Drucken

(M)Ein Adventskalender (22) heute öffnen wir das zweiundzwanzigste Türchen/Fensterchen

Kapitel fünf seiner Publikation Eltern - Kleine Philosophie einer riskanten Lebensform (Beck'sche Reihe, München 2002) überschreibt Dieter Thomä mit Was das Glück der Eltern ist. Er eröffnet mit dem Zwiegespräch Papagenos und Papagenas aus Mozarts Zauberflöte (aktiviert den Link und hört Euch Papagena und Papageno an!):

Papageno: Pa-Pa-Pa-Pa-Pa-Pa-Papagena!
Papagena: Pa-Pa-Pa-Pa-Pa-Pa-Papageno!
Papageno: Bist du mir nun ganz gegeben?
Papagena: Nun bin ich dir ganz gegeben!
Papageno: Nun, so sei mein liebes Weibchen!
Papagena: Nun, so sei mein Herzenstäubchen!
Beide: Welche Freude wird das sein, wenn die Götter uns bedenken, unsrer Liebe Kinder schenken, so liebe kleine Kinderlein!
Papageno: Erst einen kleinen Papageno!
Papagena: Dann eine kleine Papagena!
Papageno: Dann wieder einen Papageno!
Papagena: Dann wieder eine Papagena!
Beide: Papagena! Papageno! Papagena! Es ist das höchste der Gefühle, wenn viele, viele, viele, viele
Pa-Pa-Pa-Pa-geno - Pa-Pa-Pa-Pa-gena - der Eltern Segen werden sein.

Dieter Thomä fragt: "Wenn auf die Vorfreude der Kindersegen folgt - was lässt sich von diesem Glück, diesem 'höchsten der Gefühle' dann sagen?" Bevor wir uns einigen seiner Thesen und Annahmen zuwenden, möchte ich Rufus Beck zitieren und ihm umfassend beipflichten. Er sagt in: Kinder lieben - Märchen... und entdecken die Welt (München 2007) auf Seite 114:

"Es gibt eine ganz schreckliche Wahrheit. WEr keine Kinder hat, kann eigentlich nicht mitreden [...] In Deutschland gibt es immer weniger Menschen, die überhaupt Kinder haben und sich vorstellen können, was es bedeutet, für eine Familie Verantwortung zu tragen."

Ich persönlich würde das Adjektiv schrecklich eher durch Adjektive wie simpel, nüchtern, trivial ersetzen. Rufus Becks nüchterne Feststellung markiert ein Schisma, das nicht verhandelbar ist - es handelt sich um die Unterscheidung, die eine radikale Unterscheidung macht! Auch Dieter Thomä haut in die gleiche Kerbe, wenn er gleich zu Beginn Hegels "berühmten Satz" zitiert, wonach "Perioden des Glücks" die "leere(n) Blätter" im Buch der Weltgeschichte seien. Zwar relativiert er diese Hammerthese durch den Hinweis, dass dies wohlgemerkt nicht bedeute, in der Geschichte gäbe es kein Glück.

"Nur: wenn es da ist, schreibt keiner mit. Bloß die Zeit - so könnte man phantasieren - blättert dann stillschweigend (und vielleicht still vergnügt) die Seiten um, die mangels Schreibkraft leer bleiben."

Glück - so interpretiert Dieter Thomä Hegel - werde nicht zugleich erfahren und erzählt: "Um beschworen zu werden, darf es noch nicht angefangen haben - und um berichtet werden zu können, muss es aufgehört haben." Hier irren Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Dieter Thomä gleichermaßen. Eine Schreibkraft von gleichzeitiger profunder Erfahrung wie distanzierter Beobachterhaltung drängt sich gewissermaßen auf - nicht in jedem Fall, eher selten und eher verhalten, aber dann um so eindringlicher: Großeltern haben Kinder erzogen und erleben das unfassbare Glück sich zwanzig, dreißig und mehr Jahre später nicht nur in ihren Kindern, sondern auch in ihren Enkelkindern zu begegnen. Das neunte Türchen ist nur ein kleiner, bescheidener Beleg für die Widerlegung Hegels und Thomäs.

Freilich kann ich Dieter Thomä bestätigen in der Annahme, dass auch das Reden über das Glück schon verwoben sein kann mit Glücklosigkeit, vielleicht sogar mit Unglück. Er hat recht, wenn er sagt, in gewissem Sinne bedürfe das Glück geradezu der Durchbrochenheit:

"Um als solches auffallen zu können, um kenntlich zu sein, muss man aus der reinen Unmittelbarkeit herausgeraten; um sich glücklich schätzen zu können, muss man einen Schritt neben sich treten. Zu dem Sprachspiel, das dem Glück vorbehalten ist, gehört Distanz (S. 151)."

Neben sich stehen mussten 2016 meine Nichte und ihr Mann, als sie wochenlang um ihr Frühchen bangten - heute ein waches, aufmerksames lebendiges Kind, das uns ein ums andere Mal beeindruckt und begeister. Bange Tage hatten auch meine jüngste Tochter und ihr Mann (und selbstredend die Großeltern) als 2019 Komplikationen einen Aufenthalt mit unserem Leo in der Kinderklinik alternativlos machten. Und nachher fahre ich in die Apotheke, um ein Antibiotikum abzuholen, dass unserem Leo verabreicht werden muss, weil sich die Operationswunde nach seiner Not-OP - Leo hatte sich am 9.12. ein Bein gebrochen - leicht entzündet hat. Die Liebe, für die es keine Worte gibt, hat immer eine andere Seite - die stille Sorge um Wohlergehen und Gesundheit der Kinder und Enkelkinder.

Ich nehme mir morgen - wenn das Fensterchen geöffnet wird - ein wenig mehr Zeit, um Distanz zu gewinnen und Hegel sowie Thomä eines Besseren zu belehren. Jetzt muss und darf ich mich wieder in die Unmittelbarkeit entlassen.