des Versehrten, des Moribundus greifbar vor Augen haben. Mit George Steiner mag man vielleicht sogar so weit gehen, dass man angesichts der wiederholten Errettung geneigt ist, daran zu zweifeln, das >Gott< noch nicht ist. Dass er nämlich erst dann ins Sein treten oder, präziser in manifeste Reichweite menschlicher Wahrnehmung gelangen wird - wie Steiner meint -, "wenn es einen unendlichen Überschuß von Liebe über Haß gibt" - genau dies offenbart sich in der hingebungsvollen, rückhaltlosen (Für-)Sorge und Liebe der ihm Zugewandten.

Dass der Gewürdigte auch aus einem anderen Blickwinkel ein Besonderer war, mag uns die Sichtweise Clemens Albrechts (in: Rademacher/Wernet: Bildungsqualen – Kritische Einwürfe wider den pädagogischen Zeitgeist, Wiesbaden 2015) nahelegen. Gerne schließe ich mich der kleinen Skizze zu Winfried Rösler an:

Seine einleitenden Bemerkungen zum Lebenslangen Lernen im oben erwähnten Sammelband widmet er eben jenem Kollegen, Winfried Rösler. Clemens Albrecht erinnert sich an eine gemeinsame Fachbereichsratssitzung an der Uni Koblenz, an deren Ende ein älterer Kollege den Kopf schüttelt und meint: "Nein, das ist alle nicht mehr meine Welt, es wird Zeit das ich gehe." Und im Fortgang schreibt Clemens Albrecht:

"Dieser Kollege ist besonders. Er kann unsere universitären Feiern durch Klaviersonaten umrahmen, er liest die Pädagogik von Comenius über Schleiermacher bis zu Dewey wie eine selbst erlebte Geschichte, er publiziert über Cosi fan tutte als didaktisches Lehrstück. In seinem Arbeitszimmer türmen sich keine Kopien empirischer Studien über das Schreibverhalten linkshändiger Zweitklässler, sondern die Weimarer Goethe-Ausgabe thront hinter dem Stehpult. Kurz: Wo bei uns Normalprofessoren kleinbürgerliche Professionalität herrscht, hat er Stil. Was bedeutet für ihn die Forderung nach 'lebenslangem Lernen'? Denn dass er lernt, pausenlos lernt, ist eine Selbstverständlichkeit. Seminare und Vorlesungen müssen vorbereitet werden, neue Literatur rezipiert, er leitet die Theatergruppe der Universität und studiert Stücke ein, er wartet regelmäßig mit Funden aus der Lektüre auch entlegener Klassiker auf. Aber all das ist mit 'lebenslangem Lernen' wohl nicht gemeint, es ist gleichsam normalneues Wissen, Hobby, auch und gerade, wenn es in den Beruf eingebunden ist (Clemens Albrecht, a.a.O., S. 207)."

Im April 2022 ist Winfried Rösler aus dieser Welt gegangen - hat er nur die Räume getauscht? In meinen Träumen jedenfalls ist er gegenwärtig!