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Autoren und ihre Adressaten - Kurz vor Schluss (Teil II)

Vorbemerkung und Schluss: Der Trost für den Großvater, der ich inzwischen bin - vielleicht auch für den Vater, der ich schon seit fast 35 bzw. 33 Jahren sein darf - (vielleicht auch der Trost für den Onkel, gewiss für den Bruder und den Cousin - vielleicht sogar für den Ehemann) liegt möglicherweise darin, nicht ausschließlich für die Schublade oder den Schredder (Papierwiederverwertung) zu schreiben, sondern zumindest bei den Nachrückenden dann noch einmal Interesse zu wecken und zu befriedigen, wenn die Fragen mächtiger werden, die aber - wenn sie gestellt werden - von niemandem mehr beantwortet werden können. Die Quote ist überschaubar, der Lohn hingegen unermesslich.

Der nachfolgende Text (er beginnt mit der Einrückung) ist vor mehr als zwanzig Jahren geschrieben worden, veröffentlicht in: Ich sehe was, was du nicht siehst!? Komm in den totgesagten Park und schau! (Koblenz 2002, S. 307ff.) - das erste von nunmehr sieben Büchern; alle geschrieben nach meiner Heidelberger Zeit bei der IGST (1998-2000). Flankiert wurde das Schreiben von Veranstaltungsaktivitäten, mit deren Hilfe ich zum Beispiel Kopfschmerzen und Herzflimmern auf die Bühne des Café Hahn transponierte. All dies hat mich sicherlich mit davor bewahrt, nachhaltig verrückt zu werden (siehe eine erste Skizze dazu hier). So waren all die Publikationen in Buchform, die Aufsätze, Kommentare und Vorträge auch nie dazu gedacht - und noch viel weniger dazu geeignet - ein großes Publikum zu erreichen.

Dies verbietet sich allemal bei Kurz vor Schluss - Teil II. Während Kurz vor Schluss - Teil I als große Dankesgabe von mir noch selbst unter ein Publikum gebracht worden ist (im Rahmen meiner Verabschiedung aus der Berufswelt), wird dies bei Kurz vor Schluss - Teil II nur noch sehr bedingt der Fall sein. Das werden sowohl mein Publikum als auch ich verschmerzen können, da 20 Jahre Öffentlichkeit hinnehmende Publikationstätigkeit Öffentlichkeit eher als Randphänomen betrachtet hat. Dies war gewiss solange bedingt anders gelagert, wie ich meine virtuellen Aktivitäten in einem beruflichen Kontext verorten musste - sie waren zunächst ausschließlich dem wachsenden Druck geschuldet, meine Texte und meine Seminare hochschulöffentich zu präsentieren (www.fj-witsch-rothmund.de). Die passwortgeschützten Texte sind vor wie nach mit dem Kennwort: wiro2015 freizuschalten.

In der nun von mir durchaus angestrebten Drucklegung zu Kurz vor Schluss - Teil II, gingen mir frühe Auseinandersetzugen mit der Frage durch den Kopf, was denn der Antrieb dafür ist, eine Form der Mitteilung zu suchen, die sich immer noch des Mediums Buch bedient. Bei allen Unzulänglichkeiten, die der Art und Weise, wie ich Bücher mache, anhaftet, überwiegt das überwältigende Gefühl, die eigenen gedanklichen und begrifflichen Anstrengungen in gebündelter und gebundener Form in Händen zu halten. Ich lese oft in den von mir gemachten und herausgegebenen Büchern. Ich bleibe mir in gewisser Weise auf der Spur. Aber ich bleibe ja nicht nur mir auf der Spur. Kurz vor Schluss - Teil II ist das eindrücklichste Beispiel dafür, wie unsere Spuren verwoben sind und als Einkerbungen auch und immer wechselseitig spurenmächtig werden, waren und sind. Und viele Spuren führen über vermintes Gelände, führen in Räume mit weißen Elefanten. Sie hinterlassen einen Nebel, aus dem zuweilen auch diese Elefanten heraustreten und von mir gestreichelt werden. Dazu gehören alte Elefanten, die die alten Wege zu den alten geheimen Plätzen kennen und es tauchen junge Elefanten auf, die nur spielen wollen. All dies führt dann dazu, dass ich dieses Mal mein Buch niemandem aufdrängen werde, sondern nur ein ausgewähltes Publikum daran teilhaben lasse. Die anderen müssen Vorlieb nehmen mit abgespeckten Versionen, die im virtuellen Raum kursieren werden. Da ich mit meinem fulminanten Werk nicht auf der SPIEGEL-Bestseller-Liste auftauchen werde, werden die meisten potentiellen InteressentInnen dies verschmerzen können. Grundsätzlich ist der Unterschied zwischen dem gesprochenen und geschriebenen Wort gewaltig. Gespräche sind flüchtig und immer wieder erleben wir, dass bei der Rekonstruktion u.U. Welten aufeinander prallen, die offenbaren, dass jemand Gesagtes nicht gesagt hat oder gesagt haben will - ein infinites wechselseitiges Versteckspiel, das oftmals in unversöhnlichen Differenzen endet. Differenzen werden gleichermaßen sichtbar, wenn man Gedachtes, Gefühltes, Erlittenes, Geschenktes nicht nur in Worte fasst, sondern zwischen zwei Buchdeckel packt. Hier kann jemand verpflichtet werden auf das, was er geschrieben hat. Freilich ist es auch hier ein Leichtes im Aufgeschriebenen und Nachlesbaren ganz und gar unterschiedliche Sinnzusammenhänge zu sehen. Die Gesprächsgrundlage bleibt gleichwohl eine andere, denn die Bezugswelt ist immerhin in Worte und Sätze gegossen.

Auch Kränkungsakte und subjektives Kränkungserleben sind relativ. Man mag kaum glauben, wie empfindlich VIPs sich gerieren, wenn öffentliche Aufmerksamkeit - von der sie essentiell leben - knapp wird oder ihnen gar entzogen wird; eine öffentliche Aufmerksamkeit, die wir Otto-Normalverbraucher weder genießen noch gar für uns reklamieren wollten. Wer will schon im Licht öffentlichen Interesses stehen? Der müsste ja mit dem Klammerbeutel gepudert sein! So lesen sich die nachstehenden Überlegungen in einer gewissen Ambivalenz. Zu dem Hauptprotagonisten - Harald Schmidt - gibt es zwei aktuelle Randmeldungen: Dass Schmidt - bei aller unterstellten Genialität als Unterhalter - eine dünnhäutiges Mimose ist, ist bekannt. Uli Wickert hat ihn (zu sehen bei Maischberger am 22. Juni 2022) in den 90 Jahren als Tagesthemen-Chef einmal vorgeführt - einerseits in seiner unschlagbaren Arroganz und Hybris über den Sendezeiten zu stehen (als Moderator von "Verstehen Sie Spaß") - andererseits in seinen mimosenhaften und humorlosen Reaktionen, wenn er selbst sozusagen Spaß verstehen soll. In der zweiten Randbemerkung aus dem Rhein-Zeitung vom 23. Juni 2022 bekennt sich Schmidt selbst dazu ein "deutscher Vollspießer" zu sein. Wie sehr er damit offenbar des Pudels Kern trifft, tritt deutlich zutage, wenn er schreiben lässt: "Er sei nicht der Typ, der in New York zu Hause sei. Seinen privaten Sommerurlaub mit Familie verbringt er diesmal auf einem Segelboot rund um Sizilien." Er selbst lässt sich wörtlich zitieren: "Ich bin gespannt, ob es in den Buchten auch wieder so voll ist. Viele Oligarchen-Yachten sind ja eingefroren." Und mit zunehmendem Alter (immerhin 64) erkenne er immer deutlicher: "Ich brauche Deutschland, Schweiz oder Österreich. Room-Service, perfektes Internet." - Und: "Ich bin nur eine Millisekunde davon entfernt zu fragen: 'Haben sie auch Schnitzel?'." Der deutsche Edel-Spießer bedient als Traumschiff-Käptn inzwischen ja auch die Erwartungen des ganz normalen deutschen Durchschnittsspießers (ich gehöre übrigens als Bergdoktor-Fan auch dazu). Der folgende Text zeigt die Mimose Schmidt vor gut 25 Jahren noch als jungen Wilden. Und er gebiert dabei einen Gedanken, der mir nun die Blaupause zum Umgang mit meinem neuesten Werk Kurz vor Schluss - Teil II bietet:

Kennt ihr ein „System“, das in unseren Zeiten eindringlicher und penetranter den Modus - den binären Code - des Wirtschaftssystems von Haben und Nicht-Haben oder etwas operativer von Zahlen und Nicht-Zahlen zum öffentlichen Ritual erhoben hat als die Fernseh-Unterhaltung??? Spätestens seit der privatrechtlichen Öffnung von Fernsehen und Rundfunk bestimmen Quotenterror und der ökonomisch ausgefochtene Kampf um Fernsehrechte die Angebote und Strukturen des Radios und der Bildschirme. Als öffentlich-rechtlich Sozialisierter, der noch mit den Kindern von Bullerbü, Peterchens Mondfahrt und Sport-Spiel-Spannung á la Sammy Drechsel und Klaus Havenstein groß geworden ist, hängt mein Herz zu einem Fitzelchen immer noch an den fetten Trögen von ARD und ZDF die uns bald die „Dritte Heimat“ bescheren werden. Jawohl – ein klares Bekenntnis zu den hoffentlich noch lange geltenden Privilegien des öffentlich-rechtlichen Fernsehbetriebs.

Andererseits haben die Privaten mit Harald Schmidt die „inkongruente Perspektive“ schlechthin hervorgebracht. Oder ist es wohl umgekehrt? Bei den vom ZDF veranstalteten Mainzer Tagen der Fernsehkritik beispielsweise hat Schmidt sein Medium als Schrott, Müll und Scheißdreck beschimpft (nachzulesen im Spiegel 22/01, 101). Interessant ist aber weniger diese – Schmidts Durchschnittsniveau unterschreitende – Schimpfkanonade als vielmehr die Motive, mit denen Schmidt seine Fernsehaktivitäten begründet. Das Spiegel-Interview titelt mit der Selbstbeschreibung: „Ich mache es gegen die Langeweile“ und wartet dann im Verlauf mit grandiosen Paradoxien auf. Verbreitungsmedien wie der Spiegel oder auch das Fernsehen, ein privatwirtschaftlich geführter Sender wie Sat. 1 im besonderen, sind darauf aus, so könnte man mit Luhmann sagen, die Unwahrscheinlichkeit zu bearbeiten, dass die Kommunikation ihre avisierten Adressaten erreicht; und zwar derer möglichst viele (Quote/Auflage). Und dazu fällt Schmidt, dessen Marktanteile von April 2000 bis April 2001 kontinuierlich von 14 % auf 11 % gesunken sind, in besagtem SPIEGEL-Interview folgendes ein:

„Ich habe heute in der FAZ gelesen, dass jetzt auch mein Sat. 1-Chef Martin Hoffmann zum Intellektuellen abgestempelt wird. Sat. 1 der Intellektuellen-Sender, große Idee: ‚Früher brauchtest du etwas in der Hose, jetzt brauchst du was im Kopf. Aber wäre es nicht besser, so einen richtig irren Chef zu haben, der sich nachts die Sendekassette mit wahnsinnigem Gekreische anschaut, sie dann ins Regal stellt und niemandem mehr zeigt? Oder wenn Rudolf Augstein die neue Ausgabe des SPIEGEL drucken, in LKW packen und dann die ganze Auflage in die Nordsee kippen lassen würde? Ein gigantisches Heft, aber ihr dürft es nicht lesen (SPIEGEL, 22/01, S. 102)!"

Ja lieber Harald, du deutscher Edelspießer – ich schätze im übrigen seine Qualitäten als Entertainer außerordentlich – das könntest du doch leichter haben: Versuchs doch mal mit Lyrik; die kannst du schreiben und gleich in der Schublade verschwinden lassen, „gigantische“ Lyrik, und du kannst dir ins Fäustchen lachen und dir sagen: „Aber ihr dürft es nicht lesen!“ Ist dies nicht ein grandioser Übergang von der Seichtigkeit der Spaßgesellschaft zu den wahrhaften Anstrengungen der Daseinsbewältigung. An den Rändern der Gesellschaft und mitten in ihr wird noch gedichtet, was das Zeug hält, aber – lieber Harald Schmidt – keiner merkt niemand was davon. Du quotengeiler Spießer, schau dir doch mal die Auflagen von Lyrik an – selbst in renomiertesten Verlagen ein absolutes Luxusgut, knapp, knapper am knappesten. Mensch Schmidt, hier könntest du dich austoben. Höre, was Peter Fuchs in systemtheoretisch brillianter Diktion dazu sagt: „Das Ereignis ‚Gedicht’ ist abgeschirmt gegenüber der schnellen Zuweisung von bestimmtem Sinn. Zeitaufwendigkeit bezieht sich dann darauf, dass kommunikativen Anschlüssen das Moment einer leichten Identifikation von Fremdreferenz verweigert wird... Die Zeitaufwendigkeit kommt mithin sozial zustande, sie kommt einher als Kommentar, als De-Chiffrierung, als Rekonstruktion eines nicht feststellbaren Sinnes oder auch als ein weiteres Gedicht. Kommunikationsspezialisten sind damit ein Erfordernis, die sich einlassen auf eine Verweigerung und die sich, weil selbst zeitentlastet (wie Wissenschaftler, wie Dichter, wie Kritiker, wie Liebhaber), die Zeit nehmen können, die dieser Sonderdiskurs beansprucht. Es ist ein Diskurs der Langsamkeit, der das Tempo der Moderne nicht teilen kann, die auf schnelle, sofortige, am besten gestrige Anschlüsse setzt (Fuchs/Schmatz 1997)."

Der Trost für den Großvater, der ich inzwischen bin - vielleicht auch für den Vater, der ich schon seit fast 35 bzw. 33 Jahren sein darf - (vielleicht auch der Trost für den Onkel, gewiss für den Bruder und den Cousin) liegt möglicherweise darin, nicht ausschließlich für die Schublade oder den Schredder (Papierwiederverwertung) zu schreiben, sondern zumindest bei den Nachrückenden dann noch einmal Interesse zu wecken und zu befriedigen, wenn die Fragen mächtiger werden, die aber - wenn sie gestellt werden - von niemandem mehr beantwortet werden können. Die Quote ist überschaubar, der Lohn hingegen unermesslich.