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Kurt Tucholsky als Gallionsfigur der Pazifisten?

Eine Entgegnung auf einen Freund

Kurt Tucholsky allein als friedensbewegten Pazifisten zu verkaufen, das greift bei Weitem zu kurz: Ich sehe und verehre ihn in seiner Hellsicht, so wie er 1928 schon schreibt und zu vielfältigsten Formen des Widerstands aufruft:

"Wir verraten einen Staat, den wir verneinen, zugunsten eines Landes, das wir lieben, für den Frieden und für unser wirkliches Vaterland: Europa"

Kurt Tucholsky nehme ich heute wahr als zutiefst verzweifelten Demokraten, dessen Pazifismus nicht den Hass besänftigen konnte, mit dem er die Entwicklung in Deutschland und die seiner Repräsentanten - in Gestalt der Nazis (die er als "Tiere" etikettiert) - wahrgenommen hat. Wenn ich das lese, dann bestätigt sich mein Unbehagen, und mir wird mehr als deutlich, dass Tucholsky in den Wahnsinn und auch in den Tod getrieben worden ist, weil er schon während der Weimarer Republik und erst recht nach der Machtübernahme der Nazis vorausgesehen hat, was da kommt. Er hatte längst begriffen, dass eine pazifistische Grundhaltung gegen die Nazis aussichtslos war.

Tucholsky sparte auch nicht mit Kritik an demokratischen Politikern, die seiner Meinung nach zu nachsichtig mit ihren Gegnern umgingen. Nach dem Mord an Außenminister Walther Rathenau 1922 richtete er in einem Gedicht einen Appell an die Selbstachtung der Republik:

„Steh einmal auf! Schlag mit der Faust darein!
Schlaf nicht nach vierzehn Tagen wieder ein!
Heraus mit deinem Monarchistenrichter,
mit Offizieren – und mit dem Gelichter,
das von dir lebt und das dich sabotiert
an deine Häuser Hakenkreuze schmiert.
[…]
Vier Jahre Mord – das sind, weiß Gott, genug
Du stehst jetzt vor dem letzten Atemzug.
Zeig, was du bist. Halt mit dir selbst Gericht.
Stirb oder kämpfe. Drittes gibt es nicht.“

Rathenau. In: Die Weltbühne. 29. Juni 1922, S.653 Gleichzeitig blieb er ein kritischer Beobachter der Zustände in Deutschland. So prangerte er im April 1927 in dem dreiteiligen Artikel Deutsche Richter in der Weltbühne die in seinen Augen reaktionäre Justiz der Weimarer Republik an. Nach Tucholskys Überzeugung war eine zweite, diesmal erfolgreiche Revolution nötig, um eine grundlegende Änderung der undemokratischen Verhältnisse herbeizuführen. Er schrieb:

„Gibt es keine Gegenwehr? Es gibt nur eine große, wirksame, ernste: den antidemokratischen, hohnlachenden, für die Idee der Gerechtigkeit bewußt ungerechten Klassenkampf. … Es gibt, um eine Bürokratie zu säubern, nur eines. Jenes eine Wort, das ich nicht hierhersetzen möchte, weil es für die Herrschenden seinen Schauer verloren hat. Dieses Wort bedeutet: Umwälzung. Generalreinigung. Aufräumung. Lüftung.“

Deutsche Richter. Die Weltbühne. 12., 19. und 26. April 1927 oder:

Ganz ähnlich argumentierte er 1928 in dem Artikel November-Umsturz, einer Bilanz von zehn Jahren Republik: „Die deutsche Revolution steht noch aus.“ Vorübergehend näherte sich Tucholsky der KPD an und veröffentlichte klassenkämpferische Propaganda-Gedichte in der parteinahen A.I.Z. Das Gedicht Asyl für Obdachlose! endet mit dem einprägsamen Vers:

„Wohltaten, Mensch, sind nichts als Dampf.
Hol dir dein Recht im Klassenkampf –!“

Arbeiter Illustrierte Zeitung, 1928, Nr. 37, S. 10 oder:

 Wenige Tage vor seinem Tod schrieb er noch einmal, dass er die Entscheidung vom Sommer 1932 - nicht zur Prozesseröffnung gegen Ossiezky gekommen zu sein - bereut habe. Er spricht im übrigen hier von den Nazis als "T i e r e n":

„Aber im Falle Oss bin ich einmal nicht gekommen, ich habe damals versagt, es war ein Gemisch aus Faulheit, Feigheit, Ekel, Verachtung – und ich hätte doch kommen sollen. Daß es gar nichts geholfen hätte, daß wir beide sicherlich verurteilt worden wären, daß ich vielleicht diesen Tieren in die Klauen gefallen wäre, das weiß ich alles – aber es bleibt eine Spur Schuldbewußtsein.“

Brief an Hedwig Müller vom 19. Dezember 1935, in: Kurt Tucholsky: Briefe. Auswahl 1913–1935. Berlin 1983, S. 325 ff. oder:

In seinem letzten Brief an den nach Palästina emigrierten Schriftsteller Arnold Zweig vom 15. Dezember 1935 setzte er sich vor allem kritisch mit dem ausgebliebenen Widerstand der deutschen Juden gegen das NS-Regime auseinander. Er zog darin resigniert Bilanz aus seinem politischen Engagement in und für Deutschland:

„Das ist bitter, zu erkennen. Ich weiß es seit 1929 – da habe ich eine Vortragsreise gemacht und „unsere Leute“ von Angesicht zu Angesicht gesehen, vor dem Podium, Gegner und Anhänger, und da habe ich es begriffen, und von da an bin ich immer stiller geworden. Mein Leben ist mir zu kostbar, mich unter einen Apfelbaum zu stellen und ihn zu bitten, Birnen zu produzieren. Ich nicht mehr. Ich habe mit diesem Land, dessen Sprache ich so wenig wie möglich spreche, nichts mehr zu schaffen. Möge es verrecken – möge es Rußland erobern – ich bin damit fertig.“

Kurt Tucholsky. Politische Briefe. Reinbek 1984, S. 121 und so heißt es auch schon 1928, um den Pazifismus Tucholskys einmal einzuordnen:

„Wir halten den Krieg der Nationalstaaten für ein Verbrechen, und wir bekämpfen ihn, wo wir können, wann wir können, mit welchen Mitteln wir können. Wir sind Landesverräter. Aber wir verraten einen Staat, den wir verneinen, zugunsten eines Landes, das wir lieben, für den Frieden und für unser wirkliches Vaterland: Europa.“

Ignaz Wrobel: Die großen Familien. In: Die Weltbühne, 27. März 1928, S. 471.