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Das vorige Jetzt - Zwischen Traumata und Balance

"Das vorige Jetzt. Familienrekonstruktion in der Praxis" heißt ein von Ilke Crone 2018 veröffentlichtes Buch (Carl-Auer-Heidelberg). Der Rezensent in der aktuellen Familiendynamik (3/20) - Alexander Korittko - fragt zu Beginn: "Noch ein Buch über Familienrekonstruktion? Über eine der am häufigsten angewandten Methoden in systemischen Weiterbildungen, in der erkundet werden soll, inwiefern das Leben der Ahnen Einfluss auf das eigene Leben hat?" Korittko bekennt freimütig, dass er dieses Buch mit Begeisterung gelesen habe. Ich werde es mir beschaffen. Denn je älter ich werde, umso intensiver rückt die Frage in der Vordergrund, inwiefern das Leben der Ahnen Einfluss auf das eigene Leben hat? Nahezu alle Beiträge in meinem Blog setzen sich mehr denn je mit dieser Frage auseinander.
 
In Kapitel drei ihrer Monographie beschäftigt sich Ilke Crone mit kollektiven Traumata in der deutschen Geschichte. Gerade in diesem Kapitel veranschaulicht die Autorin, welchen Unterschied es wohl macht, welchem Geburtsjahrgang einzelne Familienangehörige zugehören:
 
Freimütig vermag ich einzuräumen, dass der 1964 geborene Ferdinand von Schirach als Enkel des Baldur von Schirach mir (Jahrgang 1952) mit seinem SPIEGEL-Beitrag aus dem Jahr 2011 einen präzisen Einblick vermittelt in eine Möglichkeit höchst plausibler habitueller Immunisierungsstrategien, indem er den Unterschied zwischen Schuld - schuldhafter Verstrickung - und Verantwortung thematisiert.
 
Beziehen wir uns noch einmal auf Ilke Crone, lässt sich mit Verweis auf solche Überlebensstrategien und mit Blick auf den Geburtsjahrgang (ich möchte hier einmal ganz grob zwischen Kriegskindern, Nachkriegskindern - zu denen ich gehöre - und KriegsenkelInnen, meinetwegen auch noch -urenkelInnen unterscheiden) noch nicht die Frage beantworten, welche Einflüsse zum Beispiel einer schwarzen, nationalsozialistisch beeinflussten - Pädagogik zuzuschreiben sind. Ilke Crone nennt Johanna Haarer, deren Einfluss bis weit in die Gründerjahre der Bundesrepublik reicht. Hier stellt sich grundsätzlich die Frage, welche Folgen es hat, wenn Kinder in erster Linie zu Gehorsam, Unempfindlichkeit gegenüber Schmerz und zu Bindungslosigkeit erzogen werden und welchen Einfluss es auf nachfolgende Generationen hat, wenn bindungsgestört erzogen wird.
 
Ein drastisches Beispiel bietet uns Ferdinand von Schirachs Onkel, Richard von Schirach, mit seiner Biografie: Der Schatten meines Vaters. Richard von Schirach, der jüngste Sohn Baldur von Schirachs, ist - wie meine Schwester - 1942 geboren, während Ferdinand von Schirach - 1964 geboren - zwei Jahre jünger ist als mein Neffe, der Sohn meiner Schwester. Ilke Crones systemische Herangehensweise verbürgt, dass es bei ihrer Praxis von Familienrekonstruktionen immer um eine differenzierte Betrachtung einer Familie geht. Hier gerät dann durchaus ein Entwicklungszeitraum von 100 Jahren in den Blick, der nicht aus einem Blitzlicht bestehen könne, sondern der Bezug nimmt auf einen dynamischen Prozess, der sowohl die belastenden Aspekte als auch die jeweils wirksamen innerfamiliären Ressourcen und Bewältigungsstrategien fokussiere.
 
Ein weiterer maßgeblicher Einfluss mit Blick auf das vorige Jetzt resultiert aus einer neuerlichen Lektüre von Peter Sloterdijks Zorn und Zeit; eine Monographie, die ich hier allerdings nur über einige eindrückliche Kommentierungen vorstellen möchte, die Peter Sloterdijk selbst in einem Gespräch mit Christoph Bopp vornimmt. Zu Beginn dieses Gesprächs vertritt Peter Sloterdijk die These, große Geschichte entstehe durch das Gedächtnis des Unrechts und den Prozess des Ressentiments:
 
"Wenn sich in den menschlichen Gedächtnissen Sedimente von unverarbeiteten und unvergoltenen Leidenserfahrungen bilden, so kommt ein geschichtemachender Mechanismus in Gang, eine Art 'Kausalität des Schicksals', wie die frühen Beobachter des Tragischen sie beschrieben haben: Die bewirkt, dass die Folgen einer bösen Tat zu einer späteren Zeit und an einem anderen Ort wieder auftauchen."
 
Sloterdijk spricht mit Christoph Bopp gewissermaßen von einem Wiedereintreten in die Geschichte und schlägt vor, dass man die historischen Kollektive, die man gemeinhin "Völker" oder neuerdings "Nationen" nenne, als  r e s s e n t i m e n t-verarbeitende Gruppen beschreiben solle, die sich durch die Erinnerung an gemeinsam erlittene Traumata selber unter Stress setzen:
 
"Wobei diese Traumata für die meisten etwas von weit her Ererbtes darstellen, etwas, das sie selbst gar nicht erlebt haben können. An eine Kränkung von vor 600 Jahren kann ich mich als Individuum ja nicht erinnern, aber irgendwie erwerbe ich ein Mit-Eigentum an diesem Trauma." (Sloterdijk nennt als ein Beispiel den "Mythos der herrischen Niederlage" der Serben auf dem Amselfeld 1389)
 
Auf Christoph Bopps Hinweis, dass hier häufig Identitäten ihre Wurzel hätten, die den Keim zur Gewalt gewissermaßen bereits in sich trügen, erlaubt sich Peter Sloterdijk einen bemerkenswerten Hinweis, den ich als Ausgangpunkt nehme für eine - mir persönlich - sehr am Herzen liegende Kategorisierung von Zornaffekten linker bzw. rechter Provinienz:
 
"Die Deutschen haben nach dem Zweiten Weltkrieg exemplarisch vorgemacht, dass es auch einen anderen Weg aus der Kränkung gibt. Sie haben ihr Trauma so stark bearbeitet, dass sie aus dem Wiederholungszwang vollständig ausgebrochen sind. Sie sind - im wahrsten Sinne des Wortes - ein anderes Volk geworden."
 
Zur nachfolgenden Kategorisierung ist eine begriffserklärende Vorbemerkung vonnöten, die im weitesten Sinne auch versucht den Kontext durchsichtig zu machen, der uns später wieder zu Ilke Crones Überlegungen zurückführen wird: Christoph Bopp erläutert dankenswerter Weise einen zentralen argumentativen salto mortale Sloterdijks, indem er darauf hinweist, dass er im Zusammenhang mit der Idee vom "Eigentum am Trauma" auch mit ökonomischen Metaphern arbeite:
 
"Es gibt da 'Banken des Zorns', bei denen man sein Erspartes anlegen kann. Der Zorn wird dadurch ein 'Kapital', das investiert werden kann. Und Investitionen tätigt man, damit sich das Kapital vermehrt. Aber wenn wir von 'Banken' sprechen, dann muss es auch Bankiers geben, die mit dem Ressentiment-Kapital wirtschaften. Wer wären dann diese 'historischen Subjekte'? Große Gestalten? Lenin oder Hitler?"
 
Sloterdijks Volte besteht nun darin, dass er davon ausgeht, dass die Funktion der Ressentimentbanken vor allem von den politischen Parteien wahrgenommen werde. So könne man auch die Unterschiede zwischen Parteien am besten erklären. Je mehr sie an den Rand des Spektrums rückten, desto begründeter sei der Verdacht, dass sie es auf die Sammlung der "schmutzigen Energien" anlegten. Das Interview, auf das ich hier Bezug nehme, stammt aus dem Jahr 2013. Ich habe selbst des öfteren in meinen Beiträgen aus einem zorngeschwelltem Habitus heraus Beispiele aus der Welt der Fäkalien bemüht. Die folgende Links-Rechts-Kategorisierung aus dem Jahr 2013 entfaltet erst gegenwärtig ihre Trennschärfe und ihren bitteren Beigeschmack:
 
"Der Unterschied zwischen den extremen Linken und den extremen Rechten besteht darin, dass die Linke die schmutzigen Energien aufgreift, um sie zu veredeln, während die Rechte sie mehr oder weniger ungefiltert ausdrückt. Der Befund des politischen Pathologen besagt, dass die Linke eher träumt und heuchelt, während die Rechte eher krakeelt und stinkt."
 
Peter Sloterdijk bleibt bei seinen metaphorischen Analogien und erläutert den Prozess der Akkumulation politischer Affekte mit Blick auf die "kleinen Leute":
 
"Nicht nur bei den Bankgeschäften darf man von Renditen und Dividenden sprechen. Auch die Guthaben an Zorn und Wut sollen sich verzinsen. Das ist dann der Fall, wenn die Einlagen der Kunden durch eine geeignete politische Praxis sich in gesteigerte Selbstachtung umrechnen. Habe ich mein Empörungsguthaben bei einer effektvoll wirtschaftenden Zornesbank, das heißt einer zielstrebig arbeitenden Partei, deponiert, nehme ich nicht nur abstrakt an einem Weltverbesserungsunternehmen teil, sondern ich werde Teil eines Projekts, das mich stolz macht und micht affektiv besserstellt: Mein Zorn verwandelt sich in gesteigerte Selbstachtung. Leider haben die Parteien der Linken vor dieser Aufgabe oft versagt. Dann heben die Klienten ihre Guthaben ab. Sie werden entweder unpolitisch oder tragen ihr Erspartes zu einer rechten Bank - die macht dann direkte Rachepolitik und wählt die unzensierten Formen der Zornexpression. Die rechten Bankdirektoren treten eher unzensiert als Radaubrüder, als Populisten, als Provokateure und Pöbler auf - und saugen damit Frustwähler und Radausympathisanten an..."
 
Nun sage noch einer, Sloterdijk besitze keine Seherqualitäten. Kann man das Wirken der AfD in ihrem rechten bis rechtsextremen Umfeld besser einordnen. Systemisch betrachtet bedienen sich die Rechten bis ins ultrarechte Lager an den Sparkonten der Enttäuschten, der Dummen und der kompletten Vollidioten, an denen die Mutationen des deutschen Volkes vollständig vorüber gegangen sind. Alexander Gauland, Björn Höcke, Kalbitz, Brandner - und wie die Brandstifter alle heißen mögen, bedienen sich am Ersparten der Dunkeldeutschen (eine Spezies, die sich zumindest teilweise in den Sümpfen neofaschistischen Gedankenguts eingerichtet hat).
 
Zweiter Teil demnächst