Drucken

(M)Ein Adventskalender - heute öffnen wir das dritte Türchen/Fensterchen (3)

Auch ohne eine digitale Dimension von Vernetzung im Auge zu haben, kann man den Begriff der Vernetzung ganz und gar traditionell auslegen. Gestern war unter anderem die Rede vom Verfall und der völligen Zerrüttung von Familien - der Kernform traditionaler Gemeinschaften. Zugrunde liegende Prozesse könne man vermutlich nur in den Blick nehmen (und auch heilen), wenn man den systemischen Nexus familiärer Dynamiken in den Blick nehme. Gestern ging es am Beispiel Svenja Flaßpöhlers um die Ausdifferenzierung sozialer Netzwerke, die man - bezogen auf die Familie - mit der Idee verbinden kann, dass gesund ist, wer sich frei in seiner Familie bewegen kann (ich glaube Gregory Batson). Auch Svenja Flaßpöhler - mit ihrem Tochter-Mutter-Trauma - legt für diese Annahme ein beredtes Zeugnis ab.

2021 hat Urs Stäheli eine 550 Seiten umfassende Studie vorgelegt mit dem Titel: Soziologie der Entnetzung (Suhrkamp - Berlin, 2021). Daraus möchte ich heute ein Schmankerl zum Besten geben. Ich bin mir durchaus bewusst, dass ich mit den folgenden Ausführungen extrem vermintes soziales Gelände betrete:

Unter Hauptkapitel III beschreibt Stäheli Figuren der Entnetzung. In den neunziger Jahren begleitete mich Diana Kings Shy Guy. Lange vergessen, kommt er mir im Zuge der Lektüre Urs Stähelis wieder zu Bewusstsein. In Kapitel 1 seines Hauptkapitels III (Seite 246-265)  setzt er sich mit Schüchternheit auseinander. Schüchternheit - so führt er aus - gelte nicht mehr nur als individuelles Defizit, Versagen oder Leiden, sondern als Problem einer zunehmend demokratisierten und urbanisierten Gesellschaft. Im Zuge dieser Entwicklung zerbrechen traditionelle Gemeinschaften und würden neuen Formen des Zusammenlebens weichen. Der Schüchterne selbst werde als Provokation für diese modernen Formen des freien und geselligen Zusammenlebens gesehen, während anders herum diese neuen Gemeinschaftsformen - Gemeinschaften unter Fremden - dem Schüchternen zur Qual würden.

So weit - so gut!? Von Interesse - jedenfalls für mich - ist die nun folgende Differenzierung, mit der Stäheli zwischen dem Schüchternen einerseits unterscheidet, der von sozialer Angst getrieben sei. Ihm gegenüber platziert Stäheli den willensstarken Introvertierten, der aus eigenem Willen auf soziale Geselligkeit verzichte. Im Kontext der Pandemie (Stäheli publiziert seine Studien 2021) färbt sich der Blick auf Schüchternheit nochmals anders ein:

"Im Zeichen der Corona-Pandemie werden die mit Schüchternheit einhergehenden Praktiken der sozialen Distanzierung sogar als neue Überlebenstechniken, ja als 'evolutionärer Vorteil' entdeckt: 'Ich wusste, dass meine Introversion einmal praktisch werden würde [...] Es war, als ob ich den >abgesagte-Projekte-Jackpot< gewonnen hätte'."

Führe ich mir das im Anschluss skizzierte Kompetenzprofil vor Augen (siehe weiter unten), kann ich dem durchaus attraktive Momente abgewinnen. Ich möchte sie allerdings relativiert wissen durch die Prämisse, dass all diese Zugewinne nur auf dem Hintergrund einer intakten sozialen Keimzelle - selbstredend die Familie - ihre Qualitäten offenbaren, und dass auch Freundschaften in ihren kostbarsten Ausprägungen (dies heißt eben in der Regel auch reduziert auf wenige wahre und wahrhaftige Kernbeziehungen) ein lebbares, erlebbares und belebtes Fundament bereitstellen:

"Die Neigung und Kompetenz des Schüchternen, in der Öffentlichkeit nicht mit Fremden zu kommunizieren, niemandem zu nahe zu kommen sowie sein den Aufenthalt in der Öffentlichkeit abkürzender Wunsch, möglichst schnell wieder alleine zu sein, machen ihn zur perfekten und paradigmatischen Figur sozialer Distanzierung. Getragen ist diese Distanzierungskompetenz von einer affektiven Haltung, welche den Nichtkontakt genießt und die Zeiten des social distancing zu erholsamen macht: 'Ich fühle mich wie in den Ferien'."

Stäheli bemerkt, dass den Extrovertierten zum ersten Mal nicht nur gesagt wird - sondern gar verordnet wird -, ihre Komfortzone nicht zu verlassen und zu Hause zu bleiben, um sodann festzustellen:

"Im Schüchternen findet eine übervernetzte Gesellschaft einen Hinweis darauf, dass sie verlernt hat, Momente der Inkommunikabilität - der Reduktion und des temporären Aussetzens von Kommunikation - auszuhalten oder gar deren Möglichkeiten zu erkennen."

Ich habe mir schon sehr früh den sekundären Krankheitsgewinn der Corona-Pandemie auf's Revers geheftet:

Gewiss fallen mir noch weitere Aspekte ein, um die ich dann diese Liste gerne ergänze. Zuletzt wird mit einer Bemerkung Urs Stähelis deutlich, dass die letzten beiden Jahre auch die Formen der virtuellen Aktivitäten - zumindest bei mir - noch einmal erheblich geschärft und reduziert haben. Zugegeben: es gibt diesen Blog! Aber dieser Blog führt unterdessen ein Eigenleben, dessen wahrer Nutznießer ich selber bin. Die hier mögliche Form der Vernetzung offenbart das Netzwerk der mir möglichen intellektuellen Reizaufnahme, -beherrschung und -setzung. Auch wenn ich mich zuweilen entschuldigen muss, täuscht das nicht darüber hinweg, dass Anzahl und Qualität der sozialen Kontakte auf ein gesundes Maß geschrumpft sind. So greife ich eine Erfahrung meiner ältesten Tochter und ihres Mannes in der Weise auf, dass ich sie nachvollziehen kann, und es als Aufgabe begreife hier eine neue Kultur der Selbstbescheidung zu begründen. Denn wir alle kennen sicherlich die hier abschließend von Urs Stäheli zum Besten gegebene Erfahrung, deren Urheberschaft bei Abby Ohlheiser liegt (MIT Technology Review, 2020 - Zugriff 18.04.2020):

"Introvertierte haben gerade einmal einen oder zwei Tage Einsamkeit gekriegt, bevor die Extrovertierten an ihren virtuellen Türen mit Zoom-Treffen und Google-Hangouts rüttelten." Urs Stäheli kommentiert: "In der Tat hat sich in kürzester Zeit eine überbordende Zoom-Kultur, inklusive Zoom-Happy-Hours herausgebildet, die das verlorene Vernetzungsgeschehen während der Krise ersetzen soll - aber häufig nicht nur bei den Schüchternen zu großer Erschöpfung führt."