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Botho Strauß oder der Mut zur Zumutung - Paare, Passanten

Ein guter Freund hat mir einmal den Unterschied zwischen Mut und Tapferkeit nahegebracht. Danach enthält der Mut immer auch ein gewichtiges Körnchen der Ignoranz gegenüber den unausweichlichen Gefahren in Grenzsituationen, während die Tapferkeit sehenden Auges den Gefahren und Gefährdungen trotzt. Botho Strauß' Paare, Passanten liegt mir in der Lizenzausgabe für die Süddeutsche Zeitung aus dem Jahre 2004 vor. Dieser Lizenzausgabe wiederum liegt die Textfassung der 1981 im Carl Hanser Verlag erschienen Ausgabe zugrunde. Strauß war da etwa 37 Jahre alt - er lebt immer noch, hochdekoriert, eigensinnig und oft mißverstanden - oder zumindest als häufig Mißverstandener geltend. Mit knapp 37 war Strauß schon fertig - fertig mit der Welt der Paare und der Welt der Passanten. Was er seinerzeit - 1981 - publiziert hat, davon hatte ich auch schon eine Ahnung; und nicht nur eine Ahnung, sondern dem entsprach eines meiner frühen paardynamischen Traumata.

Was ist denn ein paardynamisches Trauma? In meiner Definition und Erinnerung enthält ein paardynamisches Trauma im Kern eine dilemmaartige Tragik, die sich nicht ohne weiteres wenden lässt in den leichteren Stoff einer Kommödie oder auch nur in die abgeschattete Leichtigkeit einer erinnerungsträchtigen Impression. Man kann vielleicht sagen, dass ein paardynamisches Trauma vom Ergebnis her einer Bootsfahrt auf einem reißenden Strom ähnelt, mit untauglichem Gerät und ohne rettende Engel. Sich in diesem Strom zu behaupten, heißt Handeln ohne Netz und doppelten Boden, Handeln ohne Grund schaffende Reflexion, Handeln - intuitiv und mit dem Rücken zur Wand. Überlebt man diese Fahrt und gerät zusehends in ruhigeres Fahrwasser, dann hat man im besten Fall die Chance, sich tapfer zu stellen; tapfer  und offenen Auges zu betrachten, was man angerichtet hat, welchen Strudeln und Untiefen man ausgesetzt war. Manchmal braucht's Jahre oder Jahrzehnte, um in ruhigeres Fahrwasser zu geraten. Dann stellt sich wiederum im besten Fall die Gelegenheit, diese Betrachtung in wechselseitiger Achtung und gegenseitigem Respekt vorzunehmen. Im folgenden drei Varianten aus Botho Strauß' Beobachtungen:

1. "Ich sah aus dem Auto in einer Passantenschar, die die Kreuzung überquerte, die geliebte N., mit der ich - einst! seinerzeit! damals! - gut drei Jahre lang die gemeinsamen Wege ging, sah sie über die Fahrbahn schreiten und auf irgendeine Kneipe zuhalten. Ihr Kopf, ihr braunes gescheiteltes Kraushaar. Und das ist diesselbe, die ich im Tal von Pefkos auf Rhodos, als wir von verschiedenen Enden des Weges über die Felshügel einander entgegengingen, so bang erwartet habe, in Sorge es könne sie jemand vom Wegrand her angefallen und belästigt haben, da sie nicht und nicht erschien am Horizont. Das ist dieselbe Geliebte. Im halben Profil flüchtig erblickt, indem sie dahinging und ich vorbeifuhr. Mir ein unfaßliches Gesetz, das so Vertraute wieder in Fremde verwandelt. Verfluchte Passanten-Welt!" (58)

2. "Mit dem Schlag einer ungewissen Stunde blicken in ihrem Heim, nach vielen Jahren der Ermüdung, der Benommenheit und der Trennungsversuche, zwei Menschen sich mit sperrangelweiten Augen an. Ein Erkennen zieht sie zueinander, ein Verlangen, als könnte zuletzt nur noch die Aufwiegelung aller sexuellen Kräfte, wie eine Revolution, sie von der Last der gemeinsamen Geschichte befreien uns diese beenden. Ein Schlussbegehren läuft aus allen Gassen ein, die sie mit gleichen Schritten je hinuntergingen. Ein Begehren, das sie selbst erfahren als das reine Aufbegehren. Sie umarmen sich mit Armen der Gewalt, in der ihr Vertrautsein, ihre Erinnerung, ihre ausweglos lange Begleitung - in der die ganze Materie der Gewohnheit sich verdichtet und wie ein verlöschender Stern ins Schwarze der Nacktheit stürzt." (8)

3. "Trotz und in mitten der entschiedenen Verstimmung, die nach einem Streit zwischen ihnen eingetreten ist und wodurch sie zwei Tage ihrer Reise unter dem Druck einer äußersten Wortkargheit verbrachten, erhebt die Frau, die eben noch appetitlos ihre Filetspitzen piekte, auf einmal den Kopf und summt laut und verliebt einen alten Schlager mit, der aus dem Barlautsprecher ertönt. Der Mann sieht sie an, als sei sie von allen guten Geistern, nun auch der Logik des Gemüts verlassen worden. Jede Liebe bildet in ihrem Rücken Utopie. In grauer Vorzeit, vom Glück und von Liedern verwöhnt, liegt auch der Ursprung dieser kärglichen Partnerschaft. Und der Beginn erhält sich als tiefgefrorener, erstarrter Augenblick im Herzen der Frau. Es ist immer noch illud tempus in ihr, wo im Laufe der Jahre alles schrecklich verfiel und sich verändert hat. Erste Zeit, tief gekühlt, eingefroren, nicht sehr nahrhafte Wegzehrung." (9)

Die erste Geschichte ist vielen vertraut, die nicht in der ersten Liebe die letzte gefunden haben, sondern die suchend erst ihrer anderen Hälfte gewärtig wurden, nicht frei von Zweifeln. Damit nicht gemeint sind freilich auch die, die im dauerhaften Sog des Eros an der von Botho Strauß beschriebenen Kreuzung nicht unterscheidungsfähig gewesen wären. Aber auch bei Strauß gewinnt die geschilderte Impression nicht die Mächtigkeit eines erinnerten Wendepunktes, an dem etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen und der in diesem Sinne spurenmächtig wird - und vor allem bleibt. Die Bangigkeit, von der Botho Strauß spricht, bedeutet hier gerade so viel, dass man sich ihrer erinnert - immerhin. Und die Erinnerung hat sogar noch ein Gesicht - und braunes gescheiteltes Kraushaar. Warum bei alledem - bei dieser ausgeprägten Nonchalance - dann aber zum Schluss dieser Ausbruch? "Verfluchte Passanten-Welt!" Vielleicht weil doch noch etwas nachwirkt, worüber Strauß kein Wort, keine Silbe verliert. Nichts spricht dafür, dass Botho Strauß uns hier ein Trennungsdrama offerieren will. Gleichwohl - jeder ist ja, wie Marcel Proust meint, der Leser seiner selbst - taugt dieser unvermutete Ausbruch bei dem/der ein oder anderen zu einem Erinnerungs-Flash, in dem sich noch einmal all die unerträglichen, bitteren, dramatischen Ereignisse/Umstände einer Trennung verdichten, die man aus purem Überlebenswillen zuerst verdrängt bzw. leugnet, sodann rationalisiert, um im besten Fall doch noch irgendwann seinen Anteil einräumen zu können an einem unseligen Trennungsgeschehen.

Auch Erich Kästner hat für das, was sich nach einer naheliegenden, vielleicht unausweichlichen Trennung unter ungünstigsten Umständen ereignet, keine Worte gefunden; er bescheidet sich mit scheidungsträchtigen Aussichten, zum Beispiel in der Sachlichen Romanzepure Larmoryanz:

Als sie einander acht Jahre kannten
(und man darf sagen: sie kannten sich gut),
kam ihre Liebe plötzlich abhanden.
Wie anderen Leuten ein Stock oder Hut.

Sie waren traurig, betrugen sich heiter,
versuchten Küsse, als ob nichts sei,
und sahen sich an und wussten nicht weiter.
Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei.

Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken.
Er sagte, es wäre schon Viertel nach vier
und Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken.-
Nebenan übte ein Mensch Klavier.

Sie gingen ins kleinste Café an Ort
und rührten in ihren Tassen.
Am Abend saßen sie immer noch dort.
Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort
und konnten es einfach nicht fassen.

In der paartherapeutischen Literatur finden sich immer wieder Hinweise, wie man Trennungen erfolgreich und erträglich vollzieht. Gelingt dies nicht, beginnt im besten Fall die paartherapeutische - oder häufiger die individualtherapeutische Arbeit. Viele Menschen, trennungswillige - natürlich mehr noch trennungsgeschädigte - suchen therapeutischen Rat und Hilfe. Die Ziele sind jeweils Vereinbarungs- und Verhandlungssache und verbunden mit Fragen, die dieser Zielfindung dienlich sein sollen: "Was müsste am Ende dieser Beratung/Therapie geschehen sein, damit sie zufrieden sind, sich eine Lösung/Entwicklung in ihrem Sinne abzeichnet?" Oder: "Stellen Sie sich vor, heute Nacht geschieht ein Wunder. Was wäre dann morgen anders?" Mein eigenes Trennungs-Trauma ließ sich auf diese Weise nicht auflösen; eine Lösung ergab sich erst zwanzig Jahre nach dieser Trennung. Als ich meine damalige Lebensgefährtin acht Jahre kannte - und man darf sagen, ich kannte sie nicht gut - kam mir die Liebe (nicht) plötzlich abhanden. Betrug und Selbstbetrug markierten einen Wendepunkt, an dem ich meinen eigenen Weg finden und weitergehen wollte - finden musste. Ich bin diesen Weg vor mehr als vierzig Jahren mutig gegangen. Die Feigheit, die diesen Weg gleichemaßen ausmachte, fiel der Verdrängung und der Leugnung anheim. Sie durften erst zwanzig Jahre später Gestalt annehmen und sich aus dieser unseligen Paargeschichte verabschieden.

Kleine Auslassung aus aktuellem Anlass in Corona-Zeiten:

So saßen wir am gestrigen Abend zu viert beieinander und erzählten uns, wie wir die Zeit der verordneten sozialen Distanz, das covid19 geschuldete Regelwerk in unserem Alltag gestalten und aushalten. Während wir als Paar - soeben unseren 39sten Hochzeitstag noch erinnernd - betonten, in der Tatsache unsere Familie in einem Radius von 500 Metern wohnend zu wissen, den glücklichsten aller Umstände zu erblicken und damit jederzeitige Begegnung und Fürsorge zu erleben, schilderten unsere Gäste uns ein völlig anders Bild: die Familie(n) zerstreut, die Kinder irgendwo  in der Welt verteilt, selbst als spätes Paar im Rheinland lebend - das alles ein großes, chaotisches Patchwork, lange getrennt und geschieden vom Vater bzw. der Mutter der jeweils eigenen Kinder, herrsche Sprachlosigkeit, soziale Distanz schon lange (und schon lange vor corona) zum/zur jeweils geschiedenen Partner/in. Mir zuckte durchs Hirn, dass das Glück meiner alten Tage weniger mein Verdienst sei als biografisch auf ein langes Leben hin gewendet vielmehr in seinem - seinerzeit absehbaren Verlust - mein drohendes Menetekel markiert (hätte), wäre aus all meinen Verfehlungen irgendwann jener point of no return resultiert, von dem unsere Gäste so beredt, so enttäuscht, so ernüchtert und gekränkt erzählten; jene Wendepunkte, an denen Familie, an denen Vater-Sein und Mutter-Sein zerbricht bzw. sich wandelt zu einem so nie ersehnten oder erahnten Unterfangen: nämlich hin zu Allein-Erziehenden, zu Geächteten, die vor vorne beginnen müssen mit ungedeckten Checks, die in dem ein oder anderen Fall zum absoluten Kontaktabruch gegenüber den ehemals Geliebten, gegenüber dem Vater bzw. Mutter der eignen Kinder führen. Karl Otto Hondrichs Appelle verhall(t)en in solchen Fällen echolos im Familienchaos. So wird man nicht frei und spürt die Last, die aus der Ächtung des ehemaligen Partners, des Vaters, der Mutter resultiert und die man nahezu hilflos (er)trägt als Geächteter.

Botho Strauß' in der ersten Episode verdichteten Beobachtungen lassen freilich die begründete Vermutung zu, dass die auf drei Jahre bezifferte Verbindung kinderlos auseinanderging, so dass man sich mit Fug und Recht verlieren kann und sich nicht wiederfinden muss - gesegnete oder meinetwegen auch verfluchte Passanten, je nach dem wie man die unausweichliche Trennung erlebt hat und erst recht erinnert. Wird jemand krank - lebensbedrohlich krank im zeitlichen Kontext der Trennung, gerät das Trennungsgeschehen selbst unversehens in einen kausalen Nexus, der mit Schuldzuweisungen und ihrer Zurückweisung einhergeht. So läuft man davon und einmal um die Erde und wieder zurück, um auch nach Jahrzehnten zu begreifen, das Geschichte(n) nicht einfach zu Ende geht/gehen; dass sie sogar die Kraft und den Einfluss hat/haben, alles Neue unter Vorbehalt zu setzen und unbefangenes und unbedingtes Glück nicht zuzulassen. Man entdeckt auf diese Weise vielleicht die vier (oder mehr) Männer in sich, mit denen -  in denen - man gelebt hat:

Vier Männer (in mir)

Wachgeküsst mit siebzehn.
Knospen, Triebe blühn.
Den Himmel rosa sehn,
Wie Feuerfunken sprühn.

Riechen, fühlen, flehen.
Das Fremde, unerreichbar fern,
Tastend sich ergehen,
Bliebst ein fremder Stern.

Im Liebesschmerz
Versinkt die Welt.
Zum Himmel steigt mein Herz
Und fällt, und fällt, und fällt.

Die zweite Liebe: tief -
Umworben!
Herz im Herzen schlief,
Ganz unverdorben.

Nun sollt ich wachsen,
Sehn die Grenze -
Will noch spielen,
flachsen, Keine Kränze.

Und wieder fallen,
Schnitt und Wende.
Blind für Fallen
Und das Ende.

Ende heißt Beginn!
Das Neue kann beginnen?
Schulden und Gewinn!
Wenn zweie nur gewinnen?

So hoch wir fliegen,
Tapfer träumen.
Schulden wiegen,
Denn wir säumen.

Ordnungen der Liebe
Weisen uns den Weg.
Und wir werden Diebe,
Schmal und eng der Steg.

In der Lebensmitte
Darf ich wachsen.
Folgenreiche Dritte,
Sind wir nun erwachsen?

Bin gelassen,
Seh die Grenzen.
Sich und andre lassen
An Gräbern und vor Kränzen.

Die Lust zu leben?
Ja! Der Unterschied?
Nach jedem Beben
Sing ich nun mein Lied.

 

Augenscheinlich verstellt offenbaren sich im Abstand von Jahrzehnten die biografisch spurenmächtigen Paarringe, so dass eine Beschreibung - einmal ganz abgesehen von einer angemessenen Bewertung immer nur den subjektiven Blickwinkel vermittelt.

Ich habe mich 1978 als 26jähriger aus meiner ersten - immerhin sieben Jahre andauernden Beziehung, die ihre Wurzeln in einer Schülerlliebe hatte, auf wenig rühmliche Weise verabschiedet. Im Voranschreiten von einer zornigen, erbosten Zurückweisung eigenen Fehlens hin zur Anerkenntnis schuldhafter Verstrickung über die Jahrzehnte mag immerhin ein moralischer Fortschritt aufscheinen. Die Tatsache, dass sich die nach der Trennung einstellende, Gesundheit bedrohende und verletztende Diagnose bei der Frau, die ich zurückließ, nach vierzig Jahren auch ihre finale Bestätigung erfährt, erleichtert eine retrospektive Auseinandersetzung nicht. Allein die Versöhnung nach - und in diesem Falle - vor unterdessen zwanzig Jahren, hat diese Verstrickung dann endlich final aufgelöst. Sie eröffnet noch einmal die klare Perspektive, dass wir nicht nur sozial, sozusagen ausschließlich als Beziehungsmenschen existieren, sondern gleichermaßen monadisch als biologische und psychische Systeme mit all unseren Erblasten; gleichermaßen ausgestattet und in Erscheinung tretend als Intelligenzverkörperungen und blickdichte, abgeschattete Innenräume. Verstehen können wir uns letztlich nur annähernd als soziale Wesen einerseits, auf Kommunikation angewiesen und ihr ausgeliefert sowie als biologische Wesen, deren biochemisches Prozessieren gleichermaßen auf genetischer Ausstattung wie auf der Verarbeitung von Außenreizen basiert. Dies alles zu integrieren zu einer halbwegs plausiblen Ich-Erzählung, die Fremd- und Selbstperspektive in einer erträglichen Balance hält, stellt sich als lebenslange Herausforderung dar. All dies ist mir in der Auseinandersetzung mit dem Versuch Moritz von Uslars anlässlich seines 50. Geburtstages noch einmal umfassend bewusst geworden:

So fließen all diese Aspekte, gelebtes und erlebtes Leben in eine (Selbst-)Erzählung ein, mit der wir uns nach Außen wenden und mit der wir uns konfrontieren lassen. Manchmal kommen wir uns dann mit großem Abstand um so Vieles klüger vor, hätten das Eine gelassen und das Andere getan, wenn wir es nur früher schon gewusst hätten. Die oben zu Wort kommenden vier Männer in mir, wissen heute, dass es richtig war sich zu trennen und damals vor allem noch kinderlos neue Wege zu suchen; sie wissen, dass es wohl unumgänglich war aus jener Verstrickung neuerliche Trennungsabsichten zu hegen, um dann - gesegnet mit Kindern - erneut zueinanderzufinden; die damit aufgenommenen Hypotheken abzuzahlen und im Sinne Detlef Klöckners gemeinsam das fürsorgliche Finale zu suchen.

Darin und nur darin offenbart sich das unverdiente und unverhoffte Glück der späten Tage und Jahre.

Botho Strauß' weiter oben in (2) und (3) wiedergegebene Impressionen wenden sich dann dem Phänomen einer Ehe in der langen Weile zu. Hier überwiegt Ernüchterung. So weit wie Michael Haneke in Das weiße Band geht aber auch Botho Strauß nicht.

Ich meine hier - in diesem düsteren Film mit seiner unvergleichlichen bedrängenden Dichte des unfassbar trivialen Bösen - lediglich eine kleine, vielleicht 3 Minuten andauernde Szene, in der Rainer Bock (als Arzt) seine leibhaftige an ihrer Liebe und Verzweiflung zugrundegehende Triebabfuhr - Frau Wagner, die Hebamme (Susanne Lothar) - in aller Seelenruhe mit großer Abgeklärtheit vernichtet: als Frau, als Lebensgefährtin, als Sexualpartnerin! Wer vernichtende Kränkung und damit ausweglose Entfernung voneinander in ihrem Wesen begreifen will, der sollte Rainer Bocks und Susanne Lothars Spiel für einige Minuten aushalten, aber immer eingedenk des Risikos daran auch selbst Schaden zu nehmen. Danach weiß man zumindest, was Menschen einander, was Männer Frauen anzutun in der Lage sind.

Botho Strauß spricht die Veränderung sexueller Kultur in der langen Weile einer langen Ehe an; genauso wie den Verlust gegenseitiger Wertschätzung, die sich in der dritten Beobachtung noch einmal unvermittelt über die erinnerungsmächtige Kraft assoziativ ausgelöster Bilder-, Klang- und Gefühlswelten aus der Frühzeit einer Beziehung einstellt, um sogleich als solche auch entwertet zu werden. Sowohl die sexuellen Dimensionen als auch das allgmeine Abdriften in Gewohnheiten und Selbstverständlichkeiten in der langen Weile sind meinem lyrischen Ich nicht entgangen:

 

Paarlauf  

Schau, das Paar und seine Kreise
wie es sprüht und lebt
und auf synchrone Weise
über allen Niederungen schwebt.

Sieh nur ihre Augen strahlen
und ihr Lachen in der Sonne blitzen,
Ihre Körper fliegen, malen,
während ihre Spuren ritzen

feine Linien in das Eis.
Ihre Herzen jubilieren, springen,
ihre Seelen schimmern rein und weiß -
Engel hört man Halleluja singen.

Ach, so leben wir doch alle
für ein Jahr, auch mal für zwei -
tappen blindlings in die Falle
und aus Eigenart wird Einerlei.

 

Draw a distinction! (Heinz von Foerster)

Unterschiede,
die einen Unterschied machen
beleben das Leben.
Dies dacht ich grad eben.

Fast nüchtern und unaufgeregt
pfleg ich Arschloch und Zähne.
Die Kellnerin hat gut aufgelegt:
Und wie ich so wähne

regt sich ein wenig die Trauer.
Bescheiden – aber immer ein Abschied –
sitzt der Frosch auf der Mauer,
beginnt müde sein Lied.

Er weiß: Heute erhört ihn niemand!
Da bleibt er lieber gleich stille
und blickt in ein Land
voll Lust, doch mit nüchterner Brille.

Unterschiede,
die einen Unterschied machen,
beleben das Leben -
dies dacht ich grad eben,
Was will man da machen?

Es vollzieht sich das Leben
und manchmal die Ehe,
mal wohl und mal wehe.
Draw a distinction – na eben!

 

Nähert man sich zweifelnden oder resignierten alten Paaren, die aber durchhalten bzw. die durchgehalten haben - eine lange, lange Weile -, dann kann man häufig beobachten, dass die Augen noch einmal blitzen und Strahlkraft gewinnen, wenn wir gemeinsam auf unsere jeweiligen Gründungsmythen zu sprechen kommen. Dies alles mag allerdings nur unter der Maßgabe gelten und überzeugen, dass da nicht jemand den anderen ansieht, als sei er - wie Botho Strauß bemerkt - von allen guten Geistern, und nun auch noch der Logik des Gemüts verlassen worden.

Jede Liebe sollte sich die Utopie in ihrem Rücken noch einmal als glänzendes Versprechen vor Augen führen und die Frage beantworten, ob man noch unterwegs ist nach Ou Topos (Heiner Geißler), dem Ort den es geben müsste. Nur wer hier im besten Sinne des Wortes durchhält - den Ort, den es geben müsste, immer vor Augen - hat eine Ahnung davon, dass es sich lohnt.

All dies führt mich zu einer neuerlichen Auseinandersetzung mit jenem Phänomen, dass durch Paarbeziehung begründet und immer wieder erneuert wird, und in dem Paare - in den unterschiedlichen Phasen (schaut euch hier die Seiten 85-88 an) ihrer Leidenschaft (Detlef Klöckner unterscheidet derer fünf) - im besten Fall einen übergeordneten, in Generativität aufgehenden Sinn erfahren: Familie!

 

 

 

 

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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