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Traumatisierung und Sprachlosigkeit II

Der Begriff Trauma/Traumata bedeutet psychische Ausnahmesituation („Psychotrauma“). Ausgelöst durch Grenzsituationen ( z.B. Gewalttat, Krieg oder Katastrophe), die eine Bedrohung für das Leben oder die körperliche Unversehrtheit des Betroffenen oder einer nahestehenden Person darstellt. Das fatale und heimtückische am Phänomen der Traumatisierung - gerade auch bei jungen Menschen - beruht auf dem Umstand, dass jemand im Alltag gewissermaßen funktionieren kann, den an ihn gestellten Erwartungen mehr oder weniger gerecht wird, ohne sich - auch selbst - explizit und manifest als jemanden zu verstehen (und auch zu erleben), dem es nicht gut geht, der insgesamt an seinen Wünschen, Träumen und Möglichkeiten vorbei lebt. Nur eine therapeutischer Begleitung, die sich strikt einer neutralen Haltung unterwirft, vermag hier hilfreich zu agieren. Ganz zum Schluss des Beitrags bietet Angelika Glöckner eine Vorgehensweise an, die eine Offenheit für unkonventionelle Interventionen voraussetzt. Häufig sind die emotionalen Blockaden einer solchen Intervention gegenüber so ausgeprägt, dass die eigene Bedürftigkeit hinter den eigenen Blockaden und den eigenen Vorbehalten zurückstehen muss.

Andererseits ist unwidersprochen, dass ein frühzeitiges Hilfsangebot – unmittelbar nach dem ein Trauma auslösenden Ereignis (möglichst noch vor Ort) – bei der Bewältigung helfen und das Risiko für die Entwicklung späterer Traumafolgestörungen mindern kann. Erweist sich eine traumatische Erfahrung als extrem belastend, kann nach einer Erstintervention eine Krisenintervention notwendig werden. Gespräche können eine Möglichkeit sein, bei der Bewältigung einer belastenden Situation zu helfen. Die Einordnung in einen Gesamtzusammenhang erweist sich in der Regel als hilfreich, um zu einer Haltung zu gelangen, die Distanz schafft - verbunden mit der Erkenntnis: Es war die Hölle, aber ich habe es überstanden. In diesem Zusammenhang spricht man auch vom Phänomen des postraumatischen Wachstums:

"Traumatisierung kann – so erstaunlich es klingen mag – in manchen Fällen sogenanntes posttraumatisches Wachstum/posttraumatische Reifung nach sich ziehen. Das bedeutet, dass die betroffene Person das Erlebte verarbeitet und bewältigt hat und daraus für das weitere Leben Zuversicht bezieht. Hierbei spielt unter anderem die seelische Widerstandskraft (Resilienz) eine Rolle (siehe Link zum Begriff Psychotrauma)."

Eine solche Entwicklung kann weder zuverlässig prognostiziert noch erzwungen werden. Posttraumatisches Wachstum ist wohl eine Voraussetzung dafür, dass Menschen wieder einen annähernden Gleichgewichtszustand erleben, der mit eigenem Wohlbefinden einhergeht. Belastende - eben traumatische - Erfahrungen sind aller Erfahrung nach nicht revidierbar. Sie bleiben in ihrem Erleben und in ihren Folgen belastend. Sie schließen auf der anderen Seite aber eben nicht aus, dass Betroffene an frühere Stärken und Kompetenzen anschließen können und:

  • sich im Lauf der Zeit ihrer eigenen Stärken wieder bewusst werden,
  • dabei neue Perspektiven im Leben entdecken,
  • negative Einflüsse abwehren und positive Impulse verstärken,
  • dabei das Leben in einer Haltung intensiverer Wertschätzung wieder annehmen.

Anne-Ev Ustorf (Jg. 1974) nimmt in der Einleitung zu ihrem Buch: Wir Kinder der Kriegskinder - Die Generation im Schatten des Zweiten Weltkriegs (Verlag Herder, Freiburg 2008 - erweiterte Neuausgabe 2016) Bezug auf die eigene Familiengeschichte. Mit Mitte 20 beginnt sie eine Psychoanalyse und lernt dabei - wie sie schildert - ihre eigenen Gefühle besser spüren und mitteilen zu können:

"Erst als ich begann, mich bewusst mit der Geschichte meiner Eltern, speziell der meiner Mutter, auseinanderzusetzen, ließ der innere Zwang nach, mich mit Schicksalen der in Deutschland lebenden Flüchtlingskinder zu beschäftigen [...] Hinzu kam in der Familie meiner Mutter kurz vor dem Mauerbau noch eine traumatische Flucht von Ost- nach Westdeutschland mit monatelangen Aufenthalten in Flüchtlingslagern und anschließendem mühsamen Neuanfang in der Nachkriegs-BRD [...] Hinter der emotionalen Unerreichbarkeit meiner Eltern, hinter ihrem unbedingten Leistungswillen und ihrer offensichtlichen Stärke verbargen sich Ängste und Bedürftigkeit (S. 18)."

Aus den vielen geschilderten Einzelfällen ergibt sich ein Strukturmuster, das einer wirksamen Traumabewältigung entschieden im Wege steht: Anne-Ev Ustorf resümiert:

"Doch mehr als alles andere hat uns wohl die emotionale Sprachlosigkeit in unseren Familien geprägt. In der emotionalen Fremdheit zwischen den Generationen erkennen die Psychoanalytiker Hartmut Radebold und Werner Bohleber einen der wichtigsten Gründe dafür, dass heute so viele Kinder von Kriegskindern in Psychotherapie sind (S. 19)."

In Sprachlosigkeit manifestiert sich jenes Phänomen, dass oft genug Generationen und Menschen voneinander trennt, die einander eng verbunden sind. Angelika Glöckner (Lieber Vater, liebe Mutter..., Freiburg 1999) greift auf einer psychotherapeutischen Ebene verschattete Kindheit als Grundphänomen auf und bietet Methoden an, sich mit konfliktbeladenen Beziehungen auseinanderzusetzen und Lösungen zu erwägen. Über unsere persönlichen frühen Geschichten diskutiert und spiegelt sie unterschiedliche Bindungsmodi und sucht nach problemorientierten Lösungen für emotionale Blockaden. Ich beschränke mich im Folgenden auf zusammenfassende Heinweise und greife ein Angebot Angelika Glöckners an ihre Leser auf:

Eine Zusammenfassung wichtiger Erkenntnisse im Hinblick auf das Kraftfeld des familiären Systems (a.a.O., S. 179-181):

"Bedenken Sie immer wieder:

Angelika Glöckner bietet in der Folge die Möglichkeit zu einer kleinen Reise durch unsere eigene Vergangenheit an (a.a.O., S. 207ff.). Sie verbindet dies mit dem Hinweis, die Anleitung zu lesen, und dann der Frage nachzuspüren, ob man - geführt durch die Fragen und rituellen Vollzüge - mitgehen möchte:

"Lassen Sie sich jetzt an ihre Ursprungsfamilie denken, und spüren Sie die Präsenz der dort wichtigen Menschen (hier hauptsächlich bezogen auf Eltern, deren Geschwister und Großeltern). Während diese vor ihrem inneren Auge entstehen: Halten sie seelisch den Abstand, der Ihnen zu diesen Menschen nötig oder wichtig erscheint (seelisch näher dran oder auch weiter weg)! Soweit Ihnen möglich und zugänglich, gehen Sie dann auf die weiteren Fragen ein."

Das Angebot an den Leser:

Vorbemerkung: In einer mobilitätsorientierten und dislozierten Welt zerfallen traditionelle Familienverbände in zunehmender Weise. Sinnorientierende und identitätsstiftende gemeinsame Erzählungen sucht man häufig vergebens. Die Brüche, die sich aus unterschiedlichen bis gegensätzlichen Grundorientierungen und Selbstbildern über die letzten drei bis vier Generationen ergeben haben, blockieren häufig jenen Kraftstrom, der so enorm hilfreich wirken kann bei der Ausbildung einer eigenen enttäuschungsfesten und Zuversicht ausstrahlenden Identität. Sorgen die Spannungen im intergenerativen Entwicklungsraum für ideologisch begründete Unvereinbarkeiten und führen die systembedingten - teils erzwungenen - Neuorientierungen auch zu Brüchen innerhalb der Familie, bleibt für gemeinsame sinnstiftende Erzählungen kein Raum. Mich persönlich haben zwar die Bekenntnisse eines Wolfgang Klafki durchaus überzeugt. In ihrer Klarheit und in ihrer Konsequenz bilden sie gleichwohl eher eine Ausnahme im restaurativen Klima der frühen Bundesrepublik. Mehrfach habe ich betont, dass ich mich Bernhard Schlinks differenzierter Haltung verpflichtet fühle in der Beurteilung individueller Schuld - durchaus im Bewusstsein, damit auch zum Grenzgänger zu werden. Aber wen sollte das wundern, wenn der eigene Vater - geboren am 11.12.1922 (ein später 22er) mit 18 zum RAD einrücken muss und dann als Angehöriger einer Infanteriedivision den gesamten Rückzug aus Italien zwar überlebt, gleichwohl kriegsversehrt 1946 in seine Heimatstadt zurückkehrt und - Zeit seines Lebens an Körper und Seele gezeichnet - bereits 1988 im Alter von eben erst 65 Jahren verstirbt. Ich weigere mich einerseits zu leugnen, dass mein Vater als Frontsoldat sicher auch in der Überzeugung seinen Dienst versehen hat, auf der richtigen Seite zu kämpfen und dabei fern der Einsicht einem Unrechts- und Terrorregime zu dienen. Andererseits bin ich genauso überzeugt davon, dass mein Vater diese Einsicht im Laufe der fünziger und sechziger Jahre sehr deutlich gewonnen hat, so dass er dies mir gegenüber auch äußern konnte. Spätere Intellektuelle und Wortführer der Republik, ob sie nun Wolfgang Klafki, Günter Grass, Martin Walser, Hans-Werner Henze, Niklas Luhmann , Dieter Hildebrandt, Siegfried Lenz, Hans-Dietirch Genscher, Horst Ehmke, Helmut Schmidt, Tankred Dorst, Erich Loest, Peter Boenisch, Erhard Eppler, Theo Sommer geheißen haben mögen (vgl. Malte Herwig: Die Flakhelfer - Wie aus Hitlers jüngsten Parteimitgliedern Deutschlands führende Demokraten wurden, München 2013), hatten Gelegenheit, sich ihren persönlichen Gesinnungswandel und ihr Plädoyer für einen demokratischen Rechtsstaat über Jahre zu erarbeiten.

Gegen unerträgliche Geschichtsklitterer à la Gauland und Höcke - um nur einmal zwei prominente Namen zu nennen - habe ich vor allem Zeitzeugen wie Heinrich Gerlach ins Feld geführt. Wenn ich nun im Folgenden tatsächlich Angelika Glöckner und ihrem Angebot folge, so in der Gewissheit, dass wir uns alle keinen Gefallen tun, wenn wir zwar einerseits die großen Linien der Geschichte unter dem Signum des Nie wieder sehen wollen, andererseits aber vor individuellen Schicksalen die Augen verschließen. Eine gründliche und nachhaltige Wende lässt sich nur begründen in der radikalen Auseinandersetzung mit der Verführbarkeit unserer Väter und Großväter (es gibt unterdessen eine Generation, die auch die Urgroßväter in den Blick nimmt - siehe weiter oben Anne-Ev Ustorf).

Angelika Glöckner beginnt mit der Frage, ob es nach unserer Meinung in unserer Ursprungsfamilie Neigungen gibt, wichtige Ereignisse unter Verschluss zu halten und mit einem Tabu zu versehen?