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Noch ein kleiner Vorgeschmack mit einer kleinen Geschichte in der Geschichte – kurz vor Drucklegung von Kurz vor Schluss II am 17.6.2022

Nun sind die Bruchstücke für dieses Buch über die letzten zwei Jahre zusammengetragen worden. Ich habe mich entschuldigt für die sogenannten Redundanzen in diesem Buch – wohl auch schon vorausahnend, dass im engen Kreis der Familie manch einer stöhnen wird mit dem Kommentar: Nicht schon wieder! Gestern Abend (13.6.22) bei einem erinnerungsträchtigen Beisammensein hat mich mein alter Freund Herbert gefragt, wann ich denn Zeit zum Schreiben hätte. Weil mich – nach Fertigstellung des Textkörpers – so vieles bedrängt, der Körper eher daherkommt, wie ein Torso ohne Haupt und Glieder, bin ich heute Morgen um fünf Uhr aufgestanden und beginne dieses nachgeschobene Kapitel zu schreiben.

Es drängt mich, obschon ich an so vielen Stellen in diesem Buch darauf hinweise, wie elementar und singulär die Beziehung zu den eigenen Kindern ist. Es gibt die ästhetisierende Erinnerung in Unsere Kinder. Aber dies ist weder konkret noch befriedigend mit Blick auf die fast 35 bzw. 33 Jahre, die wir unsere Kinder und unsere Kinder uns haben dürfen; eben nicht nur in der Erinnerung, sondern im alltäglichen Leben in einem so engen Verbund.

Ich werde nun im Folgenden unter anderem eine einzige kleine Geschichte erzählen. Sie ist es wert erzählt zu werden, weil sie auch heute immer wieder einmal kolportiert wird und weil sie so sehr auch offenbart, dass unsere Kinder mit uns (auch) eine glückliche Kindheit hatten, und wir als Eltern mit unseren Kindern eben auch da (schon) glückliche Eltern waren, wo deren (und auch unser Leben) noch so sehr ins Offene drängte. Das bleibt ja auch so. Aber nachdem mit Claudias Mutter 2020 die letzte Ahne gestorben ist und wir auch generativ in der ersten Reihe stehen, relativieren sich auch Sorgen. Mit der erfolgten Lebenszeitverbeamtung Lauras und der durch Elternzeit nur aufgeschobenen Lebenszeitverbeamtung Annes sind wir nun dabei das Staffelholz weitergegeben. Unsere Kinder haben beruflich Fuß gefasst, so wie ihre Ehemänner und die ersten Enkelkinder sind geboren.

Wenn ich die kleine Geschichte nun damit beginne, zuerst einmal Fabian (Brass) zu seinem mit Bravour bestandenen Zweiten Staatsexamen (und inzwischen auch zu seiner Vaterschaft) zu gratulieren, dann zum einen, weil er hier – in dieser kleinen Geschichte – eine Rolle spielt und zum anderen, weil er als einer der Hauptprotagonisten (neben David, Laura und Anne) eine Freundschaft der Eltern bezeugen kann, die bis heute – seit über vierzig Jahren – Bestand hat. Diese kleine Geschichte bildet also den goldenen Kern in einem Gehäuse, das am Rande zugleich aber auch so viele Facetten aufscheinen lässt, die dazu taugen eine Geschichte, die fast dreißig Jahre zurückliegt als Exempel zu nehmen für die Dichte, die Bedrängnisse und – wie schon angedeutet – das Offene (das seinerzeit vor uns lag); uns, die wir jung waren, Kindergarten- und Schulkinder hatten und noch keine Ahnung hatten von so vielen Bewährungsproben, die noch vor uns lagen.

Mir wird beim Anlauf zu dieser Geschichte überdeutlich, wo die Grenzen eines solchen Projekts liegen. Rückblickend erklärt sich vielleicht insofern, warum ich in den letzten 25 Jahren etwa einen Meter Tagebücher zusammengeschrieben habe, die in der Tat in ihrer brutalen Authentizität keine Veröffentlichung zuließen. Sie stehen noch im Regal und in relativ kurzen Abständen stellt sich immer wieder einmal die Frage, ob und wann sie dem Schredder zugeführt werden müss(t)en.

Noch vor 1994 – diesem Schreckensjahr, das mit dem Tod meines Bruders den Zeitzünder auslöste für die Bombe, die 1997 mein engeres Umfeld in Schutt und Asche legte, unternahmen wir einige Urlaubstouren mit dem Wohnmobil. Zweimal führten sie uns in die Nähe von Ruoms. Dort mündet die kleine beschauliche Labeaume in die Ardèche. Nicht nur in unseren Erinnerungen erscheint der Campingplatz bei Pierre legendär. Abgelegen von den überlaufenen Campingplätzen an der Ardèche  bot die aufgelassene – nur mäßig gepflegte Pfirsichplantage ein unvergleichliches Ambiente. Oberhalb des Platzes, auf dem man seine Zelte, Wohnwagen oder Wohnmobile in Nischen unterbrachte, die – wie angedeutet – von Pfirsichbäumen gerahmt waren, betrieb Pierre ein Magazin, wo man sich mit den notwendigen Grundnahrungsmitteln versorgen konnte; Tomaten gab es gratis, weil sie einem praktisch – wie die leckeren Pfirsiche – in den Mund wuchsen. Unter dem so wuchernden Blätterdach konnte man sich der unmittelbaren Einstrahlung durch die brutale Sonne des Südens weitgehend entziehen. Eine schlichte Anlage mit Duschen und Toiletten rundete die Sache ab. Von dort hatte man einen Fußweg durch die Pfirsichplantage zu unserem Badeplatz an der Labeaume von etwa 200 bis 300 Metern. Zweimal – wie gesagt in den frühen neunziger Jahren hatten wir uns dort mit Marisa, Peter, Fabian und David verabredet.

Schon die Fahrt dorthin – mit unserem familientauglichen, gemieteten Wohnmobil war ganz sicher von der Qualität, die den Süden - vor allem für Claudia - so attraktiv macht. Man fährt eben aus der – seinerzeit noch halbwegs intakten mitteleuropäischen Klimazone (mit gemäßigten Temperaturen und ausreichenden Niederschlägen) in die Sehnsuchtszone so Vieler, um dennoch jene Nische zu finden, die uns - weit weg von jeglichem Massentourismus – die Illusion einer heilen Urlaubswelt vermitteln konnte. Hatte man Lyon hinter sich gelassen öffnete sich irgendwann der Blick und das Licht des Südens umfing einen mit seiner Aura. Irgendwann taucht dann der Atommeiler von Cruas auf. Das Rhone-Tal öffnet sich. Das war dann in etwa die Höhe, wo es galt die Rhone zu queren, während die Urlaubermassen weiterfuhren in Richtung Aix, Arles und weiter an die Cote d’Azur. Wir verschwanden dann in der französischen Provinz und ließen es uns gut gehen. Wir lebten auf Deutsch gesagt, wie Gott in Frankreich: Mit südlichen Früchten, Baguette und Fromage und billigem Rotwein. Wir waren weitgehend Selbstversorger – bis auf eine Ausnahme, die in dieser Geschichte noch eine besondere Rolle spielen wird. Unser vereinbarter Treffpunkt war der Marktplatz in Ruoms. Ein erster Aperitif zur Feier unserer Ankunft winkte als Willkommensgruß; der Jupp war scharf auf sein erstes Grimbergen, dass er als Grèmberjean orderte; darüber amüsieren wir uns noch heute köstlich.

Die Tage, die wir dann miteinander verbrachten, eröffneten vor allem auch unseren Kindern in der Tat ein wahres Urlaubsparadies. Anne lernte dort schwimmen, Laura schwamm schon wie ein Fisch. Aber auch ohne des Schwimmens mächtig zu sein, brauchte man dort als Eltern keine überbordenden Ängste aufzubauen. Die Labeaume bot Badeplätze der besonderen Art. Umgeben von Schatten spendenden Bäumen an den Ufern des Flüsschens eröffnete sich an einer Stelle im mäandernden Mündungsbereich ein Badeplatz, der sozusagen alles für sich hatte, was einen langen Aufenthalt überaus attraktiv machte: Es gab seichte Stellen, die einfach nur der Abkühlung dienten und an denen sich die Kinder nach Herzenslust tummelten; es gab tiefere Stellen, die zum Schwimmen einluden. Peter hat dort in hingebungsvollem Engagement Anne in die Welt des Schwimmens eingeführt. Seitdem war „Petar ein schöna Mann“, wie Anne (später) aufgeschrieben hat. Fabian hatte schon seine Leidenschaft fürs Angeln entdeckt und verschwand als damals schon etwa 10jähriger für die ein oder andere Stunde. Wir erinnern uns, dass er einmal sogar Laura mitgenommen hat, die das alles sehr aufregend und beeindruckend fand.

Es gab dort an der Labeaume vor allem Schattenplätze; man konnte lesen, erzählen, sich abkühlen und vor allem bot sich dem aufmerksamen Beobachter in unmittelbarer Nähe ein besonderes Spektakel, weil es den Jugendlichen offenkundig als Mutprobe galt von einem etwa sechs bis sieben Meter hohen Felsmassiv in eine Wasserkuhle zu springen, die von oben betrachtet sicher wie eine Pfütze erschien – insgesamt aber von Ausmaß und Tiefe her diese Sprünge auch zuließ. Zu sehen gab es alles Erdenkliche - von satter Natur an den Uferzonen bis hin zu dem bunten touristischen Völkchen, das an den Ufern oder kleinen Inseln und Landvorsprüngen Orte fand, ohne dass man in Bedrängnis geriet, ohne dass sich ein Gefühl sich breit machte: „Das ist zu nah – das ist zu viel!“ Allenfalls die ein oder andere Eierschlange drohte uns zu nahe zu kommen.

Auch wenn wir mit kleinem, überschaubarem Urlaubsbudget eher Selbstversorger waren, die alle Tage ein köstliches Mal auf den Campingstisch zauberten, musste zwischendurch auch einmal eine Belohnung sein für die alltäglichen Mühen. So entschlossen wir uns an einem Abend in die Berge zu fahren – vier Erwachsene und vier Kinder. Würden wir das heute wohl noch einmal wagen? Mit unserem Wohnmobil ließ sich das selbstredend nicht realisieren. Peter musste mit seinem – ich glaube es war ein gediegener Peugeot-Kombi – ran. Wir fuhren etwa eine halbe Stunde, mussten eine kleine Passhöhe überwinden, um dann in einem Seitental der Labeaume in einer Art Pizzeria Labsal zu finden. All dies wäre gewiss dem Vergessen anheimgefallen, hätte sich auf der Rückfahrt nicht etwas zugetragen, was in unserer Erinnerung in verklärter Form weiterlebt. Ganz gewiss hatten wir schon das ein oder andere Bierchen bzw. Weinchen – verkostet, als wir uns auf die Rückfahrt begaben. Die Stimmung war ausgelassen und wir freuten uns auf eine Fortsetzung auf unserer Pfirsichplantage.

Peter steuerte seinen Kombi souverän durch die Berge, bis kurz vor die Passhöhe. Die kurvenreiche Straße verlangte schon ein gediegenes Maß an Aufmerksamkeit und fahrerischer Disziplin, zumal wir den Eindruck hatten, die ein oder andere Haarnadelkurve nähme keine Ende. Da tauchte – ganz oben auf der Passhöhe – urplötzlich ein Fußgänger mitten auf der Straße auf. In dem knappen Zeitfenster, das sich nun auftat, blieb für uns ohne Belang, was diesen Menschen da umtrieb; ob der schlicht die Straße an der dafür partout ungeeignetesten Stelle überqueren wollte, ob der etwas verloren hatte und danach suchte, ob der suizidale Absichten hatte oder einfach nur blöd war und auf der Straße spazieren ging? Im (letztlich erfolgreichen) Versuch Peters, Schaden von diesem Menschen an diesem Unort abzuwenden, muss der wohl offenkundig den Eindruck gewonnen haben, Peter habe ihn im Visier und wolle ihn auf die Haube nehmen. Mit einem mächtigen Satz sprang er über die Leitplanke in die Böschungszone und verschwand. Wir trauten unseren Augen nicht und vermochten im Weiterfahren weder zu erkennen noch anschließend zu ergründen, wo unser Kontrahent gelandet war. Aber wir waren sicher, dass die Begegnung für die Gesundheit des Geflüchteten ohne Folgen blieb. Wir glauben uns aber immer wieder zu erinnern, dass im Rückspiegel/Rückblick wild gestikulierend und drohend ein Angehöriger des hier siedelnden Bergvölkchens auftauchte – für uns les arabs! Den Rest der Strecke zurück auf den Campingplatz schüttelten wir uns vor Lachen – natürlich immer in der trügerischen Gewissheit, Schaden von diesem Menschen abgewendet zu haben. Der weitere Abend verlief feucht-fröhlich immer wieder unterbrochen von heftigen Lachattacken.

Dass die unbeschwerte Atmosphäre dieser Urlaubstage uns auch heute noch erinnerlich ist und uns auch heute noch zum Schmunzeln bringt, all dies ist alles andere als selbstverständlich. Auch hier bietet sich im Rückblick die das Buch tragende Einsicht an, dass man sich glücklich schätzen kann, solche Erinnerungen in sich zu tragen und sie auch heute noch mit Freunden teilen zu können.

Andererseits erscheint nach einem langen Leben die Erkenntnis unausweichlich, das manches fragwürdige Handeln – meist in einem situativ und in actu unübersichtlichen Kontext – seine Fragwürdigkeit letztlich erst durch Wirkungen erweist, die in der Zukunft liegen; einer Zukunft, die inzwischen Vergangenheit ist und daher den Blick freigibt, auf das was einst als Zukunft noch vor uns lag.

Hat man die Siebzig überschritten kann man sich mit Fug und Recht die Frage stellen: Würdest du dein Leben noch einmal genau so leben? Meine Antwort in diesem Buch lautet ja: So wie sich ein lebensbedrohlich Erkrankter einer lebensbedrohlichen Rosskur unterzieht, um zu gesunden, erscheint der Höllenritt 1997 absolut alternativlos. Wer die Welt wieder klar wahrnehmen möchte, muss den dichten Schleier einer wahnhaft verstellten Weltsicht lichten und letztlich auflösen. Wohl kaum jemand vermag wohl Lehren aus den Fehlern anderer zu ziehen - hätte ich einen Wunsch frei, so wünschte ich mir, dass ein solcher Höllenritt meinen Kindern erspart bleiben möge (siehe Kapitel 21).

Dass solche Wünsche in erster Linie Wünsche bleiben, davon können viele Eltern ein Lied singen – es sind häufig genug Gesänge in Moll-Tonlagen. Aber zwischenzeitlich lichten sich auch die Irrungen und Wirrungen im intergenerativen Kontext. Ich schließe mit diesem Text ja unmittelbar an das Gedicht Unsere Kinder an. Es ist genau wie Perfekt im Nachgang und im Kontext meiner eigenen Lebenskrise entstanden und zeugt von der Not und der Sorge vieler Eltern um ihre Kinder, aber letztlich auch um sich selbst. Natürlich hoffe ich persönlich im Rückblick meinen eigenen Kindern nicht zu nahe gekommen zu sein, aber ihnen dennoch nahe genug gewesen zu sein, um sie in der ersten Stürmen des Lebens nicht ganz alleine zu lassen (den Sturmböen, die mit Studium und Beruf einhergehen, haben wir – wie ich glaube – als Familie mit Bravour getrotzt).

Mir sind natürlich Sascha, Andreas und Christian noch in guter Erinnerung. Wir haben uns im Familienkontext gemeinsame Reisen und Urlaubsunternehmungen gestattet Und als Mann – so hoffe ich - konnte ich vor allem den jungen Männern ein wenig zur Seite stehen, als sie verrückt wurden oder sich selbst verrückten. In dem Spiel, das nur zu zweit geht, erwiesen sich die Spielfelder – ähnlich wie von Dirk Baecker beschrieben – als recht uneben und undurchschaubar. Sich aus dem Elternhaus zu lösen, neue Bindungen einzugehen, es auszuhalten, dass diese Verbindungen nicht in eine lange Dauer trugen, neu zu beginnen, neues Vertrauen zu fassen und zu vermitteln – all dies sind ja zentrale Herausforderungen in der Begründung und Festigung des eigenen Lebens und Liebens. Für Andreas endete dieser Aufbruch vor der Zeit. Ich werde ihn immer erinnern, als den Suchenden und Zweifelnden, der viel zu früh aus einem Leben gerissen wurde, in dem er beruflich und privat eben Fuß zu fassen begann.

Die größte Leerstelle hat mein Bruder hinterlassen. Die Bürde, die ich spürte, als er von einem Tag auf den anderen aus unserem Leben gerissen wurde, war übergroß; sie vergrößerte sich mit Blick auf seine Kinder, meine Nichten. So möchte ich diesen kurzen Einschub abschließen mit einer Hommage an die beiden und eine Würdigung ihrer Lebensleistung. Auch die beiden konnten wir begleiten und vielleicht mithelfen, den ein oder anderen Stolperstein beiseite zu räumen. Mein Erstaunen mischt sich mit großem Respekt vor dem, was sie geleistet haben und leisten: Ann-Christin mit ihrem engagierten und erfolgreichen Weg durch die schulischen Herausforderungen; gemeinsam mit Jens und Matti nach einem schwierigen Start in ihrem privaten Umfeld. Und schließlich Kathrin mit Eigensinn, der sich beruflich auszahlt. In diesen Zeiten des Umbruchs vor allem auch im gesamten Mediensektor sich als Redakteurin bei einem renommierten Wirtschaftsblatt zu etablieren ist nicht von schlechten Eltern. Aber auch bei den beiden erinnere ich die tastenden Schritte in die Welt, in der man auf der Suche nach einem Gegenüber ist. Auch hier hoffe ich mit meinem Beitrag Nr. 89 in Kurz vor Schluss I nicht zu weit gegangen zu sein. Die Not war seinerzeit groß. Inzwischen haben unsere Töchter und Nichten jedoch ein Alter erreicht, in dem sie teils abgeklärter wirken als ihre Eltern.

Schreibt man dies hier so beiläufig auf in der Haltung eines Chronisten, beschleicht einen das Gefühl sich eher in Plattitüden zu ergehen. An anderer Stelle (in Kurz vor Schluss I) habe ich diese eindimensionale Betrachtungsweise bereits durchbrochen, indem ich immer darauf hingewiesen habe, dass neben dieser Dimension des erzählten Lebens weitere Dimensionen gibt. Wir sprechen von erlebtem und dem gelebtem Leben. Im erzählten Leben begegnen wir uns. Es offenbart nur bedingt, was wir denken (erlebtes Leben im Modus von Gedanken) und fühlen (gelebtes Leben im Modus von Bios und Affekt). Darin beruht einerseits ein wirksamer Schutz gegen Indiskretionen. Kommunikation allein ist der Modus, in dem wir uns begegnen, uns unser Leben erzählen. Intensiv wird dieser Diskurs, wenn wir nicht nur Dönekes erzählen, sondern vielleicht lebensbestimmende Entscheidungen treffen und dies im sozialen, familiären Umfeld auch wahrgenommen wird und zu Gesprächsangeboten und Gesprächen selbst führt. Hier im Kontext dieses Buches will ich das nicht vertiefen – vieles davon enthält Kurz vor Schluss in seinem ersten Teil. Ich möchte lediglich darauf hinaus, dass ich den Menschen, denen ich mich verbunden fühle mit Blick auf ihr gelebtes Leben vor allem eine intakte Biologie wünsche, die ihnen im Großen und Ganzen ein intaktes, positives Lebensgefühl vermittelt. Das markiert bereits die Schnittstelle zu dem, was ich unter erlebtem Leben verstehe. Das gute Gefühl ein gutes Leben im richtigen – vor allem auch in einem gesunden – Körper zu leben, soll davor schützen verrückt zu werden. Und hier meine ich tatsächlich den wirksamen Schutz davor, dass man sich nicht verlieren möge zwischen Selbstpol und Fremdpol. Beide Pole markieren an ihren Endpunkten jenen Spannungsraum, der von uns allen zu bewältigen und zu gestalten ist, ohne dass wir zu Autisten mutieren, die sich im Selbstpol verlieren (für andere kaum noch oder gar nicht erreichbar) oder auf der anderen Seite zu Everybodys Darling werden (ohne eigenen Kern – ohne eigenen Kopf und ohne eigene Haltung). Dass ich hier nicht scherze, sondern den Ernst des Lebens im Blick habe, wird mir immer gegenwärtig sein im Andenken an meine Tante Annemie (siehe Kapitel 13).

Auch dieses Buch ist eine Einladung sich im erzählten Leben zu begegnen: Lasst uns miteinander reden! Lasst uns - solange wir wach und lebendig sind - das gemeinsame Miteinander im Gespräch suchen. Dass dieses Buch ganz gewiss Anlässe schafft, dürfte auf den Hand liegen. Denn Herbert hat einen sensiblen Punkt angesprochen – wann schreibst du??? Ja, ich schreibe in jeder Lebenslage. Nur die Anstrengung des Begriffs, das Zurücktreten und distanzierte Schauen schützt vor vorschnellen Urteilen. Nur das besonnene Zurücktreten (die Luhmannsche Selbstdesinteressierung) hilft uns jene Schätze zu bergen, die ansonsten im Ozean des Vergessens untergehen. In der Zugehörigkeit, Geborgenheit und in der Entschiedenheit manifestieren sich jene Kostbarkeiten, deren Urvertrauen und Bindung spendende Kraft auch durch Sprachlosigkeit bedroht wird. Wir sollten wissen, wie dünn das Eis ist, das uns als Familie(n) trägt, wie farblos und dunkel die Welt ist, wie dumpf und ohne jeglichen Widerhall die Welt ist ohne den Klang und die Strahlkraft gemeinsamer Geschichte(n).

In diesen Nachtrag schließe ich einmal mehr meinen Dank an Steffen Zink ein. Er hat schon Teil I von Kurz vor Schluss redaktionell und technisch betreut. Dass dieses Buch gedruckt werden kann, verdanke ich seiner fachlichen Kompetenz genauso wie seinem Langmut gegenüber einem digital analphabet. Danke!