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Großväter -Großeltern - Tastversuche II

Ich habe mir soeben den im April 2020 entstandenen Beitrag noch einmal durchgelesen, den ich offenbar bewusst mit Tastversuche I markiert hatte. Im Vordergrund steht die Frage, warum ich mich an von mir als bedeutsam erlebte und ganz sicher kindheitsprägende Phänomene herantraue, die man gemeinhin mit einem Tabu versieht? Was gewinnt in Familien sozusagen auf selbstverständliche und geradezu unvermeidbare Weise den Status eines Tabus? Der Link zum Wikipedia-Eintrag offeriert einen allgemeinen Zugang sowie kulturelle und länderspezifische Besonderheiten.

Am eindrücklichsten erscheint mir die Formel: Don’t ask, don’t tell die zwar in einem spezfischen Kontext bis vor Kurzem Geltungskraft hatte, die aber sehr grundlegend verdeutlicht, wie ein Tabu beispielsweise innerfamiliär offenkundig funktioniert und zu praktizieren ist. Herkunft, wie sie in Tastversuche I beschrieben wird, mag heute nicht mehr unbedingt mit einem Tabu belegt sein, zumal wenn man sie - wie ich in meinem Fall eingestehen muss - ästhetisiert. Dies führt ja dazu, dass alles Unmittelbare - selbst der nicht wirklich aushaltbare Gestank im Innersten einer alten, mechanisch betriebenen Kläranlage - ästhetisch gebrochen wird und sich damit Galaxien weit entfernt; es wirkt wie das Leuchten eines erloschenen Sterns. Das bedeutet nichts anderes, als dass die Quelle der uns erreichenden Lichtstrahlen schon lange versiegt ist - nichts von dem, was erinnert ist, ist noch wirklich.

So ganz und gar anders verhält es sich mit Tabus, die das don't ask - don't tell auf genealogische Zusammenhänge anwendet. Auch dafür ist die eigene Herkunftsfamilie ein Paradebeispiel. Wenn Herkunft für immer im Dunkel der Geschichte verborgen bleiben soll, dann verbieten sich wohlige Gefühle und Träume von Geborgenheit. Die Schneelandschaft, in die ich gegenwärtig schaue, symbolisiert diesen bitteren Kreislauf eindrucksvoll - mit dem markanten Unterschied, dass der Schnee, der gegenwärtig alles zudeckt, schon in wenigen Stunden verschwunden sein wird. Bleiben Fragen der eigenen Herkunft im ewigen Eis verborgen, gehört latente Unterkühlung zu den prägenden Eindrücken der Kindheit. Um hier einem Missverständnis vorzubeugen - die meisten, die meinen Blog verfolgen, wissen ja nun schon, worauf ich mich hier beziehe -, zwingt sich der Hinweis auf, dass ich selbst - genauso wie mein Bruder - das vollkommene Gegenteil erlebt habe - Geborgenheit, Zugehörigkeit, Bindungsqualitäten, die auf unverbrüchlicher liebevoller Zuwendung beruhten; hat man dies  e r l e b t, fließt es sozusagen ein in ein habituell erworbenes Grundgefühl von Urvertrauen, dann kann man es auch weitergeben; es entfaltet sich zu einem transgenerativen Fluidum, das mit Blick auf meine Kinder und Enkel wiederum eine ungemein prägende Wechselwirkung begünstigt. Dafür gibt es natürlich genügend Referenzen - in der Literatur und selbstredend in der  Fachliteratur:

„Jede verrinnende Sekunde gelebten und erlebten Lebens auf der Uhr ist eine kleine Erinnerung an den kommenden Augenblick des Todes.“ Diese Banalität vermerkt Finn Skarderud, ein Norweger, dessen Buch "Unruhe - eine Reise in das Selbst" ich gegenwärtig quer lese (Rogner und Bernhard bei Zweitausendeins im Jahre 2000 erschienen). Eigentlich schreibt er nur Plattitüden und Selbstverständlichkeiten auf, die ich in anderen Zusammenhängen schon gelesen und teils auch verinnerlicht habe:

Ein moderner Mensch zu sein bedeute, von Informationen und Beziehungen überflutet zu werden, weshalb man Gefahr laufe, den Kontakt zu sich selbst zu verlieren. Es bestehe ein grundlegender Gegensatz zwischen unserem Bedürfnis nach Freiheit und dem Bedürfnis nach Bindung.  Wenn ich mich an meine Jugend erinnere, dann natürlich auch daran, dass wir einem weiteren Satz Skarderuds Geltung verschafft haben: "Das 'Jugendliche' ist gleichbedeutend mit Vitalität und entschädigt uns für eine Einheitskultur." Wie weit haben wir uns alle entfernt von den Milieus unserer Herkunft, wie weit sind wir gedriftet - von vollkommen neuen, unverhofften bildungsfördernden und beruflichen Optionen bis hin zu verrückten bis irritierenden Perspektiven in kultureller Hinsicht und vor allem in Liebesdingen. Und wie sehr sind wir doch gleichermaßen an unsere Herkunft gebunden und wie sehr bleiben wir ihr verbunden, gar verhaftet, so wie ich es weiter oben angedeutet habe?

Skarderud ist Psychiater, sein Credo lautet:

"Wir brauchen das Gefühl, dass wir jemandem etwas bedeuten. Ich denke, dass viele meiner Handlungen von dem Wunsch gesteuert werden, dass jemand mich mag. Obwohl ziemlich erwachsen, hege ich immer noch die Hoffnung, dass mein Vater meine Leistungen zu schätzen weiß. Deshalb erscheint es mir lächerlich von einem autonomen Individuum zu sprechen, wenn ich weiß, wie abhängig ich von anderen bin. Ich brauche Liebe und Lob und einen Widerstand, dessen Triebfeder Fürsorge ist. Ich glaube nicht, dass es autonome Individuen gibt. Autisten bilden möglicherweise eine Ausnahme, aber wenn ich genauer darüber nachdenke, glaube ich auch das nicht. Der Mythos vom autonomen Individuum ist ein interessantes Phänomen."

Eine weitere Grundorientierung ergibt sich aus Rezeption Donald W. Winnicots (schottischer Kinderarzt und Psychoanalytiker). Er greift seine Schlüsselfrage auf, was das Leben eigentlich ausmache und kommt zu der vollkommen trivialen Schlussfolgerung, ein in sich gefestigtes Selbst sammele die Bestandteile der Erfahrung des Lebendigseins. Dies klingt schlicht, mag aber erklären, warum gerade alte Menschen sich so radikal unterscheiden in ihrem Habitus, der Art und Weise, wie sie gerade im Alter Facetten des Lebendigseins in sich bewahren (Wachheit, Neugier, Kritikvermögen, Humor, Selbstkritik, Lust auf Neues...).

Skarderud ist ein Kenner der skandinavischen Literatur und kommt an einer Stelle zu dem Befund, dass das Andocken, das Sich-Einlassen auf Andere (mit ihren Eigenarten) ein zunehmendes Problem darstelle. Insbesondere "bei norwegischen Autoren ... leben Männer einsam, und das Andocken will ihnen einfach nicht gelingen". Die Menschen spiegelten die prägenden Züge ihrer sozialen Umgebung:

"Soziale Faktoren sind auf sehr einfache und dennoch subtile Weise bildend. Sie bedienen sich des Rohmaterials aus der biologischen, psychologischen Matrix jedes einzelnen - gleichzusetzen mit dem neugeborenen Kind - und verwenden die folgenden Jahre darauf, zu formen und zu ordnen, was anschließend individuelle Strukturen von Erfahrung und Bewusstsein werden. Solchermaßen sozialisierte Strukturen tragen Namen wie 'Ich', 'Ego',  oder das heute geläufigere 'Selbst'. Ein modernes Selbst entwickelt sich im Schatten aller existierenden - und nicht existierenden - festen Verankerungen.“ Quod erat demonstrandum!

Driftet man nun als eine solche Fleisch und Geist gewordene Struktur, als manifeste Intelligenzverkörperung - wie auch immer - durch sein Leben, dann wird mit zunehmendem Alter eben auch deutlich, wie sehr wir Geheimnisse und Tabus in uns pflegen und bewahren. Man könnte fast sagen, man habe mehrheitlich damit zu tun, zu bergen und zu verbergen, was wir auch sind, was wir eigentlich (auch) sind in unseren abgeschatteten Anteilen. Menschheitsgeschichtlich schon früh haben moralisch daherkommende Leitplanken versucht unser Agieren in dieser Welt zu regulieren und im Zaum zu halten: Du sollts nicht begehren deines Nächsten Weib/Mann; Du sollst nicht begehren deines Nächsten Hab und Gut; Du sollst Vater und Mutter ehren; Du sollst nicht töten; Du sollst nicht lügen bzw. kein falsches Zeugnis ablegen usw. Der Dekalog begleitet uns mehr oder minder in allen Epochen und Kulturen. Dagegen zu verstoßen ist gleichermaßen selbstverständlich wie folgenreich. Töten manche Völker ganze Völker, so büßen ihre Kindes- und Kindeskinder.

"Wenn die überindividuellen, großen Erzählungen von Ganzheit und Sinn versagen, wird es zur persönlichen Aufgabe jedes einzelnen, seine psychologische Einheit zu bewahren [...] Der psychologische Mensch ist ein reflexives Wesen, um einen Begriff des Soziologen Anthony Giddens aufzugreifen. Das reflexive Rennen besteht darin, dass jeder von uns ständig Stellung dazu beziehen muss, wer wir sind, was wir tun, und wie wir handeln sollen. Ein Lebenslauf bestand schon immr aus Übergängen, an denen das Individuum von einer Identitätsstufe zur nächsten schreitet, Aber in der traditionellen Gesellschaft waren diese Übergänge durch Übergangsrituale gekennzeichnet. Unsere Kultur ist viel flüchtiger, und es fällt uns schwer, eine stabile soziale Identität zu bewahren. Deshalb müssen wir heute mehr und mehr unsere Biographien selber schreiben und unsere Verbindungen zwischen persönlichen und sozialen Veränderungen selbst schaffen."