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Peter Bieri - Eine Art zu leben - Über die Vielfalt menschlicher Würde: Teil I

Die Würde des Menschen ist unantastbar (Artikel 1 Absatz 1GG)

Würde als Lebensform?

2013 veröffentlichte Peter Bieri seine Befassung mit einer abstrakten Fragestellung. Seine zentrale These dabei läuft allerdings darauf hinaus, dass Würde keine abstrakte Eigenschaft ist, „sondern eine bestimmte Art zu leben. Sie drückt sich darin aus, dass wir Selbstständigkeit, Wahrhaftigkeit und echte Begegnungen zum Maßstab unseres Handelns machen“. So sieht es zumindest Peter Bieri, der mich als Pascal Mercier immer wieder faszinierte – besonders mit seinem Nachtzug nach Lissabon, weniger mit dem Gewicht der Worte.

Hilfreich erscheint mir seine Art und Weise, mit der er eine abstrakte Denkanstrengung strukturiert, indem er davon ausgeht, dass man an der Lebensform der Würde drei Dimensionen unterscheiden könne:

Die eine ist die Art, wie ich von den anderen Menschen behandelt werde. Ich kann von ihnen so behandelt werden, dass meine Würde gewahrt bleibt, und sie können mich so behandeln, dass meine Würde zerstört wird […] Die zweite Dimension betrifft wiederum die anderen Menschen, mit denen ich zusammenlebe. Doch dieses Mal geht es nicht darum, wie sie mich behandeln. Es geht darum, wie ich sie behandle, und, weiter gefasst, wie ich zu ihnen stehe: was für eine Einstellung ich zu ihnen habe. Es geht darum, wie sie, von mir aus betrachtet, in meinem Leben vorkommen […] Auch in der dritten Dimension bin ich es selbst, der über meine Würde entscheidet. Es geht um die Art, wie ich zu mir selbst stehe. Die Frage, die man stellen muss, lautet: Welche Art mich selbst zu sehen, zu bewerten, zu behandeln, gibt mir die Erfahrung der Würde? Und wann habe ich das Gefühl, meine Würde durch die Art und Weise zu verspielen, wie ich mich zu mir selbst verhalte (S. 12f.)?“

Peter Bieri sieht seine Bemühungen als den Versuch einer Vergewisserung über das menschliche Leben insgesamt. Er möchte die Frage beantworten: „Was ist das eigentlich für ein Leben, das wir da als Menschen leben müssen? Worin bestehen seine Zumutungen? Und wie können wir sie am besten bestehen?“ Er führt den Begriff eines Gleichgewichts ein. Das Verlieren und Wiedergewinnen habe etwas von verlorenem und wiedergewonnenem Gleichgewicht. Eine unwiderruflich verlorene Würde sei ein verlorenes Gleichgewicht, das nie wieder herzustellen sei.

„Für dieses besondere Gleichgewicht steht der Begriff der Würde. Er ist unverzichtbar. Fehlte er uns, könnten wir etwas Wichtiges an unserer Erfahrung gedanklich nicht fixieren und nicht zur Sprache bringen. Es wäre als hätten wir einen blinden Fleck im gedanklichen Blickfeld (S. 15).“

Am Ende seiner Einleitung betont Peter Bieri, es ginge ihm hauptsächlich um die Vergegenwärtigung von vertraute Erfahrungen und dabei diese so reich und so genau wie möglich zur Sprache zu bringen:

„Es kam darauf an, über konkrete Menschen in konkreten Situationen zu sprechen, um in einem letzten Schritt dann zu abstrakteren Beschreibungen zu gelangen.“

Ihm steht klar vor Augen, dass man sich dabei in verquere Überlegungen verstricken kann. Dieses Bewusstsein gelte es wachzuhalten. Es führe immer wieder zu folgender zentralen Frage:

„Sind wir sicher, frage ich mich, dass etwas eine echte Erfahrung ist und nicht nur eine Wortspiegelung, eine sprachliche Fata Morgana? Etwas, was wir uns bloß einreden? Der Zweifel, wie ein Irrlicht, ist nie ganz zu bändigen (S. 16).“

In diesem Beitrag geht es primär um die von Peter Bieri im abschließenden Kapitel 8 zusammengetragenen Überlegungen zu Würde als Anerkennung der Endlichkeit (S. 331-373). Es liegt auf der Hand, warum ich mich – kurz vor dem Siebzigsten – in erster Linie auf dieses Kapitel konzentriere. Bereits der erste Satz verdeutlich, worum es geht: „Durch Alter oder Krankheit kann es dazu kommen, dass wir unsere Selbstständigkeit als Subjekte verlieren.“ Bieri spricht vom Prozess des langsamen Verfalls ins Alter und ins hohe Alter hinein. Er bringt auf den Begriff, was unserer Familie in der Begleitung des (Schwieger-)Vaters in und durch die Demenz widerfahren ist:

„Am Ende sind wir auch keine Partner von Begegnungen mehr. Wir werden einsam, weil wir nicht mehr wissen, wie das geht: jemandem begegnen. Wir haben den Sinn für Intimität und Nähe verloren. Durch beides, die verlorene Selbständigkeit und die verlorenen Begegnungen, gerät die Würde in Gefahr (S. 331).“

Während ich Peter Bieris Text referiere, wird mir überdeutlich, wie sehr seine einleitenden, strukturierenden Hinweise – wie werde ich von anderen Menschen behandelt, wie behandele ich andere Menschen und wie stehe ich zu mir selbst – meine eigene Erfahrungswelt und Praxis in den letzten 25 Jahren begleitet haben. Der erste Abschnitt in Kapitel 8 gilt dem Aspekt

Wenn andere sich verlieren:

In der Feststellung, dass es geschehen kann, dass Menschen, die zu unserem Leben gehören, nach und nach ihre früheren Fähigkeiten verlieren, spiegeln sich – wie schon erwähnt – die letzten Lebensjahre meines Schwiegervaters wider. All die damit verbundenen Begleiterscheinungen erwähnt Peter Bieri und konzediert, dies sei schlimm und manchmal unerträglich: „Aber es nicht aus sich heraus schon etwas, was die Würde zu bedrohen vermöchte (S. 331).“ Auch die damit verbundene Wahrnehmung der zunehmenden Abhängigkeit als Ohnmacht gehörte zu den bitteren Anfangserfahrungen eines Mannes, der noch knapp zehn Jahre zuvor Planung Bauleitung unseres Hauses in seiner Regie und Verantwortung hatte. Mit dem klaren und unmissverständlichen Hinweis, dass es in unserer Hand liege, die anderen – also in unserem Fall den (Schwieger-)Vater, Opa und Ehemann – so zu unterstützen, dass sich diese Ohnmacht nicht in Demütigung und eine Bedrohung der Würde verwandele, steckt Peter Bieri die Herausforderung und den Handlungsrahmen ab, die/den es zu gestalten gilt. Wir hatten die Mittel, den gemeinsamen Willen Leo von 2006 bis 2010 in seinem eigenen Haus zu begleiten und bis zu seinem Tod zu pflegen. Das bedeutet zunächst – wie Peter Bieri schreibt:

„Wir sind mit ihnen nach wie vor in engagierten Begegnungen verbunden, und die Verschränkung im Denken und Fühlen schreibt die frühere seelische Intimität fort. Der Verlust der Fähigkeiten bringt unser Verhältnis zu ihnen nicht ins Wanken (S. 332).“

 Was dies aber weiterhin bedeutet, spricht Peter Bieri mit Blick auf die einzelnen Stufen an, die einen solchen progressiven dementiellen Prozess häufig charakterisieren:

„Anders erleben wir es, wenn die schwindenden Fähigkeiten die seelische Identität der anderen zerbröckeln lassen.“ Solche entstehende Lücken können bedeuten, „dass wir das Tun immer weniger verstehen und immer weniger gut voraussehen können. Die anderen sind auch jetzt noch Urheber von Handlungen, sie bleiben Täter, deren Tun Ausdruck ihres Erlebens ist (S.332).“ In einem Demenztagebuch habe ich versucht diesen progressiven Prozess – die Fragmentierung und den unaufhaltsamen Verfall des Selbst – nachzuzeichnen. Ich halte die Anregungen und Beobachtungen Peter Bieris für enorm hilfreich, obgleich ich bestimmte Aspekte anders nuancieren würde. Die Unsicherheit, von der Peter Bieri spricht, ob jemand noch zu Hause ist, hängt entscheidend von der Bewertung der Umstände ab, die dem anderen noch irgendwie – und sei es noch so rudimentär – das Gefühl vermitteln können zu Hause zu sein. So sind wir – bei aller sich zwischendurch einstellenden Verzweiflung und Erschöpfung – mehr als zehn Jahre nach Leos Tod – schlicht erleichtert und beglückt, Leo in seinem zu Hause begleitet zu haben; nicht ohne dabei spätestens hier Katarzyna, Marlena und Stascha zu erwähnen, die so Vieles ermöglicht und erleichtert haben.

Peter Bieris Zweifel, „ob wir es noch richtig machen mit diesen Menschen“, kann ich nachvollziehen, aber immerhin für uns ausräumen. Schließen wir dieses erste kleine Kapitel ab mit einer Überlegung Peter Bieris, die ich hier gerne zu bedenken geben möchte. Dies allerdings mit der Einschränkung, dass Bieri hier nur einen kleinen Ausschnitt im progressiven Geschehen dementieller Prozesse im Blick hat. In den letzten, bitteren Phasen des völligen Selbstverlustes beschränkt sich der Austausch eben doch auf das, was man auch Säuglingen und Kleinkindern angedeihen lässt (siehe weiter unten): liebevolle Ansprache, Zuwendung – streicheln, sanfte Massage (dies beherrschte niemand so, wie Stascha). Hier geht es um eine allumfassende Dimension von Wohlbefinden, das auch in die Seele strahlt. Wie sehr sich die lange, lange Begleitung eines an Demenz Erkrankten bis in den Tod von der Herausforderung einer viel situativer gerahmten Sterbebegleitung unterscheiden kann, ist weiter unten zu diskutieren und zu erörtern.

„Ihre Würde zu verteidigen, heißt, einer solchen Behandlung entschieden entgegenzutreten (die an Demenz erkrankte grundsätzlich wie Kinder anspricht und behandelt, Verf.). Es heißt auch, sie zu Wort kommen zu lassen – selbst wenn, was sie sagen, verschroben und bizarr erscheinen mag. Auch ihnen zu widersprechen, ist wichtig: Im Widerspruch liegt Anerkennung als Partner einer Auseinandersetzung. Man kann versuchen, sich solidarisch mit ihnen zu zeigen, indem man sie spüren lässt: Wir wissen, dass es auch uns treffen kann. Die Solidarität der Sterblichen. Und noch etwas ganz anderes ist wichtig im Kampf um ihre Würde: zusammen lachen und Blödsinn machen. Im gemeinsamen Lachen kann es auch dann noch zu einer wortlosen Begegnung kommen, wenn alle anderen Brücken eingestürzt sind (S.335).“